![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
73. Auszug aus dem Urteil vom 11. Dezember 1963 i.S. Winet und Mitbeteiligte gegen Gemeinderat von Lachen und Regierungsrat des Kantons Schwyz. | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 88 und 90 OG. |
2. Willkürliche Anwendung einer allgemeinen Bestimmung an Stelle der einschlägigen Sondervorschrift. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaues bildet keinen Grund, um Abweichungen von zwingenden baupolizeilichen Vorschriften zu gestatten (Erw. 3). |
3. Kassatorische Natur der staatsrechtlichen Beschwerde; Ausnahme bei Beschwerden wegen Verweigerung einer Polizeibewilligung (Erw. 5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Ergänzung von Art. 10 BVL. In den Zonen II und III kann der Gemeinderat Einzelobjekte oder ganze Quartiere mit mehr als 2 Geschossen bewilligen, sofern dadurch das Gesamtbild nicht gestört, bestehende Objekte nicht beeinträchtigt und nachfolgende Mindestgrenzabstände eingehalten werden:
| 2 |
seitlich und rückwärtig das 0,6-fache der Gebäudehöhe, jedoch mindestens die Abstande von Abs. 1.
| 3 |
Die Gebäudehöhe wird ab bestehendem Terrain bis zur halben Giebelhöhe gemessen.
| 4 |
Abänderung von Art. 21 BVL.
| 5 |
Bei bestehenden Gebäuden, deren Grenzabstände nicht den Vorschriften des Art. 10 entsprechen, darf der Nachbar die Grenzabstände von neuen Gebäuden auf die gleichen Masse reduzieren wie beim bestehenden Gebäude. Diese Abstände dürfen aber nicht weniger als die Hälfte der Abstände gemäss Art. 10 betragen.
| 6 |
B.- Die Wohnbaugenossenschaft "Freies Wohnen" möchte auf einem 1192 m2 umfassenden Grundstück im Rotbachquartier, das in der Bauzone II liegt, ein 37,55 m ![]() | 7 |
Die Einsprecher beschwerten sich hierüber beim Regierungsrat des Kantons Schwyz. Dieser hat die Beschwerde am 27. Mai 1963 abgewiesen. Er hat dazu ausgeführt:
| 8 |
Vorschriften über Gebäude- und Grenzabstände oder gegen die Belästigung der Umgebung durch Lärm, Rauch usw. schützten neben öffentlichen Interessen auch (oder sogar in erster Linie) die Nachbarn, so dass diese wegen Verletzung derartiger Bestimmungen Beschwerde führen könnten. Ob diese Befugnis auch den bloss mittelbaren Nachbarn zustehe, könne offen bleiben, da mehrere Beschwerdeführer Anstösser seien. Der Gemeinderat von Lachen habe im angefochtenen Beschluss zwar das Baugesuch noch nicht genehmigt, jedoch klar zum Ausdruck gebracht, dass er bei Erteilung der Bewilligung den Einwendungen der Beschwerdeführer keine Folge geben werde. Diese seien daher durch den getroffenen Entscheid endgültig benachteiligt.
| 9 |
Ob die Erstellung des Neubaus das ziemlich uneinheitlich wirkende Rotbachquartier und insbesondere die Nachbargrundstücke beeinträchtigen würde, sei mindestens zweifelhaft. Nicht bestreiten lasse sich dagegen, dass der Neubau die in der Novelle zu Art. 10 BVL vorgeschriebenen Grenzabstände nicht einhalte. Der Gemeinderat ![]() | 10 |
C.- Karl Winet, Otto Flattich, die Firma Rothlin & Co. sowie sechs weitere Grundeigentümer, die gegen das Baugesuch Einsprache erhoben hatten, führen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV mit dem Antrag, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben und dieser sei anzuhalten, das Baugesuch abzuweisen, allenfalls nach Anweisung des Bundesgerichts neu über die Baubewilligung zu befinden.
| 11 |
12 | |
E.- Gemäss Verfügung vom 14. Oktober 1963 ruhte das Verfahren bis zum Entscheid der kantonalen Behörde über die Baubewilligung. Der Gemeinderat von Lachen hat diese am 31. Oktober 1963 unter Vorbehalt der Erledigung der privatrechtlichen Einsprachen und der vorliegenden Beschwerde erteilt.
