BGE 89 I 425 | |||
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61. Auszug aus dem Urteil vom 27. November 1963 i.S. M. gegen Erben V. und Mieterschutzkommission des Kantons St. Gallen. | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 34 VMK. | |
Sachverhalt | |
Die Eheleute M.-R. wurden am 21. Januar 1963 im Sinne von Art. 146 ZGB auf unbestimmte Zeit getrennt. Im Ehetrennungsverfahren hatte der Richter der Ehefrau Anna M. am 17. Oktober 1962 als vorsorgliche Massnahme gestattet, während der Dauer des Prozesses die eheliche Wohnung weiter zu benutzen; der Ehemann Josef M. wurde angewiesen, die Wohnung am 31. Oktober zu verlassen. Von diesem Zeitpunkt an zahlte die Ehefrau den Mietzins.
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In einem an Frau Anna M. gerichteten Schreiben kündigten die Erben V. als Vermieter am 28. Februar 1963 den Mietvertrag. Frau Anna M. erhob dagegen Einsprache, worauf die Vermieter am 9. März 1963 erklärten, sie liessen diese Kündigung fallen. Gleichentags sprachen sie jedoch gegenüber dem getrennt lebenden Ehemann Josef M., der den Mietvertrag abgeschlossen hatte, die Kündigung aus. Eine Durchschrift dieser Erklärung ging an Frau Anna M., die gegen die Kündigung erneut Einsprache erhob. Josef M. enthielt sich einer Stellungnahme.
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Die Mieterschutzkommission der Stadt St. Gallen erklärte die Kündigung auf Begehren der Frau Anna M. unzulässig. In Gutheissung eines Rekurses der Vermieter hat die kantonale Mieterschutzkommission den Entscheid der städtischen Behörde am 2. Oktober 1963 aufgehoben. Sie hat dabei erkannt, Frau Anna M. sei nicht legitimiert, gegen die an den getrennt lebenden Ehemann gerichtete Kündigung Einsprache zu erheben; ihre Behauptung aber, das Mietverhältnis sei im stillschweigenden Einverständnis der Vermieter auf sie übergegangen, werfe obligationenrechtliche Fragen auf, die der Zivilrichter und nicht die Mieterschutzbehörde zu beurteilen habe.
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Frau Anna M. führte gegen den Entscheid der kantonalen Mieterschutzkommission staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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2. Gemäss Art. 34 Abs. 1 der Verordnung über Mietzinse und Kündigungsbeschränkung (VMK) vom 11. April 1961 kann eine nach Obligationenrecht gültige Kündigung des Mietvertrages durch den Vermieter "auf Begehren des Mieters" unzulässig erklärt werden, wenn sie nach den Umständen des Falles ungerechtfertigt erscheint. Diese Vorschrift stimmt wörtlich mit Art. 4 Abs. 1 des Bundesratsbeschlusses betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot (BMW) vom 15. Oktober 1941/8. Februar 1946 überein. Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 23. September 1948 i.S. Curchod (auszugsweise wiedergegeben in SJZ 45 S. 291; vgl. auch BIRCHMEIER, ZBl 1949 S. 143) entschieden, es sei nicht willkürlich, das in Art. 4 BMW enthaltene Wort "Mieter" ausschliesslich in dem Sinne zu verstehen, den Art. 253 OR ihm verleihe; es könne daher ohne Willkür gefolgert werden, dass die Ehefrau, die den Mietvertrag nicht als Mieterin unterzeichnet habe, selbst dann nicht legitimiert sei, in eigenem Namen gegen die Kündigung Einsprache zu erheben, wenn sie auf Grund einer Anordnung des Scheidungsrichters die Wohnung allein benutze und der getrennt lebende Ehemann böswillig von einer Einsprache Abstand nehme. Entsprechendes gilt, wenn die Ehegatten im Sinne von Art. 146 ZGB gerichtlich getrennt sind.
