BGE 87 I 73 | |||
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11. Auszug aus dem Urteil vom 29. März 1961 i.S. Hagen gegen Gritschneder und Obergericht des Kantons Tlmrgau. | |
Regeste |
Schweiz./deutsches Vollstreckungsabkommen vom 2. November 1929. |
Art. 2 Ziff. 2: Wirkungsdauer der in einem zivilrechtlichen Vertrag enthaltenen Gerichtsstandsklausel (Erw. 5). |
Art. 4 Abs. 1: Der für das Verfahren vor Landgerichten und höheren deutschen Gerichten geltende Anwaltszwang verstösst nicht gegen den schweizerischen ordre public (Erw. 6 b). |
Art. 7 Ziff. 1: Die Ausfertigung eines deutschen Versäumnisurteils gilt auch dann, wenn sie keine Entscheidungsgründe enthält, als "vollständig" (Erw. 6 c). | |
Sachverhalt | |
A.- Der in Güttingen (TG) wohnhafte Kaufmann Albert Hagen beauftragte im Jahre 1957 Rechtsanwalt Dr. Otto Gritschneder in München mit der Führung eines Forderungsprozesses gegen eine Firma in München und unterzeichnete am 10. September 1957 eine Anwaltsvollmacht, in der München als Gerichtsstand und Erfüllungsort bezeichnet ist. Dr. Gritschneder stellte am 18. Dezember 1958 für seine Bemühungen und Auslagen Rechnung und klagte diese am 3. September 1959 beim Landgericht München I gegen Hagen ein. Dieser erhielt am 24. September 1959 durch Vermittlung des Bezirksgerichts Kreuzlingen eine beglaubigte Abschrift der Klage sowie eine Ladung auf den 16. November 1959. Am 14. Oktober 1959 schrieb Hagen dem Landgericht, er habe Dr. Gritschneder die Vollmacht bereits am 28. April 1958 entzogen, anerkenne deshalb den Gerichtsstand München nicht mehr und werde sich dort nicht auf die Klage einlassen. Das Landgericht antwortete ihm am 20. Oktober 1959, dass er diese Einwendungen nur durch einen beim Landgericht zugelassenen Anwalt vorbringen könne; sollte er zur Verhandlung vom 16. November 1959 ohne Anwalt oder überhaupt nicht erscheinen, so könne ein Versäumnisurteil gegen ihn erlassen werden. Hagen leistete der Ladung keine Folge, worauf das Landgericht München I die Klage durch Versäumnisurteil vom 16. November 1959 guthiess.
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Gestützt auf dieses Urteil betrieb Dr. Gritschneder Hagen für Fr. ...... und ersuchte, als Hagen Recht vorschlug, den Präsidenten des Bezirksgerichts Kreuzlingen, das Urteil vollstreckbar zu erklären und Rechtsöffnung zu bewilligen. Der Gerichtspräsident stellte die Akten dem thurgauischen Obergericht zu, damit es gemäss § 320 thurg. ZPO über die Bewilligung der Vollstreckbarkeit entscheide. Mit Beschluss vom 22. Dezember 1960 erteilte das Obergericht diese Bewilligung.
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B.- Gegen diesen Entscheid führt Albert Hagen staatsrechtliche Beschwerde. Er beruft sich auf Art. 4 und 59 BV sowie Art. 2 des schweiz./deutschen Vollstreckungsabkommens.
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C.- Das Obergericht des Kantons Thurgau und der Beschwerdegegner Dr. Otto Gritschneder beantragen die Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Nach Art. 6 des schweiz./deutschen Vollstreckungsabkommens vom 2. November 1929 (nachfolgend kurz "Abkommen" genannt) werden die Entscheidungen der Gerichte des einen Staates, die nach dem Abkommen im Gebiete des andern anzuerkennen sind, auf Antrag einer Partei von der zuständigen Behörde dieses Staates in einem möglichst einfachen und schleunigen Verfahren für vollstreckbar erklärt. Welche Behörde zuständig und wie das Urteil zu vollziehen ist, bestimmt sich nach dem Recht des Staates, in dem die Vollstreckung beantragt wird.
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Das Urteil, dessen Vollstreckung der Beschwerdegegner begehrt, hat die Verpflichtung zu einer Geldzahlung zum Gegenstand und ist daher nach schweizerischem Recht auf dem Wege der Schuldbetreibung zu vollziehen (Art. 38 Abs. 1 SchKG). Über seine Vollstreckbarkeit ist gemäss Art. 81 Abs. 3 SchKG von Bundesrechts wegen im Rechtsöffnungsverfahren zu entscheiden, in welchem der Betriebene die im Abkommen vorgesehenen Einreden erheben kann (BGE 86 I 35 /36 mit Verweisungen sowie Botschaft des Bundesrates zum Abkommen, BBl 1929 III 538, wo auch ausgeführt ist, dass im gemeinsamen Sitzungsprotokoll der Delegationen der beiden Länder festgestellt wurde, der im schweizerischen Rechtsöffnungsverfahren ergehende Entscheid über die Vollstreckbarkeit falle unter den Ausdruck "Vollstreckbarerklärung" im Sinne von Art. 6 des Abkommens).