| 13 |
F.- Eine Instruktionskommission des Bundesgerichts hat den Bauplatz in Augenschein genommen und dabei insbesondere die umstrittenen Grenzabstände festgestellt.
| 14 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
15 | |
16 | |
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Rechtsstellung des Grundeigentümers nicht beeinträchtigt und er ist demgemäss nicht befugt, staatsrechtliche Beschwerde zu führen, wenn der kantonale Entscheid lediglich feststellt, dass dem Bauvorhaben des Nachbars vom polizeilichen Standpunkt aus kein Hindernis im Wege steht und es die zur Anwendung kommenden öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften nicht verletzt. Die Rechtsprechung bringt dabei jedoch einen Vorbehalt an für den Fall, dass der Grundeigentümer durch die einem Nachbar erteilte ![]() | 17 |
Die Vorschriften der BVL über die Abstände und die Bauhöhe gehören dem öffentlichen Recht an. Nach Art. 10 Abs. 1 BVL ist in der Zone II, in der zwei Geschosse ![]() | 18 |
Der Kreis derer, die solcherart durch die einem Dritten erteilte Baubewilligung in ihren eigenen Rechten verletzt sein können, beschränkt sich auf jene Nachbarn, deren Grundstücke im Bereich der Gebäudeabstände liegen, in der Regel also auf die Anstösser. Im vorliegenden Falle grenzen allein die Grundstücke der Beschwerdeführer Flattich und Winet an den Bauplatz. Während Flattich durch die streitige Baubewilligung in seiner Baufreiheit beeinträchtigt sein könnte, trifft das auf Winet (dessen Parzelle lediglich mit einer Ecke an den Bauplatz stösst) von vornherein nicht zu. Die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Baufreiheit zeichnet sich dagegen ausserdem für die Beschwerdeführerin Rothlin & Co. ab. Deren Grundstücke werden zwar durch einen schmalen Streifen der Parzelle 603 (der Erbengemeinschaft Weber) vom Bauplatz getrennt. Weil der Streifen (der gemäss Projekt der Beschwerdegegnerin einen privaten Zubringerweg aufnehmen ![]() | 19 |
Die Beschwerde kann mithin jedenfalls insoweit an Hand genommen werden, als sie von den genannten Beschwerdeführern erhoben worden ist und diese eine verfassungswidrige Anwendung der Grenzabstands- und Höherbauvorschriften sowie in Verbindung damit eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs geltend machen. Hinsichtlich der übrigen Rügen und soweit das Rechtsmittel von den weiteren Beschwerdeführern erhoben worden ist, kann nach der Rechtsprechung auf die Beschwerde nicht eingetreten werden. Auf die Kritik, die an dieser Praxis geübt wird, braucht hier nicht eingegangen zu werden, da eine Prüfung der übrigen Beschwerdepunkte und insbesondere der von den weiteren Beschwerdeführern allein erhobenen Einwendungen sich ohnehin aus Gründen materieller Art erübrigt (vgl. Erw. 5).
