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25. Auszug aus dem Urteil vom 12. Juni 1963 i.S. X. gegen Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. | |
Regeste |
Armenrecht. Art. 4 BV. | |
Sachverhalt | |
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A.- Die österreichische Staatsangehörige X. gebar am 6. Juni 1956 ausserehelich das Kind C. X. Als dessen Vater bezeichnete sie Y. in St. Gallen. Das Jugendamt der Stadt Graz/Österreich beauftragte Rechtsanwalt Dr. Z., für die Mutter und das Kind vor dem Bezirksgericht St. Gallen den Vaterschaftsprozess gegen Y. durchzuführen. Da die Klage auf Zusprechung des Kindes mit Standesfolge ging, beteiligte sich die Standeskommission von Appenzell I.Rh., vertreten durch die Amtsvormundschaft Appenzell, als Nebenintervenientin auf der Seite des Beklagten am Prozess (Art. 312 Abs. 2 ZGB). Der Beklagte und die Standeskommission bestritten die Klage. Y. gab zwar zu, während der kritischen Zeit der Mutter des Kindes wiederholt beigewohnt zu haben, erhob aber die Einrede des Mehrverkehrs mit einem gewissen U. Die Nebenintervenientin, unterstützt vom Beklagten, beantragte unter anderem auch die Blutuntersuchung und eine anthropologisch-erbbiologische Expertise zum Nachweise der Unmöglichkeit der Vaterschaft des Y. Die Blutuntersuchung verlief negativ; die anthropologisch-erbbiologische Untersuchung wurde nicht durchgeführt. Mit Urteil vom 20. Januar 1959 wies das Bezirksgericht St. Gallen die Vaterschaftsklage gestützt auf Art. 314 Abs. 2 ZGB wegen Mehrverkehrs der Mutter während der kritischen Zeit ab. Das Urteilsdispositiv wurde an der Hauptverhandlung vom 20. Januar 1959, an welcher Rechtsanwalt Dr. Z. für die Klägerinnen teilnahm, mündlich ![]() | 2 |
Rechtsanwalt Dr. Z. gab dem Jugendamt Graz weder vom Urteilsdispositiv noch von der schriftlichen Urteilsbegründung Kenntnis. Anfragen dieses Amtes über den Stand der Angelegenheit liess er unbeantwortet, so dass es erst am 11. Januar 1960, als das Urteil längst rechtskräftig geworden war, auf Grund einer Anfrage beim Kantonsgericht St. Gallen davon Kenntnis erhielt.
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B.- Gestützt auf diesen Sachverhalt will das Jugendamt Graz namens des Kindes C.X. vor den Gerichten des Kantons Appenzell I.Rh. gegen Rechtsanwalt Dr. Z. einen Verantwortlichkeitsprozess durchführen. Es verlangt die Bezahlung von Fr. 9244.40, was der kapitalisierten Unterhaltsrente gemäss Rechtsbegehren im Vaterschaftsprozess entspricht, nebst 5% Zins seit 21. September 1962.
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Rechtsanwalt Dr. R. Zollikofer in Zürich, der die Klägerin im Verantwortlichkeitsprozess vertritt, stellte, gestützt auf Art. 101 der Zivilprozessordnung des Kantons Appenzell I.Rh. (ZPO) bei der Polizeidirektion das Gesuch um Bewilligung der einfachen unentgeltlichen Prozessführung, das heisst um Befreiung von der Leistung allfälliger gerichtlicher Gebühren und Vorschüsse. Nachdem die Polizeidirektion ein Rechtsgutachten bei Kantonsrichter Dr. Jakob Eugster in St. Gallen über die Frage der Aussichten der Klage eingeholt hatte, wies die dafür zuständige Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. das Armenrechtsgesuch mit Entscheid vom 11. März 1963 wegen Aussichtslosigkeit der Klage (Art. 101 Abs. 2 ZPO) ab.
