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6. Auszug aus dem Urteil vom 22. Januar 1969 i.S. Gemeinde St. Moritz gegen N. Hartmann & Cie AG und Grosser Rat des Kantons Graubünden. | |
Regeste |
Gemeindeautonomie. |
Die angefochtene Auslegung von Art. 32 der St. Moritzer Bauordnung durch den bündnerischen Grossen Rat hält dem Vorwurf der Willkür stand (Erw. 4). | |
Sachverhalt | |
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A.- Die Firma Nicolaus Hartmann & Cie AG unterhält seit Jahren im Gebiet "PLAUN SECH", St. Moritz, eine Kiesgrube mit Kiesaufbereitungsanlage. Im Januar 1967 ersuchte sie den Gemeindevorstand von St. Moritz, ihr im genannten Gebiet den Bau einer ständigen Betonaufbereitungsanlage zu bewilligen. Gemäss Projekt würde diese aus Kies- und Sandlagern, einem Schrapperkran, einer 3,5 m hohen Mischanlage sowie zwei Zementsilos von je 8,5 m Höhe bestehen.
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Der Gemeindevorstand von St. Moritz wies die gegen das Bauvorhaben eingereichten Einsprachen ab und erteilte die Baubewilligung, wobei er u.a. verfügte:
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3.- Erneuerungen, Erweiterungen oder Vergrösserungen der eingereichten Anlage bedürfen einer neuen Bewilligung durch die Gemeindebehörde.
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6.- Entlang der Via Surpunt ist in ordentlichem Abstand vom Strassenrand als Immissionsschutz eine dichte, hochwüchsige Baum- oder Staudenreihe anzupflanzen.
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7.- Die Betriebszeiten der Anlage unterliegen Abs. 1 der Verfügung des Gememdevorstandes vom 12. Mai 1965 betreffend Lärmbekämpfung auf dem Bausektor (siehe Beilage, diese bildet einen integrierenden Bestandteil der Baubewilligung). Ausnahmebewilligungen sind frühzeitig beim Gemeindevorstand einzuholen.
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Der Gemeindevorstand behält sich vor, im Interesse der Öffentlichkeit und zum Schutze der benachbarten Wohnsiedlung gegebenenfalls weitere Vorschriften zu verfügen."
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Auf Rekurs privater Einsprecher hin hob der Gemeinderat von St. Moritz (als oberste Gemeinderekursbehörde) die vom Gemeindevorstand erteilte Baubewilligung wieder auf. Er berief sich auf Art. 32 der Gemeindebauordnung (BO) und führte aus, die zentral geplante Anlage lasse eine besonders starke Zunahme des Schwerverkehrs im fraglichen Gebiet erwarten; diese könne den Anwohnern, den Kur- und Badegästen sowie den zukünftigen Benützern des im Entstehen begriffenen Höhensportzentrums nicht zugemutet werden. Zudem sei die Staubentwicklung der Anlage selber gesundheitsschädlich und auch deshalb nicht duldbar.
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B.- Die Firma Hartmann & Cie AG beschwerte sich gegen den Entscheid des Gemeinderates beim Kleinen Rat des Kantons Graubünden. Dieser hiess ihre Beschwerde gut und stellte den Entscheid des Gemeindevorstandes wieder her. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, der Zonenplan der Gemeinde St. Moritz kenne weder eine Gewerbe- noch eine Industriezone; Industrieanlagen müssten deshalb auch in Wohnzonen zugelassen werden. Das Grundstück der Rekurrentin eigne sich wie kein anderes für die geplante Anlage. Es sei ausgesprochen exzentrisch gelegen und als Kiesgrube für Wohnbauten unverwendbar. Das in der Nähe befindliche Wohnquartier sei in Kenntnis dieser Nachbarschaft und vor ![]() | 10 |
C.- Gegen den Entscheid des Kleinen Rates reichte die Gemeinde St. Moritz beim Grossen Rat des Kantons Graubünden eine Beschwerde ein. Sie machte geltend, die Erteilung oder Verweigerung einer Baubewilligung sei weitgehend Ermessensfrage und daher der Überprüfung durch den Kleinen Rat entzogen. Der Kleine Rat verkenne die Bedeutung von Art. 32 BO, wenn er den Hinweis auf den zu erwartenden Schwerverkehr als unzulässig betrachte. Aber auch von der Anlage selber würden erhebliche Auswirkungen ausgehen, die gemäss einem vom Ärztlichen Bezirksverein Thun erstatteten Gutachten die Gesundheit der Menschen gefährde, die in der Umgebung wohnen. Die zu erwartende Luftverschmutzung zu verhindern, gehöre zu den wichtigsten Aufgaben eines Kurortes.
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Der Grosse Rat wies die Beschwerde der Gemeinde St. Moritz ab, wobei er die Begründung des Kleinen Rates bestätigte.
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D.- Die Gemeinde St. Moritz, vertreten durch den Gemeinderat, ficht den Entscheid des Grossen Rates mit staatsrechtlicher Beschwerde an. Sie beantragt, den grossrätlichen Entscheid aufzuheben sowie den Grossen Rat anzuweisen, dass er ![]() | 13 |
E. - Die Firma Nicolaus Hartmann & Cie AG stellt den Antrag, auf die Beschwerde nicht einzutreten, evt. sie abzuweisen. Der Grosse Rat des Kantons Graubünden hat sich nicht vernehmen lassen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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b) Indessen sind Beschwerden der vorliegenden Art ausschliesslich kassatorischer Natur. Soweit die Beschwerdeführerin mehr verlangt, als die Aufhebung des grossrätlichen Entscheides, ist auf ihre Begehren deshalb nicht einzutreten.
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Die Beschwerdeführerin rügt u.a. als Verletzung ihrer Autonomie, der Grosse Rat habe die BO von St. Moritz willkürlich (anders als der Gemeinderat) angewandt. Ein solcher Vorwurf setzt voraus - und die Beschwerdeführerin verlangt es denn auch ausdrücklich -, dass die erwähnte neue Rechtsprechung auf den Bereich der kommunalen Verwaltungstätigkeit ausgedehnt wird. Das Bundesgericht hat diese Frage in BGE 94 I 63 ff. offengelassen. Sie ist nunmehr zu entscheiden.
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a) Wie das Bundesgericht schon in BGE 94 I 65 angedeutet hat, geniesst die Gemeinde bezüglich ihrer Autonomie auch nach der neuen Praxis noch einen unvollkommenen Rechtsschutz. Zwar kann sie sich gegen willkürliche Eingriffe kantonaler Behörden in die Rechtsetzungsbefugnis selbst dann mit Erfolg wehren, wenn jene Behörden im Bereich ihrer Zuständigkeit geblieben sind. Geht es dagegen um die Anwendung des von ihr im Rahmen ihrer Autonomie gesetzten Rechtes, dann muss die Gemeinde hilflos zusehen, wie eine kantonale Behörde, die zwar im Bereich ihrer Zuständigkeit bleibt, dieses Recht willkürlich missachtet. Erfolgreich zur Wehr setzen kann sich die Gemeinde in diesem Fall nur, sofern die kantonale Instanz ihre Zuständigkeit überschritten hat. Bei der Genehmigung einer autonomen Satzung ist also die zuständige kantonale Behörde ![]() | 20 |
b) Zeigt es sich, dass der Grosse Rat des Kantons Graubünden im Bereich seiner Zuständigkeit blieb, dann ist die vorliegende Autonomiebeschwerde mithin nicht schon aus diesem Grunde abzuweisen. Vielmehr hat das Bundesgericht auch zu prüfen, ob der Grosse Rat die St. Moritzer BO willkürlich ausgelegt und angewandt habe.
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4. a) Wie die Frage nach dem Bestand, so ist auch diejenige nach dem Umfang der Gemeindeautonomie aufgrund des betreffenden kantonalen Rechts zu beantworten. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesgericht erkannt, dass der Bündner Gemeinde in der Rechtsetzung auf dem Gebiete des öffentlichen Baurechts eine verhältnismässig grosse Freiheit zukomme ![]() | 22 |
"Mit dem Rekurs kann geltend gemacht werden, dass der angefochtene Erlass, die Verfügung oder der Entscheid dem materiellen Recht des Bundes, des Kantons oder der betreffenden Körperschaft oder Anstalt widerspreche, auf einer Überschreitung des pflichtgemässen Ermessens beruhe, unter Verletzung allgemeiner wesentlicher Grundsätze oder Vorschriften des Verfahrens zustande gekommen sei oder eine ungültige Vorschrift der Korporation zur Grundlage habe."
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Ohne jede Willkür darf aus Art. 4 VVV geschlossen werden, dass die kantonalen Rekursinstanzen das Gemeinderecht frei auf die richtige Anwendung hin zu prüfen haben (vgl. BGE 94 I 65 oben), dass sie dagegen in ihrer Kognition beschränkt sind, wenn es sich um die Kontrolle der Ermessensbetätigung handelt; diesbezüglich können sie nur bei Ermessensüberschreitung oder -missbrauch eingreifen. Eine Verletzung der Gemeindeautonomie liegt demnach nur vor, sofern die genannten Behörden diesen Rahmen verlassen oder aber die ihnen zustehende Kontrolle willkürlich handhaben.
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b) Gegen den so umschriebenen Umfang der grossrätlichen Prüfungsbefugnis hat die Beschwerdeführerin an sich nichts einzuwenden. Strittig ist jedoch, ob sich der Grosse Rat an diesen Rahmen seiner Prüfungsbefugnis gehalten hat. Die Beschwerdeführerin hält dafür, es sei eine Ermessensfrage, ob die umstrittene Betonaufbereitungsanlage ein "Betrieb mit starker Staubentwicklung" im Sinne von Art. 32 BO sei; der Grosse Rat erblickt darin eine Rechtsfrage.
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Zwar spricht der Grosse Rat am Schluss seines Entscheides davon, der Gemeinderat habe sein "pflichtgemässes Ermessen" überschritten. Wie jedoch den vorangehenden Erwägungen des grossrätlichen Entscheides zu entnehmen ist, legte die kantonale Instanz die Rechtsätze des Art. 32 BO in der Tat durchwegs ![]() | 26 |
Wer den Sinn eines solchen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffes zu finden hat, betätigt nach herrschender Auffassung kein Ermessen, sondern beantwortet eine Rechtsfrage (vgl. BGE 91 I 75, BGE 94 I 135). Wohl sind diese Ausdrücke im einzelnen Fall näher zu bestimmen und auf den entsprechenden Sachverhalt anzuwenden. Sie lassen aber keine Wahl zwischen zwei oder mehreren gleichwertigen Lösungen. Richtig ist stets nur eine einzige Auslegung. Diese hat diejenige Behörde zu suchen, die einen gesetzlichen Erlass anzuwenden hat.
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Wenn der Gemeinderat von St. Moritz dafür hielt, die geplante Betonaufbereitungsanlage der Beschwerdegegnerin habe eine starke Staubentwicklung im Sinne von Art. 32 lit. b BO zur Folge, dann hat er mithin kein Ermessen betätigt, sondern den erwähnten unbestimmten Rechtsbegriff ausgelegt und auf den konkreten Sachverhalt angewandt. Dadurch, dass der Grosse Rat auch diese Rechtsanwendung frei prüfte, hat er seine Zuständigkeit nicht überschritten und somit jedenfalls in diesem Punkte die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht verletzt.
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"e) Sanitäre Vorschriften
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Art. 32
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a) Gewerbe, deren Einrichtungen und Betriebe Erscheinungen zur Folge haben, welche auf Gesundheit von Menschen und Tieren der Nachbarschaft schädlich wirken, sind untersagt.
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b) Insbesondere sind in bebauten Quartieren des Kurortes untersagt: Einrichtungen und gewerbliche Betriebe, die üble Ausdünstungen, starke Rauch- und Staubentwicklung oder starken Lärm, Geräusche und Erschütterungen des Bodens verursachen oder sonstwie dem Kurort, dem Gedeihen desselben und der Nachbarschaft erheblichen Schaden bringen können..."
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Nach Ansicht der Beschwerdeführerin hat der Grosse Rat den Art. 32 BO willkürlich ausgelegt. Zwar ist in dieser Rüge auch ![]() | 34 |
a) Der Grosse Rat vertritt die Ansicht, eine unzumutbare Immission der geplanten Betonaufbereitungsanlage auf die unmittelbare Nachbarschaft sei nicht zu erwarten. Diese optimistische Voraussage stützt die kantonale Instanz im wesentlichen auf die Tatsache, dass die Baubewilligung des Gemeindevorstandes zahlreiche Auflagen enthält. Danach dürfen u.a. nur geräuscharme Elektromotoren verwendet werden. Die ganze Anlage ist ausserdem in weitmöglichster Entfernung vom benachbarten Wohngebiet zu errichten und zur Verhütung von Staubaustritten fest zu umbauen. Die Betriebszeiten sind beschränkt. Für den Fall, dass die bereits getroffenen Massnahmen nicht genügen sollten, werden schliesslich weitere Auflagen ausdrücklich vorbehalten. Die Auffassung der kantonalen Instanz, ein Verbot der Anlage sei nicht zulässig, hält unter solchen Umständen der Willkürrüge stand. Sie ist insbesondere auch deshalb nicht abwegig, weil sie dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit ausreichend Rechnung trägt und zudem berücksichtigt, dass die Bauordnung der Gemeinde St. Moritz keine Gewerbe- oder Industriezone kennt.
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Die Beschwerdeführerin hat sich im Verfahren vor dem Grossen Rat auf ein Gutachten berufen, das der Ärztliche Bezirksverein Thun seinerzeit über ein im Zentrum dieser Ortschaft geplantes Betonwerk erstattet hat. Dass der Grosse Rat diesem Gutachten keine wesentliche Bedeutung beimass, verletzt Art. 4 BV ebenfalls nicht. In der Tat enthält jene Ansichtsäusserung Feststellungen allgemeiner Art, sie ist nicht auf den vorliegenden Fall zugeschnitten.
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b) Der Grosse Rat weicht noch in einer andern Richtung von der Auslegung ab, die der Gemeinderat von St. Moritz dem Art. 32 BO gegeben hat. Die kantonale Instanz nimmt nämlich an, Immissionen im Sinne jener Bestimmung (insbesondere deren lit. b) seien nur diejenigen, die von der zu erstellenden Anlage selber ausgingen. Hingegen beziehe sich Art. 32 BO ![]() | 37 |
Man könnte sich bei freier Prüfung fragen, ob diese Auslegung richtig sei. Der möglicherweise zu erwartende starke Verkehrslärm in der unmittelbaren Umgebung der Anlage kann die Gesundheit und das Wohlbefinden der Anwohner ebenso beeinträchtigen wie allfällige Immissionen, die von der Baute selber ausgehen. Es ist nicht recht einzusehen, inwiefern eine Berücksichtigung auch dieser notwendigen Folgen des geplanten Betriebes dem Sinn des Schutzes widersprechen könnte, den der Art. 32 gewähren will (vgl. BGE 91 I 421). Indessen hat das Bundesgericht nur zu prüfen, ob die Auslegung der kantonalen Instanz sich nicht auf ernsthafte und sachliche Gründe stützen lässt, sinn- und zwecklos ist oder Unterscheidungen trifft, die schlechthin unvernünftig sind. Die Voraussetzungen der Willkür sind auch hier nicht erfüllt. Der Wortlaut von Art. 32 BO bezieht sich in erster Linie auf die geplante Anlage selber. Nach der Praxis ist aber eine dem Wortlaut entsprechende Auslegung nur willkürlich, wenn sie dem Sinn und Zweck der Vorschrift offensichtlich widerspricht und zu einem vom Gesetzgeber unmöglich gewollten Ergebnis führt (BGE 89 I 72 E. 4 mit Hinweisen). Dass dies im vorliegenden Falle zutreffe, ist nicht nachgewiesen. Auch die Beschwerdeführerin vermag nicht darzutun, selber je dem Art. 32 BO jene Bedeutung gegeben zu haben, die sie ihm hier zuerkennen will. Von Willkür kann daher in diesem Punkte ebenfalls nicht die Rede sein.
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Hält indessen der angefochtene Entscheid nach dem Gesagten auch einer materiellen Prüfung stand, dann hat der Grosse Rat des Kantons Graubünden die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht verletzt.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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