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Im Kanton Thurgau ist die Erteilung der Rechtsöffnung Sache des Bezirksgerichtspräsidenten (§ 204 Ziff. 2 ZPO). Diesem steht daher im Rahmen des Rechtsöffnungsverfahrens auch die Vollstreckbarerklärung im Sinne von Art. 6 des Abkommens zu. § 320 ZPO bestimmt zwar, dass die Vollstreckungsbewilligung für Urteile ausländischer Gerichte beim Obergericht nachzusuchen ist. Soweit es sich aber um ein auf Geldzahlung oder Sicherheitsleistung gerichtetes Urteil handelt, über dessen Vollstreckbarkeit von Bundesrechts wegen im Rechtsöffnungsverfahren zu entscheiden ist, hat diese kantonalrechtliche Bestimmung vor dem Bundesrecht keinen Bestand (JAEGER Nr. 24 zu Art. 81 SchKG; FRITZSCHE, Schuldbetreibung I S. 126). Das hat übrigens das Obergericht im Jahre 1934 selber festgestellt (Rechenschaftsbericht 1934 S. 51 Nr. 9). Vorliegend wäre somit der Bezirksgerichtspräsident von Kreuzlingen, bei dem der Beschwerdegegner um Rechtsöffnung nachgesucht hat, zuständig gewesen, auch über die Vollstreckbarkeit des Urteils des Landgerichts München zu befinden, und gegen seinen Entscheid wäre dann gemäss § 292 Ziff. 6 ZPO die Beschwerde an das Obergericht zulässig gewesen. Statt die Frage der Vollstreckbarkeit selber zu beurteilen, hat sie der Bezirksgerichtspräsident dem Obergericht unterbreitet, welches entgegen der bundesrechtlichen Ordnung sowie seiner eigenen Praxis und ohne sich mit dieser auseinanderzusetzen, darauf eingetreten ist und anstelle des Bezirksgerichtspräsidenten das Urteil für vollstreckbar erklärt hat. Die Zuständigkeit des Obergerichts, im vorliegenden Falle auf Grund von § 320 ZPO die Vollstreckbarerklärung auszusprechen, ist indessen nicht angefochten worden, weshalb das Bundesgericht sie hinzunehmen hat und den Entscheid des Obergerichts nicht wegen funktioneller Unzuständigkeit desselben aufheben kann.
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2.- 4.- (Ausführungen darüber, dass für die Vollstreckbarkeit eines deutschen Urteils in der Schweiz ausschliesslich das Abkommen massgebend ist und dass der Beschwerdeführer, indem er die Vollmacht mit der Gerichtsstandsklausel unterzeichnete, sich durch eine ausdrückliche Vereinbarung im Sinne von Art. 2 Ziff. 2 des Abkommens der Zuständigkeit der Münchner Gerichte unterworfen hat.)
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5. Für den Fall der Verbindlichkeit der Gerichtsstandsklausel macht der Beschwerdeführer geltend, dass die Vollmacht von ihm am 28. April 1958 widerrufen worden und damit die darin enthaltene Gerichtsstandsklausel dahingefallen sei. Auch diese Rüge ist unbegründet. Die Gerichtsstandsklausel ist nach schweizerischem wie nach deutschem Recht auch dort, wo sie äusserlich als Teil eines zivilen Rechtsgeschäftes erscheint, eine selbständige prozessrechtliche Abrede (BGE 62 I 234 und BGE 64 I 44 mit Zitaten, BGE 76 II 249, BGE 85 I 31). Sodann gilt eine Gerichtsstandsvereinbarung, die sich wie die vorliegende auf ein materielles Rechtsverhältnis bezieht, solange, als dieses Wirrkungen zeitigt, und sie kann daher angerufen werden, solange Ansprüche und Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis bestehen, mag dieses selber inzwischen auch ein Ende gefunden haben. Sollte der Beschwerdeführer Auftrag und Vollmacht widerrufen haben, was der Beschwerdegegner mit überzeugenden Gründen bestreitet, so hätte dies nicht das Dahinfallen der Gerichtsstandsvereinbarung bewirkt. Der Beschwerdegegner stützt alle Ansprüche, die er in München eingeklagt und die das dortige Landgericht geschützt hat, auf den ihm mit der Vollmacht vom 10. September 1957 erteilten Auftrag. Der Streit betraf somit Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis, für welches die Gerichtsstandsabrede abgeschlossen worden ist, weshalb den Münchner Gerichten die Zuständigkeit zur Beurteilung dieser Ansprüche nicht abgesprochen werden kann.
