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16. Urteil vom 13. März 1957 i.S. Sommer gegen Regierungsrat und Polizeidirektion des Kantons Aargau. | |
Regeste |
Handels- und Gewerbefreiheit, Gewaltentrennung. |
2. Gemäss Art. 39 lit. b aarg. KV kann der Regierungsrat Vollziehungs- und Notverordnungen, nicht aber selbständige Rechtsverordnungen erlassen. Verfassungswidrigkeit der aarg. Verordnung über die Vorführung von Filmen vom 11. Juli 1953. | |
Sachverhalt | |
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B.- Sommer führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Art. 4 und 31 BV sowie der Art. 3, 39 lit. b und 91 Abs. 4 der aargauischen Staats-Verfassung (KV). Er beantragt, die Verfügung der Polizeidirektion vom 26. Oktober 1956 sowie der Beschwerdeentscheid des Regierungsrats vom 23. November 1956 seien aufzuheben, und es sei (allenfalls lediglich durch entsprechenden Hinweis in den Erwägungen) festzustellen, dass das Besuchsalter für den in Frage stehenden Film gemäss Verfügung der Polizeidirektion vom 17. September 1956 12 Jahre betrage. Eventuell beantragt er, der Beschwerdeentscheid des Regierungsrats sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an diese Instanz zurückzuweisen.
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C.- Der Regierungsrat des Kantons Aargau schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. Die Vorführung von Filmen gehört zum Betrieb eines Lichtspieltheaters, der ein Gewerbe im Sinne des Art. 31 BV ist und daher unter dem Schutz der Handels- und Gewerbefreiheit steht (BGE 49 I 91 Erw. 1; BGE 50 I 173 Erw. 2; BGE 51 I 38 und dortige Zitate; BGE 53 I 268 Erw. 1; BGE 78 I 301 ff.). Nach Art. 31 Abs. 2 BV können die Kantone die Ausübung einer solchen Tätigkeit aus polizeilichen Gründen einschränken (BGE 80 I 143). Der Ausschluss Jugendlicher von den gewöhnlichen Filmvorstellungen ist dabei nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit, sondern auch als Ausfluss der Erziehungsgewalt des Staates statthaft, ![]() | 4 |
Derartige Beschränkungen in der freien Ausübung des Lichtspieltheatergewerbes dürfen indes, wie überhaupt die der Freiheit des Bürgers gesetzten Schranken (so Art. 56 BV für die Vereinsfreiheit, BGE 60 I 121 Erw. 3 für die Pressefreiheit, BGE 75 I 220 Erw. 6 für die persönliche Freiheit, BGE 76 I 334, BGE 77 I 218 Erw. 2 für die Gewährleistung des Eigentums), nur durch den Gesetzgeber oder durch die verordnungsberechtigte Behörde auf Grund gesetzlicher Ermächtigung angeordnet werden; die Verwaltung darf somit im konkreten Einzelfall, von der in Erw. 3 zu behandelnden Ausnahme abgesehen, nicht ohne materielle gesetzliche Grundlage in die Freiheitsrechte eingreifen (vgl. BGE 67 I 76, BGE 80 I 353 Erw. 2; BGE 81 I 132; FLEINER, Institutionen, § 9 Ziff. I; FLEINER/GIACOMETTI, Bundesstaatsrecht, S. 247, 409, 427; GIACOMETTI, Staatsrecht der Kantone, S. 175).
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Der Beschwerdeführer bestreitet, dass die Filmverordnung die gesetzliche Grundlage für Eingriffe in die Handels- und Gewerbefreiheit abgeben könne, da sie selbst verfassungswidrig sei. Diese Rüge ist zulässig. Mangels Anfechtung der Verordnung innert der Beschwerdefrist des Art. 89 OG steht eine Aufhebung des Erlasses als solchen zwar nicht mehr in Frage. Das hindert das Bundesgericht aber nicht, in jedem einzelnen Anwendungsfall vorfrageweise zu prüfen, ob die angewendete Bestimmung die Verfassung ![]() | 7 |
Der Regierungsrat hat sich im Ingress der genannten Verordnung und in der Vernehmlassung auf Art. 39 lit. b KV berufen, der ihm folgende "Pflichten und Befugnisse" überträgt:
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"Er sorgt für die Handhabung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Kanton, für die Kultur- und Volkswirtschaftspflege, sowie für die Vollziehung der Gesetze, Dekrete und Beschlüsse des Grossen Rates."
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Zu prüfen ist, ob der Regierungsrat auf Grund dieses Verfassungssatzes zum Erlass der Bestimmung zuständig war, auf die sich die angefochtenen Entscheidungen stützen.
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a) Wie das Bundesgericht wiederholt festgestellt hat, kann der aargauische Regierungsrat in seiner Eigenschaft als oberste Vollziehungs- und Verwaltungsbehörde (Art. 37 KV) zu der ihm gemäss Art. 39 lit. b KV obliegenden "Vollziehung der Gesetze, Dekrete und Beschlüsse des Grossen Rates" Vollziehungsverordnungen erlassen (Urteile vom 23. Januar 1917 i.S. Benz, vom 26. Januar 1924 i.S. Horber, abgedruckt in der Vierteljahresschrift für aargauische Rechtsprechung, VJS, 1925 S. 92 ff., und vom 13. Dezember 1950 i.S. Meier, VJS 1950 S. 388 ff.; vgl. auch BGE 45 I 316 ff.). Eine solche liegt hier indes nicht vor. Der Kanton Aargau kennt weder in der Verfassung, noch in einem Gesetz oder in Dekreten und Beschlüssen des Grossen Rates Bestimmungen über die Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit sowie den Jugendschutz im Lichtspieltheaterwesen, die der Regierungsrat zu vollziehen gehabt hätte.