| 20 |
3. Der streitige Neubau soll in der Bauzone II errichtet werden, wo grundsätzlich zwei Geschosse zulässig sind und der Grenzabstand seitlich 5 m und rückwärtig 7,5 m ![]() | 21 |
Die am 26. April 1943 erlassene BVL ermächtigt in Art. 22 den Gemeinderat in allgemeiner Weise, "Ausnahmen von den Bestimmungen der Bauverordnung zu bewilligen, sofern besondere Verhältnisse privater oder öffentlicher Natur vorliegen". Die am 26. April 1959 angenommene Ergänzung zu Art. 10 BVL dagegen umschreibt im Besondern, unter welchen Voraussetzungen der Gemeinderat in den Zonen II und III mehr als zwei Geschosse bewilligen darf, nämlich nur, "sofern dadurch das Gesamtbild nicht gestört, bestehende Objekte nicht beeinträchtigt" und Mindestgrenzabstände eingehalten werden, die "seitlich und rückwärtig das 0,6-fache der Gebäudehöhe", wenigstens jedoch seitlich 5 m und rückwärtig 7,5 m betragen. Nach dem Grundsatz, dass die neuere Sonderbestimmung der älteren allgemeinen Vorschrift vorgeht, hat Art. 22 vor der Ergänzung zu Art. 10 BVL zurückzutreten: Soweit der ergänzte Art. 10 anwendbar ist, greift Art. 22 BVL nicht mehr Platz. Dieser Schluss wird durch die Umstände bestätigt. Die Beschwerdeführer weisen zutreffend darauf hin, dass der Gemeinderat vor dem Erlass des ergänzten Art. 10 das Höherbauen gestützt auf Art. 22 BVL gestatten konnte. Diese Möglichkeit musste mithin nicht erst eröffnet werden. Der Sinn der Revision war vielmehr ein anderer. Wenn in der Ergänzung zu Art. 10 BVL hervorgehoben wird, dass der Gemeinderat das Höherbauen bewilligen ![]() | 22 |
Entgegen der Meinung der kantonalen Instanz gilt das auch für den sozialen Wohnungsbau. Die BVL stellt hierüber keine besonderen Bestimmungen auf. Es sind daher die allgemeinen Abstandsvorschriften der BVL anwendbar, die vornehmlich der öffentlichen Gesundheit und damit gerade auch dem Wohl der minderbemittelten Bevölkerung dienen. Die angestrebte Verbilligung des Wohnens darf nicht auf Kosten der Gesundheit der Mieter und ihrer Nachbarn gehen, wie das bei unzureichenden Gebäudeabständen der Fall wäre.
| 23 |
Der Gemeinderat hatte seine Verfügung demnach nicht auf Grund des Art. 22, sondern nach der Ergänzung zu Art. 10 BVL zu treffen. Auf die Rüge, der Regierungsrat habe die Handhabung des dem Gemeinderat in Art. 22 BVL eingeräumten Ermessens zu Unrecht nur auf Willkür hin überprüft und damit den Beschwerdeführern das rechtliche Gehör verweigert, ist deshalb nicht einzugehen. Entscheidend ist, dass der Regierungsrat die Anwendung der ![]() | 24 |
25 | |
Der streitige Neubau soll gemäss den Plänen einschliesslich der 70 cm hohen Mauerbrüstung auf dem Dache 14,63 m hoch werden. Bei der Bestimmung der notwendigen Grenzabstände ist die Höhe eines solchen Dachaufbaues der Gebäudehöhe zuzurechnen, sofern er den Nachbarn in gleicher Weise Sonne und Aussicht entzieht wie der Baukörper des Hauses. Das trifft hier zu: Die Brüstung ist auf der für den Schattenwurf besonders wichtigen Nordfront kompakt und durchgehend. Nach dem ergänzten Art. 10 BVL muss bei einer Gebäudehöhe von 14,63 m seitlich und rückwärtig ein Grenzabstand von drei Fünfteln (0,6) der Höhe, also von rund 8,78 m, eingehalten werden. Die seitlichen Grenzabstände sind zudem laut Art. 11 BVL "bei zusammengebauten Häusern von mehr als 20 m Baufront" um die Hälfte zu vergrössern. Das Bauvorhaben der Beschwerdegegnerin betrifft zwar nicht im eigentlichen Sinne zusammengebaute Häuser; es handelt ![]() | 26 |
Die am Augenschein vorgenommenen, von den Parteien und den Behördevertretern anerkannten Messungen haben ergeben, dass das Bauvorhaben der Beschwerdegegnerin die vorgeschriebenen Grenzabstände weder seitlich noch rückwärtig einhält. Seitlich beträgt der Grenzabstand im Westen (gegenüber der Parzelle Nr. 419 des Beschwerdeführers Flattich) 5,44 bis 6,20 m, im Osten (gegenüber der Parzelle Nr. 603 der Erbengemeinschaft Weber) gar nur 1,50 bis 1,77 m. Wird der Grenzabstand im Osten unter Einbeziehung des für eine Privatstrasse vorgesehenen, nicht überbaubaren Landstreifens der Liegenschaft der Erbengemeinschaft Weber bis zur Grenze der Parzelle Nr. 706 der Beschwerdeführerin Rothlin & Co. gemessen, so beträgt er 6,50 bis 6,70 m, also immer noch weit weniger als der erforderliche seitliche Mindestabstand von 13,17 m. Rückwärtig beträgt der Grenzabstand (gegenüber der Parzelle Nr. 603 der Erbengemeinschaft Weber) 7,37 m statt, wie vorgeschrieben, 8,78 m (was hier allerdings nicht berücksichtigt werden kann, da die durch die Abstandsunterschreitung verletzten Nachbarn nicht Beschwerde erhoben haben).
