BGE 85 I 81 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
14. Urteil vom 29. April 1959 i.S. X. AG gegen Kanton Solothurn und Rekurskommission des Kantons Solothurn. | |
Regeste |
Nach dem Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung dürfen Steuern und Abgaben nur beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und lediglich in dem vom Gesetz festgelegten Umfang erhoben werden. | |
Sachverhalt | |
A.- Nach § 28 des solothurnischen Gesetzes betreffend die direkten Staats- und Gemeindesteuern (StG) vom 24. September 1939 zahlen die Kapitalgesellschaften und die Genossenschaften eine Ertragssteuer und eine Kapitalsteuer. Als steuerbares Kapital der Aktiengesellschaft wird gemäss § 31 Ziff. 1 und 6 StG betrachtet "das einbezahlte Aktienkapital, mit Einschluss der von der Gesellschaft ausgegebenen und ganz oder zum Teil aus dem Reingewinn bestrittenen Gratisaktien, zuzüglich 1/4 des nicht einbezahlten Aktienkapitals ... überdies die Eigenkapital darstellenden offenen und stillen Reserven, wobei für die Einschätzung der Aktiven § 22 sinngemäss anzuwenden ist". Als steuerbarer Ertrag gilt der Aktivsaldo der Gewinn- und Verlustrechnung nach Vornahme der in § 29 StG aufgeführten Berichtigungen. Die Ertragssteuer beträgt nach § 32 StG 1 bis 8% des Reinertrags "nach dessen Verhältnis zum steuerbaren Kapital am Anfang des betreffenden Geschäftsjahres" (Verhältniskapital). § 43 der Vollziehungs-Verordnung (VVO) des Kantonsrats zum StG vom 25. Oktober 1939 führt dazu aus:
| 1 |
"Zur Berechnung des Verhältnisses vom steuerbaren Ertrag zum steuerbaren Kapital können nur solche stillen Reserven herangezogen werden, die bei ihrer Bildung als Einkommen versteuert wurden."
| 2 |
B.- Die X. AG in Grenchen wurde für die Steuerjahre 1955 und 1956 für eine Reinertrag von Fr. 86'443.-- bzw. 51'056.-- zur Ertragssteuer und für ein Kapital von Fr. 676'605.-- bzw. 664'123.-- zur Kapitalsteuer herangezogen. Bei Festsetzung des Steuersatzes der Ertragssteuer berücksichtigte die kantonale Steuerverwaltung nicht das gesamte steuerbare Kapital; sie zog vielmehr entsprechend § 43 VVO davon jene stillen Reserven ab, die bei ihrer Bildung nicht als Einkommen besteuert worden waren (für 1955: Fr. 470'604.--, für 1956: Fr. 385'989.--). Auf diese Weise errechnete sie unter Zugrundelegung eines Verhältniskapitals von Fr. 206'001.-- bzw. Fr. 278'134.-- einen Steuersatz von 8% für das Steuerjahr 1955 und einen solchen von 7,4% für das Steuerjahr 1956.
| 3 |
Die X. AG erhob gegen die auf diesen Grundlagen beruhenden Einschätzungen Einsprache und nach deren Abweisung Rekurs an die kantonale Rekurskommission Solothurn. Sie machte geltend, § 43 VVO widerspreche § 32 StG und sei daher, weil gesetzwidrig, nicht anwendbar; nach der letztgenannten Bestimmung seien die gesamten stillen Reserven bei Errechnung des Ertragssteuersatzes zu berücksichtigen; dieser sei demgemäss für das Steuerjahr 1955 auf 5,6% und für das Steuerjahr 1956 auf 4,1% festzusetzen.
| 4 |
Die kantonale Rekurskommission hat den Rekurs am 9. Dezember 1958 abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, das StG vom 24. September 1939 habe auf Grund einer vorausgegangenen Änderung des Art. 62 KV das System der Besteuerung der Kapitalgesellschaften nach der Ertragsintensität oder Kapitalrentabilität eingeführt. § 32 StG mache daher den Steuersatz der Ertragssteuer von der Höhe des Kapitals abhängig, das zur Erzielung des steuerbaren Ertrags gedient habe. Der Gewinn des letzten Geschäftsjahres, der das Objekt der Ertragssteuer bildet, und die Gewinne der früheren Geschäftsjahre, die in Reserve gestellt wurden und als solche einen Bestandteil des für die Berechnung des Ertragssteuersatzes massgebenden Eigenkapitals (Verhältniskapitals) darstellen, müssten notwendigerweise nach den selben Grundsätzen ermittelt werden. Der steuerbare Gewinn berechne sich nach den Vorschriften über die Ertragssteuer. Die bei Berechnung des Ertragssteuersatzes zu berücksichtigenden Reserven könnten deshalb nur aus steuerbaren oder versteuerten Gewinnen gebildet werden. Diese Auffassung habe in § 43 VVO ihren Ausdruck gefunden. Der Einwand der Rekurrentin, diese Bestimmung habe im Gesetze keine Stütze, scheine zwar den Wortlaut des § 32 StG für sich zu haben. Wenn dieser vom "steuerbaren Kapital" spreche, so liege es nahe, darunter das zu verstehen, was § 31 StG unter diesem Titel umschreibe. Im allgemeinen deckten sich denn auch die Begriffe des "steuerbaren Kapitals" in den beiden Bestimmungen. Diese Übereinstimmung finde jedoch dort ihre Grenze, wo ihre Annahme Unternehmungen mit grossen, bei ihrer Bildung nicht mit der Ertragssteuer erfassten Reserven vor wirtschaftlich schwächeren Betrieben bevorzugen würde. Zu berücksichtigen sei auch, dass die Kommission des Kantonsrats zur Vorberatung des StG den regierungsrätlichen Entwurf zur VVO, der im hier in Frage stehenden Punkt keine Änderungen erfahren habe, bereits vor der Volksabstimmung über das StG behandelt habe. Dass § 43 VVO der allgemeinen, schon bei Annahme des StG bestehenden Rechtsüberzeugung entspreche, zeige sich schliesslich auch darin, dass diese Bestimmung seit ihrem Inkrafttreten in ständiger Praxis unwidersprochen angewendet worden sei.
