BGE 120 Ib 411 | |||
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56. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. Oktober 1994 i.S. K. G. gegen Kanton Aargau (Direktprozess) | |
Regeste |
Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit. | |
Sachverhalt | |
A.- K. G. besuchte am Freitag den 21. August 1986 nach ihrer Arbeit ihren Ehemann A. G., welcher seit zwei Monaten Patient auf der offenen Station P 8-2 der Psychiatrischen Klinik Königsfelden war. A. G. stellte fest, dass es seiner Frau psychisch nicht gut ging. Er fragte deshalb den Abteilungsarzt Dr. B., ob er die Nacht mit ihr zuhause verbringen dürfe. Im Gespräch mit Frau G. fielen dem Arzt ihr "paranoider Blick" und ihre "Verfolgungsideen" auf; er entsprach deshalb dem Wunsch ihres Ehemannes. Da sich der Gesundheitszustand von Frau G. in der Nacht verschlechtert hatte, entschloss sich Herr G. am Morgen, seine Frau in die Klinik mitzunehmen und eine stationäre Aufnahme zu veranlassen. Das Ehepaar wurde von einer Krankenschwester ins Besuchszimmer gebeten und aufgefordert, auf den zuständigen Tagesarzt zu warten. Um ca. 07.45 Uhr erschien Dr. A. und führte das Ehepaar in sein Büro. Da Frau G. einen offensichtlich verstörten Eindruck machte und in Anwesenheit des Ehemannes kaum sprechen wollte, schickte Dr. A. den Ehemann ins Besuchszimmer.
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Im Gespräch mit Frau G. stellte Dr. A. fest, dass sie zeitlich und autopsychisch nicht voll orientiert war und unter Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn litt. In der Folge liess Dr. A. Frau G. allein in seinem Büro, um mit Dr. B. und dem Oberarzt zu telefonieren. Während dieser Gespräche begab sich Frau G. in den Korridor und stürzte sich aus dem offen stehenden Fenster auf das ca. 4 m tiefer liegende Vordach des Pavillons. Sie erlitt dabei u.a. schwere Hirnverletzungen und ist seither vollkommen arbeitsunfähig.
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B.- Am 11. März 1991 klagte K. G. gestützt auf Art. 42 Abs. 1 OG beim Bundesgericht gegen den Kanton Aargau. Sie beantragte, der Beklagte sei zur Bezahlung von Fr. 220'000.-- nebst Zins zu 5% seit 23. August 1986 zu verpflichten. Sie wirft Dr. A. eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, weil er sie trotz ihrer desolaten psychischen Verfassung allein im Büro zurückgelassen habe. Gemäss § 75 der aargauischen Kantonsverfassung hafte der Kanton für den Schaden, den Behörden oder Beamte in Ausübung der amtlichen Tätigkeit widerrechtlich verursachten. Der Kanton Aargau bestreitet in seiner Klageantwort jegliche Verantwortlichkeit, da die Suizidgefahr von K. G. nicht erkennbar gewesen sei.
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C.- Der vom Instruktionsrichter zum Experten ernannte Prof. F. beantwortete im Gutachten vom 30. Juni 1992 die ihm unterbreiteten Fragen. Prof. F. empfahl überdies, die beiden Ärzte Dr. A. und Dr. B. sowie Herrn G. mündlich anzuhören. Gestützt darauf erstattete der Gutachter am 10. Februar 1993 einen zusätzlichen Bericht.
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D.- An der Hauptverhandlung vom 25. Oktober 1994 erhöhte die Klägerin ihren Schadenersatzanspruch auf Fr. 226'190.-- nebst Zins. Der Beklagte beantragte, im Haftungsfalle sei dieser Betrag gestützt auf Art. 43 und 44 OR auf einen Drittel herabzusetzen. Im übrigen sind die Parteien bei ihren Rechtsauffassungen geblieben.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Die Besonderheit der ärztlichen Kunst liegt darin, dass der Arzt mit seinem Wissen und Können auf einen erwünschten Erfolg hinzuwirken hat, was aber nicht heisst, dass er diesen auch herbeiführen oder gar garantieren müsse; denn der Erfolg als solcher gehört nicht zu seiner Verpflichtung, gleichviel ob er als Beamter oder als Beauftragter des Patienten handelt. Die Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht lassen sich zudem nicht ein für allemal festlegen; sie richten sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum, den Mitteln und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung stehen, sowie nach dessen Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Allgemein lässt sich immerhin sagen, dass seine Haftung sich nicht auf grobe Verstösse gegen Regeln der ärztlichen Kunst beschränkt. Der Arzt hat Kranke stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutze ihres Lebens oder ihrer Gesundheit insbesondere die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt zu beachten, grundsätzlich folglich für jede Pflichtverletzung einzustehen (BGE 115 Ib 175 E. 2b S. 180, BGE 113 II 429 E. 3a S. 32/33 mit Hinweisen).