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b) Der Regierungsrat macht dies denn auch nicht geltend. Er geht vielmehr davon aus, Art. 39 lit. b KV räume ihm eine selbständige Rechtsverordnungskompetenz ein. Ob die aargauische Verfassung der Exekutive eine allgemeine, den Erlass polizeilicher Normen auch dauernden Inhalts umfassende Verordnungsgewalt verleihe, konnte das Bundesgericht ![]() | 12 |
Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, besteht kein Anlass. Art. 3 Abs. 1 der aargauischen Verfassung bestimmt, die gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt seien als solche (d.h. institutionell) getrennt. Die gesetzgebende Gewalt steht dem Volk (Art. 25 f. KV) und dem Grossen Rat (Art. 27 ff. KV) zu. Würde der Regierungsrat selbständig Recht setzen, so käme das einer teilweisen Vereinigung der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt gleich, die einer dem Gewaltentrennungsartikel vorgehenden Sonderbestimmung bedürfte. Eine solche findet sich in der Verfassung nicht. Art. 39 lit. b KV kann auch auf dem Weg der Auslegung diese Bedeutung nicht abgewonnen werden. Zwischen den Befugnissen, die dem Regierungsrat zur "Handhabung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" einerseits und zur "Kultur- und Volkswirtschaftspflege" anderseits zustehen, unterscheidet diese Bestimmung nicht. Was der Exekutive auf dem einen Gebiet zukommt, kann ihr daher auf dem andern nicht versagt werden. Dem Regierungsrat die Kompetenz zum ![]() | 13 |
Dem aargauischen Regierungsrat steht somit keine selbständige Rechtsverordnungskompetenz zu, die ihn zum Erlass der Filmverordnung befähigt hätte. Dass er seit Inkrafttreten der Staats-Verfassung von 1885 eine solche Befugnis für sich in Anspruch genommen haben will und in der Tat eine Anzahl selbständiger Polizeiverordnungen (wenn auch meist nur von geringer Tragweite) erlassen hat (Beispiele bei SIEGRIST, a.a.O., S. 67 ff.), vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. In der Auslegung kantonaler Verfassungsbestimmungen ist das Bundesgericht grundsätzlich frei (BGE 25 I 470; BGE 49 I 105, 540; BGE 50 I 291; BGE 51 I 224; BGE 52 I 20; BGE 54 I 154; BGE 73 I 118; FAVRE, JT 1948 S. 324). Wohl weicht es dabei nicht ohne Not von der Auffassung der obersten zur Auslegung der Verfassung berufenen kantonalen Behörde ab (BGE 73 I 118, BGE 74 I 176, BGE 77 I 116 und dortige Zitate). Eine solche Stellungnahme liegt hier indes nicht vor. Als im erwähnten Sinne oberstes kantonales Organ ist in der Regel das Volk und der Grosse Rat zu betrachten. Dass der Grosse Rat die Verordnung betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Kinematographentheatern ![]() | 14 |
c) In den Kantonen, deren Verfassung nicht ausdrücklich ein Notrecht vorsieht, spricht die staatsrechtliche Praxis der Kantonsregierung gestützt auf deren Polizeigewalt ein Notverordnungsrecht zu (BGE 57 I 274; BGE 60 I 122; BGE 61 I 39; BGE 67 I 76). Die Verfassung des Kantons Aargau umschreibt die Polizeigewalt des Regierungsrats in Art. 39 lit. b KV ("er sorgt für die Handhabung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit"). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung steht denn auch dem aargauischen Regierungsrat auf Grund dieser allgemeinen Polizeiklausel und des Art. 37 KV ein Notverordnungsrecht zu (BGE 57 I 274 /5; GIACOMETTI, Staatsrecht der Kantone, S. 521/2; SIEGRIST, a.a.O., S. 67). Notverordnungen dürfen jedoch nur erlassen werden, wenn es sich darum handelt, eine infolge bestimmter Ereignisse unmittelbar drohende Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit oder Sittlichkeit zu verhindern, der gegenüber der Erlass gesetzlicher Normen wegen der Langsamkeit der ordentlichen Gesetzgebung als Abwehrmittel versagen müsste (BGE 57 I 274 /5, BGE 60 I 112, BGE 67 I 76).
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Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben. Allein schon der Umstand, dass die Filmverordnung an Stelle einer Verordnung trat, die 40 Jahre lang in Kraft gestanden hatte, zeigt, dass sich die Behörden bei deren Erlass nicht überraschend vor eine unmittelbar drohende Gefahr gestellt sahen, die sie auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung nicht rechtzeitig hätten abwenden können.
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3. § 12 der Verordnung über die Vorführung von Filmen vom 11. Juli 1953 erweist sich damit als verfassungswidrig. Den angefochtenen Entscheidungen, die sich ![]() | 17 |
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Sache des kantonalen Gesetzgebers wird es sein, durch Schaffung einer eigentlichen Filmgesetzgebung oder (sofern dies das aargauische Staatsrecht zulässt) durch Delegation der entsprechenden Kompetenzen an den Regierungsrat die Aufsicht des Staates über das Lichtspieltheaterwesen zum Zwecke des Jugendschutzes auf gesetzliche Grundlage zu stellen.
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