| 5 |
C.- Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV beantragt die X. AG, der Entscheid der kantonalen Rekurskommission sei aufzuheben.
| 6 |
7 | |
D.- Die kantonale Rekurskommission beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Steuerverwaltung des Kantons Solothurn hat sich diesem Antrag angeschlossen.
| 8 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. Nach Art. 62 Abs. 1 der solothurnischen KV sind "Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben Sache der Gesetzgebung". Wird dieser Verfassungssatz mit Art. 4, 17, 31 und 38 KV in Verbindung gebracht, so ergibt sich, dass dem Regierungsrat und dem Kantonsrat auf dem Gebiete des Steuerwesens kein Rechtsverordnungsrecht zusteht; § 109 StG ermächtigt den Kantonsrat denn auch seinerseits bloss zum Erlass der "erforderlichen Vollziehungsverordnung". Aus Art. 62 Abs. 1 KV selber und dem durch diese Bestimmung ausgeführten Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung folgt sodann, dass Steuern und Abgaben nur beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und lediglich in dem vom Gesetz festgelegten Umfang erhoben werden dürfen (BGE 80 I 327 mit Verweisungen; vgl. auch BGE 84 I 93 Erw. 2 und dort angeführte Urteile). Da sich das Ausmass der Steuerbelastung insbesondere nach der Ausgestaltung der Progression und der Art und Weise ihrer Berechnung bestimmt, müssen auch diese Punkte im Gesetz geregelt sein. Die Rekurskommission hat ihren Entscheid, wonach im Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht als Ertrag versteuerte Reserven bei der Ermittlung des Verhältniskapitals ausser Betracht fallen, auf § 43 VVO gestützt. Die Bestimmungen einer Vollziehungsverordnung vermögen jedoch nach dem Gesagten bloss mittelbar und nur insofern die gesetzliche Grundlage für die Festsetzung der Steuerprogression abzugeben, als sie lediglich eine Regelung aus- und weiterführen, die in grundsätzlicher Weise bereits im Gesetz Gestalt angenommen hat (vgl. BGE 29 I 297, BGE 45 I 67 mit Verweisungen, BGE 64 I 315, BGE 79 I 131 /132).
| 9 |
Ob sich der Kantonsrat bei Erlass des § 43 VVO innerhalb dieser Schranken gehalten habe, ist eine Frage, welche die Auslegung und Anwendung kantonalen Gesetzesrechts betrifft, und die das Bundesgericht daher nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Verletzung des Art. 4 BV überprüfen kann.
| 10 |
11 | |
Die letzterwähnte Unterscheidung findet jedoch im Gesetz schlechthin keine Stütze. In § 32 ist wie in § 31 StG vom "steuerbaren Kapital" die Rede. Ein und derselbe Ausdruck kann aber nicht in unmittelbar aufeinanderfolgenden Bestimmungen, die beide von der Bewertung des Vermögens handeln, für zwei verschiedene Begriffe stehen. (Zur nämlichen Feststellung gelangte das Bundesgericht im nicht veröffentl. Urteil vom 1. April 1938 i.S. H. AG mit Bezug auf den Begriff des "steuerpflichtigen Kapitals" in den §§ 29 und 31 des Zürcher Gesetzes betreffend die direkten Steuern vom 25. November 1917 sowie in BGE 73 I 145 mit Bezug auf den Begriff der Reserven in Art. 56 und 57 des WStB vom 9. Dezember 1940). Wohl ist es, zumal unter dem Gesichtswinkel des Art. 4 BV, statthaft, ein Gesetz nach seinem Sinn und Zweck auszulegen und dabei nötigenfalls vom Wortlaute abzuweichen. Auch eine solche Auslegung muss indes davon ausgehen, dass die §§ 31 und 32 StG unter dem "steuerbaren Kapital" dasselbe verstehen. § 31 bestimmt bei Umschreibung des Gegenstandes der Kapitalsteuer in Ziff. 6, dass die Aktiven nach dem sinngemäss anzuwendenden § 22 StG zu bewerten sind. Nach dieser Vorschrift sind andere als land- und forstwirtschaftliche Liegenschaften zum Verkehrswert, Gebäude zum Brandversicherungswert bzw. nach der neuen Katasterschatzung, Waren zum Gestehungswert und Wertpapiere zum Kurswert zu versteuern. Soweit stille Reserven darin liegen, dass die Aktiven in den Büchern zu einem niedrigeren als dem nach § 22 StG massgebenden Wert eingestellt worden sind, sind sie somit der Kapitalsteuer unterworfen. Umfasst das "steuerbare Kapital" nach der Begriffsbestimmung des § 31 StG im angeführten Umfange die gesamten stillen Reserven, so sind diese auch bei Anwendung des denselben Begriff verwendenden § 32 StG zu berücksichtigen.