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C.- Am 4. April 1963 teilte die Gerichtskanzlei Appenzell dem Anwalt der Klägerin im Verantwortlichkeitsprozess mit, dass der Gerichtspräsident das schriftliche Vorverfahren angeordnet habe in der Annahme, dass "in absehbarer Zeit noch eine Bescheinigung über die unentgeltliche Rechtspflege beigebracht oder die Einschreibgebühr von ![]() | 6 |
D.- Die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. beantragt, es sei die Beschwerde in vollem Umfange abzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
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Dass die Beschwerdeführerin bedürftig ist, ist nicht bestritten. Streitig ist lediglich, ob der von ihr eingeleitete Verantwortlichkeitsprozess aussichtslos sei. Diese Frage prüft das Bundesgericht dann, wenn es sich wie hier um die bundesrechtliche Befreiung von der Vorschusspflicht handelt, grundsätzlich frei (BGE 78 I 195Erw. 3). Als aussichtslos gelten Prozessbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und nicht mehr als ernsthaft bezeichnet werden können. Halten dagegen die Gewinnaussichten den Verlustgefahren ungefähr die Waage, oder erscheinen sie nur wenig geringer ![]() | 9 |
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Die Beschwerdeführerin ficht die Annahme im angefochtenen Entscheid, dass nach der Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen U. nicht hätte gezwungen werden können, sich einer Blutuntersuchung zu unterziehen, und dass er sich auch nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hätte, nicht als willkürlich an (vgl. dazu BGE 82 I 237 ff.). Dagegen wird Rechtsanwalt Dr. Z. vorgeworfen, dass er im Verfahren vor Bezirksgericht keinen Antrag auf Durchführung ![]() | 11 |
Die Frage, ob und allenfalls unter welchen Voraussetzungen die Parteien im Vaterschaftsprozess einen bundesrechtlichen Anspruch auf Anordnung einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung haben, hat die II. Zivilabteilung des Bundesgerichtes ausdrücklich offen gelassen (BGE 82 II 266 /267, BGE 87 II 74 Erw. 6, BGE 87 II 287 lit. b, BGE 88 II 398 /399). In BGE 87 II 288 wurde lediglich entschieden, dass der Vaterschaftsbeklagte jedenfalls dann keinen bundesrechtlichen Anspruch auf Anordnung einer solchen Begutachtung habe, wenn keine bestimmten Anhaltspunkte für einen Mehrverkehr der Mutter in der kritischen Zeit bestehen. Dieses Urteil präjudiziert indessen die im vorliegenden Falle zu beurteilende Frage, ob die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf die Durchführung einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung gehabt hätte, nicht, denn hier steht der Mehrverkehr fest und geht es um den Beweisanspruch des Klägers, nicht des Beklagten (vgl. BGE 88 I 145). Es ist auch nicht richtig, dass in BGE 82 II 266 jener Beweis davon abhängig gemacht ![]() | 12 |
Rechtsanwalt Dr. Z. hatte demnach keinen hinreichenden Grund zur Annahme, dass der Antrag auf Durchführung einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung bundesrechtlich von vornherein aussichtslos und daher überflüssig sei. Ein solcher Beweisantrag war aber auch nach dem massgebenden kantonalen Prozessrecht nicht ausgeschlossen und hätte noch im Berufungsverfahren gestellt werden können (Art. 418 Abs. 2 ZPO des Kantons St. Gallen). Wie sich aus BGE 87 II 66 lit. B ergibt, hat denn auch das Bezirksgericht St. Gallen am 24. August 1956, also um die Zeit der Einleitung des jetzt in Frage stehenden Vaterschaftsprozesses beim Vermittleramt, in einem andern Vaterschaftsprozess eine derartige Expertise angeordnet. Auch das Kantonsgericht St. Gallen war in diesem Prozesse der Auffassung, dass den Klägerinnen unter den obwaltenden Umständen die Beweisführung durch eine anthropologisch-erbbiologische Expertise zu gestatten sei (vgl. BGE 87 II 67 lit. C). Dass Rechtsanwalt Dr. Z. davon keine Kenntnis hatte und ob das Kantonsgericht St. Gallen in einem andern, nicht näher bezeichneten Appellationsfall ein solches Gutachten abgelehnt hatte, wie in der Beschwerdeantwort der Standeskommission ausgeführt wird, ist nicht entscheidend. Wesentlich ist, dass Dr. Z. keinen Grund zur Annahme hatte, dass dieses Beweismittel von vorneherein nicht in Frage komme. Es ist daher keineswegs ![]() | 13 |
Unter diesen Umständen lässt sich nicht sagen, dass die Verantwortlichkeitsklage heute schon als aussichtslos im Sinne der weiter oben umschriebenen Rechtsprechung des Bundesgerichtes erscheint. Die Standeskommission hat der Beschwerdeführerin daher die nachgesuchte unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht wegen Aussichtslosigkeit der Klage verweigert, so dass die Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden kann, zu schützen und der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.
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