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a) Der Beschwerdeführer begründet sie lediglich damit, dass der Anwaltszwang und das Fehlen einer Urteilsbegründung in der Schweiz unbekannt seien. Das genügt indes nicht, um eine Verletzung der schweizerischen öffentlichen Ordnung darzutun. Der Vorbehalt des ordre public greift dann Platz, wenn das einheimische Rechtsgefühl durch die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in unerträglicher Weise verletzt würde (BGE 84 I 121 Erw. 2 mit Verweisungen, BGE 85 I 47 Erw. 4). Eine solche unerträgliche Verletzung des einheimischen Rechtsgefühls liegt nicht schon dann vor, wenn das schweizerische Recht eine Verfahrensvorschrift des ausländischen Rechts nicht kennt; vielmehr müsste noch dargetan werden, inwiefern diese ausländische Verfahrensvorschrift sich mit dem einheimischen Rechtsempfinden schlechterdings nicht verträgt. Darüber schweigt sich die Beschwerde indessen aus. Ob trotz dieser mangelhaften Substantiierung auf die Rüge der Verletzung des ordre public einzutreten ist (Art. 90 lit. b OG), kann dahingestellt bleiben, da sich die Rüge ohnehin als unbegründet erweist.
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b) Der Grundsatz des deutschen Rechts, dass die Parteien vor dem Landgericht und vor allen Gerichten des höheren Rechtszuges durch einen beim Prozessgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten sein müssen (§ 78 DZPO), bestand schon lange vor dem Abschluss des Abkommens und war als ein wesentlicher Unterschied des deutschen gegenüber dem schweizerischen Prozess bekannt. Wenn daher das Abkommen die an das Verfahren im Urteilsstaate zu stellenden Anforderungen aufzählt (Art. 4 Abs. 3), ohne das Recht zu persönlicher Prozessführung zu nennen, so kann das, wie bereits in Erw. 3 des nicht veröffentlichten Urteils vom 6. März 1936 i.S. André Dewald & Sohn ausgeführt worden ist, nur dahin verstanden werden, dass der genannte Anwaltszwang nicht als eine unzulässige Beeinträchtigung der Verteidigung im Prozess betrachtet werden soll. Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Prozess gilt in der Schweiz freilich als wichtiges Recht und folgt, soweit ihn nicht schon das kantonale Recht gewährleistet, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts unmittelbar aus dem in Art. 4 BV aufgestellten allgemeinen Grundsatz der Rechtsgleichheit (statt vieler BGE 85 I 202 und 207). Im Zivilprozess muss die Partei indes nur die Möglichkeit haben, ihre Sache dem Richter vorzutragen und sich zu verteidigen, nicht auch, dies in jedem Falle persönlich ohne den Beistand eines Anwalts zu tun. So ist denn auch im schweizerischen Recht vereinzelt vorgesehen, dass einer Partei die Postulationsfähigkeit entzogen und sie zur Bestellung eines Vertreters angehalten werden kann, wenn sie sich als unfähig erweist, ihre Sache selber zu führen (Art. 29 Abs. 5 OG; GULDENER, Das Schweiz. Zivilprozessrecht 2. Aufl. S. 119 III 1).
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c) Nach Art. 7 Ziff. 1 des Abkommens hat die Partei, welche die Vollstreckbarerklärung nachsucht, eine "vollständige" Ausfertigung der Entscheidung beizubringen. Nach der deutschen ZPO brauchen Versäumnisurteile, die dem Klagebegehren entsprechen, weder eine Tatbestandsdarstellung noch Entscheidungsgründe zu enthalten (§ 313 Abs. 3) und erfolgt, wenn das Urteil in dieser abgekürzten Form hergestellt wird, auch die Ausfertigung in gleicher Weise (§ 317 Abs. 4). Das Bundesgericht hat schon in Erw. 1 des eben erwähnten und in BGE 68 I 164 Erw. 3 zitierten Urteils i.S. André Dewald & Sohn entschieden, dass eine solche Ausfertigung eines deutschen Versäumnisurteils als "vollständig" anerkannt werden müsse, denn es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass das Abkommen einen selbständigen Begriff der "vollständigen" Ausfertigung hätte schaffen wollen, dessen Erfordernisse durch die nach § 317 Abs. 4 DZPO ergangenen deutschen Versäumnisurteile nicht erfüllt würden. Entspricht demnach die vom Beschwerdegegner vorgelegte Urteilsausfertigung dem Art. 7 des Abkommens, so kann der Beschwerdeführer das Fehlen der Urteilsbegründung nicht aus dem Gesichtspunkt des schweizerischen ordre public beanstanden, denn die Bestimmungen der von der Schweiz abgeschlossenen Staatsverträge gelten als Landesrecht mit Gesetzeskraft und können daher nicht gegen die schweizerische öffentliche Ordnung verstossen (BGE 72 I 275b mit Zitaten). Das Bundesgericht hat übrigens wiederholt entschieden, dass in der fehlenden oder mangelhaften Begründung einer Entscheidung nur insoweit eine Rechtsverweigerung liege, als dadurch eine gesetzliche Vorschrift verletzt wird (BGE 28 I 11, BGE 43 I 28, BGE 62 I 146 und zahlreiche nicht veröffentlichte Urteile). Es kann daher keine Rede davon sein, dass in der Schweiz "eine Partei in jedem Falle Anspruch auf ein begründetes Urteil" habe, wie in der Beschwerde behauptet wird.
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