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34. Urteil vom 7. Juli 1965 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden. | |
Regeste |
Art. 2 Ueb. Best. BV; Art. 321 StGB; Art. 4 BV. |
2. Bevor die Aufsichtsbehörde einen Anwalt vom Berufsgeheimnis entbindet, hat sie ihn anzuhören. |
3. Darf der Anwalt verpflichtet werden, als Zeuge über die Mitteilungen auszusagen, welche ein Klient ihm im Rahmen des Anwaltsverhältnisses machte, sofern der Klient selber das Zeugnis über die betreffenden Tatsachen verweigern kann? | |
Sachverhalt | |
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B.- Die Abs. 1-3 des Art. 90 StPO lauten:
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Die Bluts-, Adoptiv- und Stiefverwandten des Angeschuldigten in auf- und absteigender Linie, sein Ehegatte oder sein Verlobter, seine Seitenverwandten im elterlichen und grosselterlichen Stamm mit Einschluss ihrer Ehegatten können das Zeugnis verweigern.
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Der Zeuge kann die Beantwortung von Fragen verweigern, die ihn selbst oder einen Verwandten im Sinne des vorstehenden Absatzes der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen würde.
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Geistliche, Ärzte, Anwälte und Notare können die Mitteilung von Tatsachen verweigern, die ihnen in ihrer Amts- oder Berufsstellung anvertraut worden sind. Steht ein Verbrechen in Frage, so entscheidet auf Ansuchen des Staatsanwalts der Kantonsgerichtsausschuss in Würdigung aller Verhältnisse, ob Ärzte, Anwälte und Notare Zeugnis abzulegen haben.
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Gestützt auf Art. 90 Abs. 3 Satz 2 StPO ersuchte die Staatsanwaltschaft am 12. März 1965 den Kantonsgerichtsausschuss, Dr. X. vom Anwaltsgeheimnis zu entbinden und ihn zu verpflichten, Zeugnis abzulegen. Der Kantonsgerichtsausschuss hat diesem Gesuch am 16. März 1965 entsprochen, Rechtsanwalt Dr. X. von der Schweigepflicht entbunden und ihn verhalten, über alles auszusagen, was ihm in der Sache anvertraut worden sei. In der Begründung wird ausgeführt, es stehe die Abklärung eines Verbrechens im Sinne von Art. 191 oder 213 StGB ![]() | 6 |
C.- Rechtsanwalt Dr. X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 2 Ueb. Best. BV mit dem Antrag, der Entscheid des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben.
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D.- Der Kantonsgerichtsausschuss und die Staatsanwaltschaft schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Der Beschwerdeführer hält dafür, der Kantonsgerichtsausschuss ![]() | 10 |
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Gemäss Art. 90 Abs. 3 Satz 2 StPO entscheidet der Kantonsgerichtsausschuss, wenn ein Verbrechen in Frage steht, "in Würdigung aller Verhältnisse" darüber, ob der Arzt, Anwalt oder Notar über Tatsachen, die ihm in seiner Amts- oder Berufsstellung anvertraut worden sind, Zeugnis abzulegen habe. Um "alle Verhältnisse" zu würdigen, muss der Kantonsgerichtsausschuss den Gründen, die für, und jenen, die gegen die Zeugnisablegung sprechen, in gleicher Weise Beachtung schenken: er muss die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände gegeneinander abwägen und darüber befinden, ob im betreffenden Falle das Interesse an der Erforschung der Wahrheit im Strafprozess ![]() | 12 |
Die Frage kann jedoch offen bleiben, da diese Pflicht sich jedenfalls aus den unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs (vgl. BGE 87 I 339 mit Verweisungen, BGE 89 I 356 Erw. 2) ergibt. Die Aufhebung der Geheimhaltungspflicht des Arztes, Anwalts oder Notars bedeutet einen Eingriff in die Geheimsphäre, also in höchstpersönliche Rechte (BLASS, Die Berufsgeheimhaltungspflicht der Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte, S. 71 ff.; SCHAFFNER, L'autorisation de révéler un secret professionnel S. 20, 21, 64; SIEBEN, Das Berufsgeheimnis auf Grund des eidgenössischen Strafgesetzbuches, S. 45). Wenn ein solcher Eingriff in Frage steht, muss der Betroffene oder sein Vertreter in allen Verfahrensarten - in einem Inzidenzverfahren im Strafprozess so gut wie im Verwaltungsverfahren (BGE 87 I 339 mit Verweisungen) - angehört werden.
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Die Einwendungen, die der Kantonsgerichtsausschuss in der Vernehmlassung dagegen erhebt, sind unbehelflich. Die kantonale Instanz übersieht, dass der Anwalt seinen Standpunkt gegenüber dem Offenbarungsgesuch der Staatsanwaltschaft vertreten kann, ohne die Mitteilungen preisgeben zu müssen, die ihm sein Klient anvertraut hat. Die Anhörung des Anwalts steht damit nicht im Widerspruch zu seiner Geheimhaltungspflicht; sie setzt denn auch nicht voraus, dass der Klient den Anwalt zuvor vom Berufsgeheimnis entbunden habe. Unverständlich ist auch, inwiefern die Anhörung des Beschwerdeführers die Gefahr schaffe, dass die angeschuldigten Brüder B. die Spuren der Tat verwischen könnten. Bevor die Staatsanwaltschaft am 12. März 1965 ihr Offenbarungsgesuch stellte, waren sowohl die beiden Brüder als auch deren Schwester ![]() | 14 |
Hat der Kantonsgerichtsausschuss dem Beschwerdeführer entgegen Art. 4 BV keine Gelegenheit zur Beantwortung des Gesuches der Staatsanwaltschaft eingeräumt, so hat er ihm das rechtliche Gehör verweigert. Der angefochtene Entscheid ist schon wegen dieses formellen Mangels aufzuheben.
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Um den Anforderungen des Art. 90 Abs. 3 Satz 2 StPO zu entsprechen, hätte der Kantonsgerichtsausschuss sich deshalb nicht damit begnügen dürfen, auf die Bedürfnisse der Wahrheitserforschung im Strafprozess abzustellen; er hätte sich auch mit den Interessen befassen müssen, die auf Seiten des Beschwerdeführers und seiner Klientin auf dem Spiele stehen. In dieser Hinsicht fällt in Betracht, dass der Anwalt zur richtigen Ausübung seines Berufs und zur Erfüllung der Aufgaben, die ihm das Prozessrecht im Rechtsstaate zuerkennt, auf das unbedingte Vertrauen seines Klienten zählen können muss. Das aber setzt voraus, dass der Klient seinerseits voll auf die ![]() | 17 |
Unter den obwaltenden Umständen fällt zudem in Betracht, dass Art. 90 Abs. 1 und 2 StPO der Klientin des Beschwerdeführers das Recht einräumt, das Zeugnis darüber zu verweigern, ob ihre Brüder sich geschlechtlich an ihr vergangen haben. Sie hat von diesem Recht Gebrauch gemacht. Würde der Beschwerdeführer gezwungen, als Zeuge darüber auszusagen, was seine Klientin ihm über diesen Sachverhalt anvertraut hat, dann liefe das auf eine Umgehung ihres Zeugnisverweigerungsrechts hinaus, indem das, was sie ihrem Anwalt im Vaterschaftsprozess im Vertrauen auf dessen Verschiegenheit offenbart hat und was sie als Zeugin im Strafverfahren nicht preisgeben wollte, nun durch den Mund des Anwalts den Untersuchungsbehörden zur Kenntnis gebracht werden müsste. Darüber hinaus sähe sich die Klientin in ihrem Vertrauen auf die Schweigepflicht des Anwalts zutiefst getäuscht. Nicht minder schwer wären die allgemeinen Auswirkungen eines solchen Entscheids: Würde der Anwalt gezwungen, selbst jene ihm anvertrauten Tatsachen preiszugeben, mit Bezug auf welche dem Klienten ein uneingeschränktes Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, dann könnte der Anwalt nicht mehr auf das für ihn notwendige Vertrauen der Klienten zählen. Die Erfüllung der Aufgaben des Anwaltes im Dienste der Rechtspflege wäre damit in Frage gestellt. Die Erschwerung der Wahrheitserforschung im Strafprozess, welche die Aufrechterhaltung des Anwaltsgeheimnisses mit sich bringt, muss demgegenüber unter den obwaltenden Umständen als das kleinere Übel in Kauf genommen werden. Von einem eigentlichen Beweisnotstand ![]() | 18 |
Indem der Kantonsgerichtsausschuss diese Verhältnisse überging und sich bei der ihm nach Art. 90 Abs. 3 Satz 2 obliegenden Interessenabwägung über einen in Abs. 1 und 2 der nämlichen Bestimmung enthaltenen Grundsatz hinwegsetzte, hat er einen Widerspruch in das Gesetz hineingetragen und schwer gegen dessen Sinn und Geist verstossen. Sein Entscheid ist deshalb nicht nur unrichtig, sondern darüber hinaus willkürlich. Der Vorwurf der Verletzung des Art. 4 BV ist damit auch in materieller Hinsicht begründet.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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