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Richtig ist, dass damit die Ehefrau als tatsächliche Inhaberin der Wohnung nur dann vor den Folgen der Obdachlosigkeit bewahrt wird, wenn der Ehemann als Mieter ihre Interessen wahrnimmt. Gleich wie in dem in BGE 87 I 444 behandelten Falle ist indessen anzunehmen, dass die Notrechtsetzung diesen Nachteil in Kauf genommen hat, um nicht zu tief in die zivilrechtlichen Verhältnisse eingreifen zu müssen, die (vorbehaltlich des Art. 270 OR) durch das Fehlen vertraglicher Beziehungen zwischen dem Vermieter und den Familienangehörigen des Mieters gekennzeichnet sind. Wird eine Kündigung unzulässig erklärt, so gilt nach Art. 37 Abs. 1 VMK der "Vertrag" als "erneuert", das heisst es kommt zu einer Fortsetzung des bestehenden Mietvertragsverhältnisses. Das ist, abweichende vertragliche Abmachungen vorbehalten, nur möglich zwischen den bisherigen Vertragsparteien oder deren Erben. Nimmt der Ehemann als Mieter die Kündigung entgegen, dann ist der bisherige Mietvertrag aufgehoben. Würde der Ehefrau des Mieters ein selbständiges Einspracherecht zuerkannt, so wäre der Vermieter im Falle der Gutheissung der Einsprache gehalten, der Einsprecherin, die ihm gegenüber eine Drittperson ist, den Genuss der Mietsache zu den mit dem Mieter vereinbarten Bedingungen zu überlassen. Da der bisherige Mietvertrag durch die widerspruchslose Entgegennahme der Kündigung aufgehoben ist, könnte diese Überlassung kaum als "Erneuerung" des Vertrages im Sinne von Art. 37 Abs. 1 VMK aufgefasst werden; es läge vielmehr näher, von der Begründung eines neuen Mietverhältnisses zu sprechen. Weil dieses nicht auf einer Willenseinigung der Beteiligten beruhen würde, sondern auf der Gutheissung der Einsprache, also einem Verwaltungsakt, hätte das Verhältnis nur noch den Inhalt mit einem privatrechtlichen Vertrag gemein. Die VMK enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass die verordnende Gewalt eine derart weitgehende Ausschaltung der privatrechtlichen Elemente zugunsten des öffentlichen Rechts (vgl. OFTINGER, ZSR 57 S. 509a f.) ins Auge fasste. Das Bundesgericht sieht sich daher nicht veranlasst, auf seine auch im Schrifttum gebilligte (vgl. THUT, SJZ 45 S. 291/92) Rechtsprechung zurückzukommen, wonach es nicht willkürlich ist, der Ehefrau des Mieters ein selbständiges Recht zur Einsprache gegen die Kündigung abzuerkennen.
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Wenn die kantonale Mieterschutzkommission im nämlichen Sinne entschieden hat, so hat sie demnach nicht willkürlich gehandelt. Ebenso wenig kann ihr eine rechtsungleiche Behandlung vorgeworfen werden, weil sie die Legitimationsfrage früher anders beantwortet habe. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit steht einer sachlich begründeten Praxisänderung nicht entgegen (BGE 78 I 101Erw. 5; BGE 80 I 323; BGE 86 I 326; BGE 89 I 296 Erw. 6 a.E., 303 Erw. 6). An einer solchen Begründung hat es die kantonale Mieterschutzkommission, die sich auf das erwähnte Urteil des Bundesgerichts beruft, nicht fehlen lassen. Vollends unbehelflich ist der Hinweis auf die Praxis anderer Kantone. Dass Bundesrecht von Kanton zu Kanton verschieden angewendet wird, verstösst nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 4 BV (vgl. BGE 88 I 203).
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4. Eine andere Frage ist es, ob die Beschwerdegegner, die von den eingetretenen Veränderungen Kenntnis gehabt haben sollen und die Mietzinszahlungen der Beschwerdeführerin entgegennahmen, nicht stillschweigend der Übernahme des Mietvertragsverhältnisses durch sie zugestimmt hätten, so dass sie nunmehr als Mieterin zu betrachten wäre. Die kantonale Mieterschutzkommission hat sich darauf beschränkt, den Entscheid hierüber dem Zivilrichter vorzubehalten. Diese Stellungnahme hält vor Art. 4 BV stand. Der behauptete Mieterwechsel stellt die obligationenrechtliche Gültigkeit der Kündigung in Frage. Hierüber hat grundsätzlich der Zivilrichter zu befinden. Liegt von seiner Seite noch kein Entscheid vor, so ist zwar die Mieterschutzbehörde frei, sich vorfrageweise (und ohne dass ihre Erwägungen den Zivilrichter binden würden) über die obligationenrechtliche Gültigkeit der Kündigung auszusprechen (BGE 88 I 10 f; BIRCHMEIER, Die Mietnotrechtserlasse des Bundes, S. 15/16 mit Verweisungen; COMMENT, ZBJV 84 S. 158 f. mit Verweisungen). Unter den obwaltenden Umständen bestand dazu jedoch kein Anlass. Wäre die kantonale Mieterschutzkommission zum Schlusse gekommen, die Beschwerdeführerin habe gemäss ihren Behauptungen den Mietvertrag im Einverständnis der Beschwerdegegner übernommen, so wäre die allein an den Ehemann gerichtete Kündigung ungültig erschienen; die Frage der mietnotrechtlichen Zulässigkeit der Kündigung hätte sich bei dieser Sachlage nicht gestellt. Wäre die kantonale Mieterschutzkommission dagegen den betreffenden Vorbringen nicht gefolgt, so wäre es beim Entscheid geblieben, dass die Beschwerdeführerin, weil nicht Mieterin, keine Einsprache gegen die Kündigung erheben konnte. Im einen wie im anderen Falle hätte die Mieterschutzkommission demnach auf die Frage, ob die Kündigung im Sinne des Art. 34 VMK gerechtfertigt sei, nicht eintreten können.
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Die Beschwerdeführerin wird dadurch nicht um die Möglichkeit gebracht, den behaupteten Mieterwechsel geltend zu machen. Der angefochtene Entscheid weist zutreffend darauf hin, dass sie jenen Einwand im Ausweisungsverfahren (und in einem sich allenfalls daran anschliessenden ordentlichen Prozess) vorbringen kann. Heisst der Zivilrichter ihren Standpunkt gut, so werden die Beschwerdegegner sich zu einer neuen, diesmal an die Beschwerdeführerin gerichteten Kündigung veranlasst sehen, die sie mit einer Einsprache beantworten kann.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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