| 12 |
Die Rekurskommission zog demgegenüber in Erwägung, dass der Gesetzgeber nicht eine sinn- und sachwidrige Ordnung gewollt haben könne, die dem in Art. 62 Abs. 2 KV niedergelegten Grundsatz der progressiven Belastung der Steuerpflichtigen nach der Grösse ihrer Mittel offen widerspreche. Der Regierungsrat und die kantonsrätliche Kommission zur Vorberatung des StG hätten denn auch durch die Vorlegung bzw. Behandlung des heutigen § 43 VVO schon vor der Volksabstimmung über das StG zum Ausdruck gebracht, dass bei Berechnung des Verhältniskapitals nur jene stillen Reserven zu berücksichtigen seien, die bei ihrer Entstehung als Ertrag versteuert wurden. Diese Auslegung, die seither nie angefochten worden sei, habe schon damals der allgemeinen Rechtsauffassung entsprochen.
| 13 |
Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Gemäss Art. 17 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 31 Ziff. 1 KV ist nicht der Kantonsrat (oder gar eine kantonsrätliche Kommission) der Gesetzgeber, sondern der Kantonsrat mit den Stimmberechtigten. Was der so zusammengesetzte Gesetzgeber gewollt hat, tritt im vorliegenden Falle im klaren Gesetzestext eindeutig zutage. Die Verfassungsmässigkeit der im Gesetze getroffenen Lösung kann ernstlich nicht bestritten werden. Art. 62 Abs. 2 KV bezeichnet (wie das Bundesgericht in BGE 44 I 130 und BGE 48 I 84 zur entsprechenden Bestimmung der Zürcher KV festgestellt hat) lediglich die "allgemeine Richtung für die Aufgabe des Gesetzgebers". Wie der im angeführten Verfassungssatz gestellten Forderung zu entsprechen sei, steht im Ermessen des Gesetzgebers. Dass dieser bei Erlass des § 32 StG die Grenzen seines Ermessens überschritten habe, ist nicht dargetan. Die als "sinn- und sachwidrig" ins Treffen geführte Benachteiligung junger (arbeitsintensiver) Betriebe gegenüber konsolidierten (kapitalintensiven) Unternehmungen ist letztlich im überkommenen System der Besteuerung nach der Ertragsintensität oder Kapitalrentabilität selbst begründet(Bericht der Expertenkommission für die Motion Piller, Zum Problem der gleichmässigen Besteuerung der Erwerbsunternehmungen, S. 65); dass dieses System als solches deswegen verfassungswidrig sei, wird indes nicht geltend gemacht. Sollte sich aber eine andere als die im Gesetz getroffene Ordnung als zweckmässiger und gerechter erweisen, so liesse sie sich nur auf dem Wege der Gesetzesrevision verwirklichen (vgl. BGE 73 I 147).
| 14 |
3. Da nach § 32 StG die gesamten stillen Reserven bei Berechnung des Verhältniskapitals zu berücksichtigen sind, ist § 43 VVO, wonach hierbei nur die bei ihrer Bildung als Ertrag versteuerten Reserven in Betracht fallen, gesetzwidrig (in diesem Sinne auch I. BLUMENSTEIN, Kommentar zum bernischen Gesetz über die direkten Staats- und Gemeindesteuern vom 29. Oktober 1944, S. 333, N. 2 e). § 43 VVO vermag damit auch nicht mittelbar die gesetzliche Grundlage für die Festlegung der Progression zu bilden.
| 15 |
Der in der Vernehmlassung der Rekurskommission erhobene Einwand aber, es habe sich durch die ständige und unangefochtene Anwendung des § 43 VVO ein entsprechendes Gewohnheitsrecht entwickelt, erweist sich schon darum als unbegründet, weil der angeführte Umstand allein noch keinen Beweis dafür bildet, dass die Übung der Steuerbehörden die allgemeine Rechtsüberzeugung für sich habe (BGE 84 I 97).
| 16 |
Da die Festlegung des Steuersatzes in den durch die Rekurskommission geschützten Einschätzungen der gesetzlichen Grundlage ermangelt, ist der angefochtene Entscheid verfassungswidrig.
| 17 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
| 18 |
19 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |