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64. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofs vom 28. September 1994 i.S. S. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG; Entzug des Führerausweises; Unterschreitung der obligatorischen Mindestentzugsdauer? | |
Sachverhalt | |
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B.- Am 31. August 1989 entzog das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen S. wegen des gleichen Vorfalls in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG (SR 741.01) den Führerausweis für die Dauer von acht Monaten. Zwei Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen die Entscheide der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen hiess das Bundesgericht am 31. August 1990 beziehungsweise 3. August 1992 gut.
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C.- Am 11. Juni 1993 verfügte das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt einen sechsmonatigen Führerausweisentzug. Einen Rekurs von S. wies die Verwaltungsrekurskommission am 16. Dezember 1993 ab.
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S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und von einem Führerausweisentzug sei abzusehen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
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Aufgrund des Umstands, dass das massnahmeauslösende Ereignis relativ lange Zeit zurückliegt, erachtet die Vorinstanz die Herabsetzung der Entzugsdauer von acht auf sechs Monate durch die erste Instanz als angemessen. Eine solche Beurteilung hält vor Bundesrecht nicht stand. Fahrzeuglenker, die den Rechtsweg einschlagen, sollen zwar nicht denjenigen gegenüber bevorzugt werden, die den Massnahmeentscheid annehmen. Trifft einen Lenker jedoch ![]() | 6 |
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b) Im Gegensatz zum Sicherungsentzug, der unabhängig von einer Verkehrsregelverletzung bei körperlicher, geistiger, charakterlicher oder anderer Unfähigkeit des Fahrzeugführers erfolgen kann, setzt der Warnungsentzug gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG stets voraus, dass der Fahrzeugführer ein Verkehrsdelikt begangen hat, und bezweckt, ihn zu bessern und vor Rückfällen zu bewahren (Art. 30 Abs. 2 VZV; SR 741.51). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der ![]() | 8 |
Die bundesgerichtliche Auffassung, der Warnungsentzug sei eine Administrativmassnahme, wird in der Literatur überwiegend kritisiert (vgl. dazu die Übersicht bei JEAN GAUTHIER, Le retrait du permis de conduire est-il une mesure administrative ou une sanction pénale?, in: Verkehrsdelinquenz, Grüsch 1989, S. 259, insbesondere Fn. 6 und 7). PERRIN (a.a.O., S. 93 ff.) hält den Warnungsentzug zwar für eine administrative Massnahme, ordnet ihn aber der Rechtsfigur des repressiven Verwaltungsaktes zu. Für SCHULTZ (Rechtsprechung und Praxis im Strassenverkehr in den Jahren 1973-1977, Bern 1979, S. 89 f.) und PETER STAUFFER (a.a.O., S. 148) handelt es sich der Sache nach um eine Strafe. Ob dies zutrifft, kann vorliegend offenbleiben. Das Bundesgericht hat bei der Beurteilung von Führerausweisentzügen, namentlich bei der Frage der lex mitior (BGE 104 Ib 87 E. 2), bei Notstand (unveröffentlichter Entscheid des Kassationshofes vom 20. August 1981 i.S. Käppeli, zitiert bei PERRIN, a.a.O., S. 120) und beim Zusammenfallen mehrerer Entzugsgründe (BGE 108 Ib 258, 113 Ib 53), auf Regeln des StGB (Art. 2, 34 und 68) zurückgegriffen. Die Anordnung eines Führerausweisentzugs setzt wie die Aussprechung einer Strafe eine vorsätzliche oder fahrlässige Regelverletzung voraus, die Entzugsdauer ist wie bei der Strafzumessung grundsätzlich nach dem Verschulden festzusetzen und ein Rückfall kann bei beiden Sanktionen zu einer Strafschärfung führen. Dies zeigt, dass der Führerausweisentzug teilweise strafähnliche Züge aufweist (BGE 116 Ib 146 E. 2a). Deshalb ist es angezeigt zu prüfen, wie sich eine lange Zeit zwischen Tat und Sanktion beziehungsweise eine überlange Verfahrensdauer auf die Sanktionen des Strafrechts auswirkt.
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c) Das Strafgesetzbuch regelt in den Art. 70 ff. die Verjährung. Kommt es bis zum Eintritt der absoluten Verjährung nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung, ist das Verhängen einer Strafe oder Massnahme nicht mehr möglich (Art. 70 und 72 StGB). Eine Strafe darf nach Ablauf einer gewissen ![]() | 10 |
Der Zeitablauf seit der Tat wirkt sich somit unterschiedlich auf die strafrechtlichen Sanktionen aus. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen vor, sind Strafen entweder zu mildern oder sie können nicht mehr ausgesprochen oder vollstreckt werden. Der Strafmilderungsgrund von Art. 64 Abs. 5 StGB erweitert den Strafrahmen nach unten (Art. 65 StGB; BGE 116 IV 11). Bei den Massnahmen kann der Zeitablauf dazu führen, dass sie gar nicht mehr angeordnet oder begonnene aufgehoben werden. Art. 42 Ziff. 5 StGB erlaubt das Unterschreiten der gesetzlichen Mindestdauer der Massnahme. Dabei hat sich der Entscheid stets nach der Verhältnismässigkeit und insbesondere der Erforderlichkeit der Massnahme zu richten.
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Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache innert einer angemessenen Frist gehört wird. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung (BGE 117 IV 124 E. 4d) kann eine Verletzung dieses Beschleunigungsgebots im Strafverfahren zu folgenden Konsequenzen führen:
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- Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung,
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- Einstellung des Verfahrens zufolge eingetretener Verjährung,
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- Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf Strafe sowie
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- Verfahrenseinstellung (als ultima ratio in extremen Fällen).
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d) Das SVG bestimmt, dass der Führerausweis für mindestens sechs Monate zu entziehen ist, wenn der Fahrzeuglenker innert zwei Jahren seit dem letzten Entzug einen obligatorischen Entzugsgrund setzt (E. a). Liegt zwischen dem massnahmeauslösenden Ereignis und der Durchführung der Massnahme eine lange Zeitspanne, so kann diese Lösung zu unerträglichen und vom Gesetzgeber nicht gewollten Härten führen. Erhält beispielsweise die Entzugsbehörde von einer Verkehrsregelverletzung, die wie vorliegend eine Entzugsdauer von mindestens sechs Monaten nach sich zieht, erst nach zehn Jahren Kenntnis, müsste die Behörde aufgrund der gesetzlichen Regelung auch dann noch wenigstens einen sechsmonatigen Entzug anordnen. Abgesehen davon, dass der Betroffene nach einer grossen Zeitspanne die Verhängung der Massnahme nicht mehr versteht, könnte sie auch ihren Sinn und Zweck nicht mehr erfüllen. Denn eine Erziehung und Besserung des Täters setzt voraus, dass die Massnahme in einem angemessenen zeitlichen Zusammenhang zur Verkehrsregelverletzung steht (BGE 115 Ib 159).
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Im Strafverfahren wird dem Ablauf verhältnismässig langer Zeit durch Verjährung, Strafmilderung oder insoweit Rechnung getragen, als nicht mehr erforderliche Massnahmen aufzuheben beziehungsweise solche erst gar nicht anzuordnen sind (E. c). Diese Frage müsste auch beim Führerausweisentzug geregelt sein, weil die gesetzliche Regelung zu unerträglichen Härtefällen führen kann und dann dem Sinn und Zweck des Führerausweisentzugs entgegensteht. Da sich das SVG über die Folgen eines verhältnismässig langen Zeitablaufs für den Führerausweisentzug nicht äussert, liegt diesbezüglich eine (echte) Lücke vor (HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 3. Auflage, N. 115 ff.; HENRI DESCHENAUX, Schweizerisches Privatrecht, Band II, S. 95; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I: Allgemeiner Teil, 6. Auflage, S. 147 f. je mit Hinweisen).
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e) Wie alle hoheitlichen Massnahmen muss auch ein Führerausweisentzug dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit gerecht werden. Unter anderem muss die Anordnung des Entzugs noch erforderlich sein, um dessen Zweck, die ![]() | 20 |
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Der Beschwerdeführer setzte mit seinem Sattelschlepper in einer unübersichtlichen Kurve zum Überholen an und fuhr dazu bei hoher Geschwindigkeit vollständig auf die Gegenfahrbahn. Ein Zusammenstoss mit einem entgegenkommenden Personenwagen wurde nur vermieden, weil dieser eine Vollbremsung einleitete und auch der Beschwerdeführer abbremste und sein Fahrzeug links über die Strasse hinaus lenkte. Angesichts der Grösse und des Gewichts des Sattelaufliegers, der hohen Geschwindigkeit sowie der eingeschränkten Sicht, muss das Fahrmanöver des Beschwerdeführers als sehr gefährlich bezeichnet werden, weshalb mit der Vorinstanz auf ein schweres Verschulden zu schliessen ist. Ebenfalls zutreffend bezeichnet sie den automobilistischen Leumund des Beschwerdeführers als getrübt und hält sie fest, dass dieser als Berufschauffeur auf den Führerausweis angewiesen ist. Insoweit kann auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden (Art. 36a OG). Seit dem fraglichen Ereignis sind ohne Verschulden des Beschwerdeführers etwas mehr als sechs Jahre verstrichen, während der er sich wohl verhalten hat. Vom Gesichtspunkt der Erforderlichkeit her fragt ![]() | 22 |
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