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Der Begriff der Pflichtverletzung darf jedoch nicht so verstanden werden, dass darunter jede Massnahme oder Unterlassung fällt, welche aus nachträglicher Betrachtungsweise den Schaden bewirkt oder vermieden hätte. Der Arzt hat für jene Gefahren und Risiken, die immanent mit jeder ärztlichen Handlung und auch mit der Krankheit an sich verbunden sind, im allgemeinen nicht einzustehen und übt eine gefahrengeneigte Tätigkeit aus, der auch haftpflichtrechtlich Rechnung zu tragen ist. Dem Arzt ist sowohl in der Diagnose wie in der Bestimmung therapeutischer oder anderer Massnahmen nach dem objektiven Wissensstand oftmals ein Entscheidungsspielraum gegeben, welcher eine Auswahl unter verschiedenen in Betracht fallenden Möglichkeiten zulässt. Sich für das eine oder das andere zu entscheiden, fällt in das pflichtgemässe Ermessen des Arztes, ohne dass er zur Verantwortung gezogen werden könnte, wenn er bei einer Beurteilung ex post nicht die objektiv beste Lösung gefunden hat. Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht. Dies entspricht denn seit langem bereits der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach der Arzt für eine unrichtige Beurteilung nur einzustehen hat, wenn diese unvertretbar ist oder auf objektiv ungenügender Untersuchung beruht, ihm aber objektive Fehlgriffe nicht als Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen sind, welche bei einem so vielgestaltigen und verschiedenartigen Auffassungen Raum bietenden Beruf in gewissem Umfang als unvermeidbar erscheinen (BGE 66 II 34, 64 II 200 E. 4a S. 205).
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Nach der Rechtsprechung ist ein Verhalten widerrechtlich, wenn es gegen Gebote oder Verbote der Rechtsordnung verstösst, die dem Schutz des verletzten Rechtsgutes dienen. Ein solches Gebot ist weder im aargauischen Spitalgesetz noch in den dazugehörigen Dekreten speziell festgehalten. Das ist jedoch nicht von Belang; denn wird ein Patient bei einer Heilbehandlung in seiner körperlichen Integrität getroffen, so ergibt sich die Widerrechtlichkeit schon aus dem Verbot, das den Art. 122 ff. StGB zugrunde liegt (BGE 115 Ib 175 E. 2b S. 181, BGE 112 II 118 E. 5e mit Hinweisen). Die objektiv gebotene Sorgfalt wird nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre bei der vertraglichen Haftung von der Vertragsverletzung, bei der ausservertraglichen, zu der auch die Staatshaftung zu zählen ist, dagegen von der Widerrechtlichkeit erfasst; sie gehört daher im einen wie im andern Fall zum Beweisthema des Geschädigten, welcher die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat (BGE 115 Ib 175 E. 2b S. 181).
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b) Das Bundesgericht hat in BGE 112 Ib 322 ff. eine Verantwortlichkeit des Kantons Basel-Landschaft bejaht, weil ein Patient, der in einer geschlossenen Abteilung untergebracht war und dessen akute Suizidgefahr bekannt war, wegen ungenügender Sicherheit der Liftanlage entweichen konnte. Diese strenge Haftung der Anstaltsträger für Patienten, die wegen ihrer Selbstgefährdung zu behandeln sind und welche die Klinik vor einer Selbstschädigung zu bewahren hat, gilt auch nach deutscher Lehre (LAUFS, in LAUFS/UHLENBRUCK, Handbuch des Arztrechts, S. 645 Rz. 11). Die deutschen Richter messen jedoch laut den publizierten Urteilen dem Vorhandensein akuter Selbstgefährdungsanzeichen und der Voraussehbarkeit einer Suizidhandlung bei der Beurteilung einer Arzthaftung entscheidendes Gewicht bei (vgl. KUNTZ, Arzthaftungsrecht, Sammlung von Entscheiden, 1c/A/II S. 19, S. 25, S. 69; OLG Düsseldorf, VERSR 1984, S. 193 ff.). Dabei muss vor allem die konkrete Suizidgefahr im Auge behalten werden. Einen Behandlungsfehler begeht dabei insbesondere, wer eine konkret erkennbare Suizidgefährdung oder die Gefahr des Entweichens nicht erkennt, sie fehlerhaft einschätzt oder sie schlicht nicht beachtet. Je grösser die konkrete, aktuelle Suizidgefahr ist, desto intensiver müssen die erforderlichen Vorsichtsmassnahmen sein (GROPP, Zur rechtlichen Verantwortlichkeit des Klinikpersonals bei Suizidhandlungen hospitalisierter Psychiatriepatienten, Medizinrecht 1994, Heft 4, S. 130 und S. 132).
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c) Werden diese allgemeinen Leitsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, so ist eine Haftung des Beklagten zu verneinen.
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aa) Die Prüfung, ob dem an Stelle des Beklagten handelnden Arzt eine Ermessensüberschreitung zur Last gelegt werden muss, beurteilt sich nicht nach dem Sachverhalt, wie er sich nachträglich dem Experten oder dem Richter darstellt; massgebend ist vielmehr, was der Arzt im Zeitpunkt, in dem er sich für eine Massnahme entschied oder eine solche unterliess, von der Sachlage halten musste (BGE 115 Ib 175 E. 3b S. 184/185).
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bb) Prof. F. führt in seinem Gutachten aus, die Patientin habe keine Suizidabsichten geäussert und keine Symptome gezeigt, die auf eine akute Suizidgefährdung hingewiesen hätten, so dass ein unvermuteter Suizidversuch nicht zu erwarten gewesen sei. Nach der Zeugenbefragung kommt der Gutachter in seinen Ergänzungsberichten zum Schluss, Dr. A. habe damals aufgrund seiner Beurteilung, die ausreichend sorgfältig gewesen sei, keine akute Suizidgefährdung gesehen. Aus der Einschätzung der Situation vor dem Suizidversuch habe er mit einem gewissen Mass an Berechtigung annehmen dürfen, dass die Patientin, die freiwillig in Begleitung ihres Mannes in die Klinik gekommen war, nicht weglaufen würde.
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Was die Klägerin dagegen einwendet, vermag an den gutachterlichen Feststellungen, eine konkrete Suizidgefahr sei nicht erkennbar gewesen - und nur dies ist ausschlaggebend -, nichts zu ändern. Der Umstand, dass der Gutachter anerkennt, die Situation sei unklar gewesen, weil der affektive Kontakt zur Patientin gestört gewesen sei und gleichzeitig eine Sprunghaftigkeit des Denkens sowie Angst, Ratlosigkeit und ein gewisses Mass an Verworrenheit bestanden habe, reicht für eine Haftpflicht nicht aus. Ebenfalls unbeachtlich ist, dass die Frage, ob der Sturz aus dem Fenster medizinisch als Suizidversuch zu qualifizieren sei, vom Gutachter aufgrund der vorhandenen Informationen nicht beantwortet werden konnte. Auch wenn die Kurzschlusshandlung der Klägerin durch eine plötzlich einschiessende Wahneingebung oder Angst oder durch andere psychotische Motive hervorgerufen worden sein könnte, mithin ein Suizidversuch nach Auffassung von Prof. F. aufgrund der Umstände kurzfristig nicht hätte ausgeschlossen werden können, so genügt auch dies für eine Haftung des Beklagten nicht. Von einem haftpflichtrechtlich massgebenden Diagnosefehler des Arztes könnte nur dann die Rede sein, wenn die Suizidgefahr anlässlich des Gesprächs konkret erkennbar gewesen wäre. Ist eine solche Gefahr bei einem bestimmten Krankheitsbild, insbesondere bei akuten Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, nicht auszuschliessen, so kann dieser Umstand allein - entgegen der Ansicht der Klägerin - noch keine Haftung auslösen. Ebensowenig genügt es für eine Haftung, dass es bei Würdigung der Gesamtsituation angezeigt gewesen wäre, die Patientin nicht allein zu lassen, denn diese Beurteilung stellt eine Ermessensentscheidung dar, welche nach Ansicht des Experten bei dem komplexen und ungewöhnlichen Ablauf der Ereignisse an diesem Morgen mit Unsicherheit und Ungewissheit behaftet bleiben müsste. Daraus erhellt, dass Dr. A. sein Ermessen, das sich primär nach fachärztlichen und nicht nach rechtlichen Kriterien beurteilt, nicht in unvertretbarer Weise gehandhabt hat.
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