| 27 |
Die Beschwerdegegnerin sucht die Abstandsunterschreitung im Osten und Norden unter Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass die frühere Eigentümerin der Parzelle Nr. 706 und die Erbengemeinschaft Weber am 7. Juni 1955 ein gegenseitiges, im Grundbuch eingetragenes Näherbaurecht bis auf 2,50 m vereinbart haben, und dass die Erbengemeinschaft Weber ihrerseits der Beschwerdegegnerin am 14. Juli 1962 ein Näherbaurecht ohne Angabe eines Mindestabstandes eingeräumt habe. Mit Bezug auf die Abstandsunterschreitung im Westen beruft sich die ![]() | 28 |
Diese Einwendungen vermögen der Beschwerdegegnerin nicht zu helfen. Nach Art. 13 BVL kann zwar im Einverständnis mit dem Nachbar der Grenzabstand ausnahmsweise auf 3,50 m herabgesetzt werden. Diese Bestimmung greift indes bei der Erteilung einer Ausnahmebewilligung im Sinne des ergänzten Art. 10 BVL nicht Platz. Die darin vorgesehenen Mindestabstände sind im öffentlichen Interesse vorgeschrieben worden; sie sind auch für die Behörde verbindlich, die nach dem in Erw. 3 Gesagten keine Ausnahme davon bewilligen darf. Umso weniger kann es den Beteiligten zustehen, die Vorschrift durch private Vereinbarung ausser Kraft zu setzen. Denkbar wäre es höchstens, dass die Nachbarn sich über eine andere Verteilung des in Art. 10 Abs. 3 BVL umschriebenen Gebäudeabstandes einigen könnten, indem der eine sich verpflichten würde, sein Haus um soviel mehr von der gemeinsamen Grenze abzurücken, dass trotz der Unterschreitung des Grenzabstandes durch den andern der erforderliche Gebäudeabstand gewahrt bleibt. Eine solche Abmachung liegt hier jedoch nicht vor.
| 29 |
Ob Art. 21 neben dem ergänzten Art. 10 anwendbar sei, erscheint aus den Gründen, die auch gegen die Anwendbarkeit des Art. 10 BVL sprechen, als fraglich, braucht hier aber nicht entschieden zu werden. Art. 21 BVL erlaubt dem Bauherrn, den Grenzabstand im selben Masse herabzusetzen wie der Nachbar, dessen bestehendes Gebäude den in Art. 10 vorgeschriebenen Grenzabstand nicht einhält. Der herabgesetzte Grenzabstand darf indes "nicht weniger als die Hälfte der Abstände gemäss Art. 10 betragen". Gemäss Art. 10 in Verbindung mit Art. 11 BVL beläuft sich der Abstand, den der Neubau der Beschwerdegegnerin ![]() | 30 |
31 | |
Die Beschwerdeführer begnügen sich indes nicht damit, die Aufhebung des angefochtenen Entscheids über die Baueinsprachen zu verlangen. Sie beantragen ausserdem, es sei der Regierungsrat anzuweisen, die Baubewilligung, die der Gemeinderat der Beschwerdegegnerin erteilt hat, aufzuheben. Sie berufen sich dabei darauf, dass das Bundesgericht dann, wenn der Verfassungsstreit nicht schon mit der Aufhebung der angefochtenen Verfügung, sondern erst mit der Setzung einer neuen verfassungsmässigen Anordnung beendet ist, der kantonalen Behörde verbindliche Anweisungen über den zu setzenden Akt geben kann (GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes, S. 201 und 245 f.). Das Bundesgericht kann in diesem Sinne eine kantonale Behörde anweisen, eine zu Unrecht verweigerte Polizeierlaubnis, insbesondere eine Baubewilligung, zu erteilen (BGE 87 I 280 Erw. 1 mit Verweisungen). Dieser Fall liegt hier indes nicht vor. Es hat deshalb bei der Aufhebung des angefochtenen Entscheids über die Baueinsprachen sein Bewenden.
| 32 |
33 | |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
| 34 |
35 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |