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95. Auszug aus dem Urteil vom 22. September 1971 i.S. Müller und Konsorten gegen Weber, Stadtrat Zürich und Regierungsrat des Kantons Zürich. | |
Regeste |
Stimmrecht; Gemeinderatswahlen im Wahlkreis Zürich 8. |
1. Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts (Erw. 3). |
2. Einfluss der behaupteten Unregelmässigkeiten auf das Wahlergebnis (Erw. 4). |
3. Verfahren, in dem die notwendig werdende Ersatzwahl durchzuführen ist (Erw. 5). | |
Sachverhalt | |
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A.- Am 7./8. März 1970 fand in der Stadt Zürich die Erneuerungswahl des Gemeinderates statt. Diese Wahl erfolgt entsprechend der Wahl des Zürcher Kantonsrates nach Kreisen im Verhältniswahlverfahren. Im Wahlkreis Zürich 8, der 7 Mitglieder in den Gemeinderat abordnet, stellten sich auf der Sozialdemokratischen, Gewerkschaftlichen und Angestelltenliste (Liste 5) 7 Kandidaten zur Wahl. Zwei davon wurden als ![]() | 2 |
B.- Heidi Weber, die selbst auf Liste 5 des Wahlkreises Zürich 8 kandidiert hatte, erhob am 26. März 1970 beim Bezirksrat Zürich Einsprache gegen die Wahl von Hans Müller und Otto Weber. Sie machte geltend, die beiden Gewählten seien vor der Wahl in der Alterssiedlung Riesbach erschienen und hätten bei den Insassen Stimmzettel eingezogen, die sie nachher selbst ausgefüllt und selbst sowie durch Mittelsmänner zur Urne gebracht hätten. In einer persönlichen Befragung durch den Zürcher Stadtpräsidenten anerkannten Hans Müller und Otto Weber, in der Alterssiedlung Riesbach ca. 20 bis 22 Stimmrechtsausweise mit Wahlmaterial eingesammelt und über Mittelsmänner zur Urne gebracht zu haben. Der Wille der Stimmberechtigten sei dabei aber respektiert worden. Eine Delegation des Bezirksrates befragte am 3. April 1970 67 der insgesamt 88 Insassen, welche die Alterssiedlung am 7./8. März 1970 gezählt hatte. 21 Insassen, alles Schweizerbürger, konnten wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht erreicht werden. Von den befragten 67 Insassen waren 4 Ausländer. 13 der Befragten erklärten, sie hätten ihre Stimmrechtsausweise mit einer Stadtratsliste und einer Gemeinderatsliste einer Gruppe von Besuchern ausgehändigt, zu der auch Hans Müller und Otto Weber gehörten. Die übrigen 50 Insassen, die befragt wurden, hatten ihr Stimmrecht persönlich ausgeübt oder auf den Gang zur Urne verzichtet, ohne den Stimmrechtsausweis Dritten zu übergeben. Hieraus schloss der Bezirksrat, von insgesamt höchstens 34 Stimmrechtsausweisen könne nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden, ob sie den Willen des Stimmberechtigten unverfälscht zum Ausdruck gebracht hätten. Es lasse sich rechnerisch einwandfrei ausschliessen, dass dadurch das Wahlergebnis hätte beeinflusst werden können. Der Bezirksrat wies die Einsprache Heidi Webers ab.
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C.- Gegen den Entscheid des Bezirksrates Zürich rekurrierte Heidi Weber an den Regierungsrat des Kantons Zürich. Der Regierungsrat liess sämtliche veränderten Wahlzettel für die Gemeinderatswahlen im Wahlkreis Zürich 8 kontrollieren. Dabei wurde festgestellt, dass verschiedene Zettel der Liste 5 ![]() | 4 |
Der Regierungsrat stellte fest, die Gesamtzahl der Wahlzettel, die Otto Weber von alten und kranken Stimmberechtigten ausserhalb der Alterssiedlung Riesbach erhalten habe, und die von ihm oder Dritten möglicherweise ohne Erlaubnis modifiziert wurden, könne nicht eindeutig festgestellt werden. Auch könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass neben den von Otto Weber geänderten noch weitere Wahlzettel durch Drittpersonen unerlaubterweise modifiziert worden seien. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei hingegen anzunehmen, dass diese Manipulationen keine Verschiebung in der Verteilung der Gemeinderatsmandate des Wahlkreises Zürich 8 unter die verschiedenen Parteien bewirkt hätten. Die von Otto Weber oder anderen Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei allenfalls unzulässigerweise angebrachten Modifikationen hätten höchstens zu Änderungen in der Reihenfolge der gewählten und nichtgewählten Kandidaten von Liste 5 führen können.
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Auf Grund dieser Feststellungen beschloss der Regierungsrat am 14. Januar 1971:
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"I. Der Rekurs von Frau Heidi Weber, in Zürich, gegen den Entscheid des Bezirksrates Zürich vom 3. April 1970 betreffend Gültigkeit der Gemeinderatswahlen im Wahlkreis Zürich 8 wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass die Wahl der Kandidaten Hans Müller und Otto Weber (beide Liste 5) zu Mitgliedern des Gemeinderates der Stadt Zürich als ungültig erklärt wird.
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II. Der Stadtrat Zürich wird eingeladen, die Ergänzungswahl von zwei Mitgliedern des Gemeinderates im Wahlkreis Zürich 8 anzuordnen.
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...".
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D.- Gegen den Entscheid des Regierungsrates führen ![]() | 10 |
Zur Begründung machen sie im wesentlichen geltend, die Wahlaktion in der Alterssiedlung Riesbach und das Vorgehen hinsichtlich der anderswo eingesammelten Wahlzettel könne weder als gesetzwidrig noch als sonst unkorrekt gelten. Die Anordnung einer Ergänzungswahl nach § 105 WahIG sei offensichtlich rechtsverletzend, wenn nicht sogar willkürlich. Eine Ergänzungswahl in diesem Verfahren müsste den Volkswillen verfälschen und die vom Gesetz angestrebte proportionale Mandatsverteilung unter die Parteien beeinträchtigen. Dass der Liste 5 rechtmässig zwei Mandate zufielen, könne nicht mehr in Frage gestellt werden. Ungewiss sei höchstens, welche der auf Liste 5 aufgeführten Kandidaten als gewählt erklärt werden könnten. Um diese Ungewissheit zu beseitigen, sei einzig erforderlich, in einer neuen Wahl hinsichtlich zweier Gemeinderatssitze des Wahlkreises Zürich 8 die unveränderte ursprüngliche Liste 5 für sich allein nochmals zur Abstimmung zu bringen.
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E.- Der Regierungsrat des Kantons Zürich und Heidi Weber beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Heidi Weber beantragt ausserdem eventuell, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben, weil er nicht die gesamte Gemeinderatswahl im Wahlkreis Zürich 8 ungültig erklärt und ihre Wiederholung angeordnet habe.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Das politische Stimmrecht ist ein vom Bundesrecht gewährleistetes verfassungsmässiges Recht. Es gibt dem Einzelnen unter anderem Anspruch darauf, dass kein Wahl- oder Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Wählerschaft zuverlässig und unverfälscht zum ![]() | 13 |
4. Nach § 39 des zürch. Gesetzes über die Wahlen und Abstimmungen vom 4. Dezember 1955 (WahIG) dürfen Stimmberechtigte, die das sechzigste Altersjahr zurückgelegt haben, sowie Invalide und Kranke, die einen Ausweis darüber erbringen, dass sie am Gang zur Urne verhindert sind, ihren Stimmzettel durch einen anderen Stimmberechtigten zur Urne bringen lassen. Niemand darf zur gleichen Sache mehr als zwei Stimmzettel einlegen. Diese Bestimmungen zählen zu den Verfahrensvorschriften, die eng mit dem Stimmrecht selbst, mit dessen Inhalt und Umfang, zusammenhangen und deren Auslegung deshalb vom Bundesgericht frei überprüft wird. § 39 WahIG bezeichnet die für alte, invalide und kranke Stimmberechtigte vorgesehene Erleichterung bei der Stimmabgabe als Stellvertretung. Dies ist missverständlich. Der Überbringer des Stimm- oder Wahlzettels eines alten, invaliden oder kranken Stimmberechtigten darf den ihm übergebenen Zettel weder eigenmächtig abändern noch durch einen anderen Zettel ersetzen. Er hat, wie die Beschwerdeführer anerkennen, einzig die Funktion eines Boten. Die Gefahr, dass er seine Befugnisse überschreitet, scheint in der Regel gering, weil der alte, invalide oder kranke Stimmberechtigte, der von der Erleichterung Gebrauch machen will, seinen Stimm- oder Wahlzettel gewöhnlich einer ihm bekannten Person übergibt, von der er annimmt, sie werde das ihr bekundete Vertrauen nicht missbrauchen. Anders verhält es sich jedoch, wenn eine oder mehrere Personen, ![]() | 14 |
Damit steht fest, dass im Wahlkreis Zürich 8 bei der Erneuerungswahl des Gemeinderates Unregelmässigkeiten vorgekommen sind, die je nach ihrem Ausmasse zur Ungültigerklärung der Wahl in diesem Wahlkreis führen können. Den Behauptungen von Hans Müller und Otto Weber, sie hätten auf den eingesammelten Wahlzetteln keine unzulässigen Änderungen angebracht, kommt umso weniger Gewicht zu, als Wahlzettel ja zur Abgabe an Drittpersonen verteilt wurden, die ihrerseits darauf unzulässige Änderungen anbringen konnten. Die Möglichkeit unzulässiger Praktiken lässt sich im vorliegenden Falle, wie der Regierungsrat richtig erkannt hat, somit nicht ausschliessen.
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Die Vorinstanz hat zutreffend festgestellt, dass die in Frage stehenden Unregelmässigkeiten jedenfalls ohne Einfluss auf die Verteilung der Gemeinderatsmandate unter die verschiedenen ![]() | 16 |
Hans Müller: 1993-70= 1923
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Otto Weber: 1879-70= 1809
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Alfred Hauffe: 1719+70= 1789
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Paul Sprecher: 1658+70= 1728
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Es könnte also ausgeschlossen werden, dass die fraglichen Unregelmässigkeiten Einfluss auf die Reihenfolge der vier genannten Kandidaten von Liste 5 haben konnten.
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Nun steht aber nicht fest, dass die Gesamtzahl der eingesammelten Wahlzettel, die möglicherweise unrechtmässig modifiziert worden sind, nicht wesentlich über 35 liegt. Otto Weber sagte in seiner Befragung vom 21. August 1970 aus, nach seiner Erinnerung hätten er und seine Frau insgesamt höchstens zwölf Wahlzettel von Stimmberechtigten ausserhalb der Alterssiedlung Riesbach erhalten. An die genaue Zahl erinnerte er sich aber offenbar nicht mehr. Auch konnte er von einigen der ihm vorgelegten verdächtigen Wahlzettel nicht sagen, ob er sie selbst abgeändert habe. Die Gesamtzahl der eingesammelten und über Vertrauensleute zur Urne gebrachten Wahlzettel steht somit ebensowenig fest wie die Höchstzahl allenfalls vorgekommener unzulässiger Manipulationen und kann auch entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer nicht mehr ermittelt werden.
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Auf Liste 5 des Wahlkreises Zürich 8 entfielen bei der Verteilung zwei der insgesamt sieben Sitze des Wahlkreises. Wie bereits erwähnt, darf ausgeschlossen werden, dass die hier in ![]() | 25 |
Über das Verfahren, in dem die damit notwendig werdende Ersatzwahl durchzuführen ist, enthält das zürcherische Wahlgesetz keine Vorschrift. Scheidet während der Amtsdauer ein Ratsmitglied aus, so erklärt nach § 104 WahIG der Regierungsrat an seiner Stelle denjenigen als gewählt, der unter den Nichtgewählten der gleichen Liste am meisten Stimmen erzielt hatte. Enthält die betreffende Liste keine nichtgewählten Kandidaten mehr, so findet nach § 105 WahIG eine Ersatzwahl statt, bei der das relative Mehr entscheidet. Die Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl werden als gewählt erklärt. Der Regierungsrat ist der Ansicht, § 105 WahIG sei sinngemäss auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Wie die Beschwerdeführer zutreffend erklären, beschränkt sich eine Nachwahl nach § 105 WahIG nicht auf Kandidaten der Partei, deren Liste erschöpft ist. An ihr können sich im Gegenteil Kandidaten beliebig vieler Parteien und Gruppierungen beteiligen, was gegenüber der Gesamterneuerungswahl zu Sitzverschiebungen führen kann. Würden die Ersatzwahlen im vorliegenden Falle im Verfahren nach § 105 WahIG durchgeführt, so wäre angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen den Parteien im Wahlkreis Zürich 8 auch tatsächlich mit Sitzverschiebungen zu rechnen. Nun bildet aber die hier notwendige Ersatzwahl Teil der Gesamterneuerungswahl des Zürcher Gemeinderates. Diese Wahl war schon nach § 32 Abs. 3 des Gesetzes betreffend die Zuteilung der Gemeinden Aussersihl, ... an die Stadt Zürich ... vom 9. August 1891 in der Fassung vom 23. April 1933 wie heute nach Art. 23 Abs. 2 der Gemeindeordnung ![]() | 26 |
Ungültig erklärt wurden die Resultate, welche die Kandidaten von Liste 5 des Wahlkreises Zürich 8 erzielt haben und damit auch die Wahl von Hans Müller und Otto Weber. Die Liste als solche jedoch ist nicht ungültig. Nach § 94 Abs. 3 WahIG darf eine bereinigte Liste nicht mehr geändert werden. Muss eine Wahl, welche im Verhältniswahlverfahren durchgeführt wird, als Ganzes ungültig erklärt und wiederholt werden, so nehmen an der Wiederholung dieselben Listen mit denselben Kandidaten teil wie am ungültig erklärten Wahlgang. Es scheint richtig, im vorliegenden Falle, wo lediglich die Resultate der Kandidaten von Liste 5 ungültig erklärt werden, in Anlehnung hieran die Ersatzwahl im Wahlkreis Zürich 8 auf die auf Liste 5 aufgeführten Kandidaten zu beschränken. Damit wird am besten der im Proporzverfahren geäusserte Volkswille respektiert, welcher der Liste 5 zwei Gemeinderatssitze zuerkennt. Zur Wahl, bei der das relative Mehr entscheidet, können aus praktischen Gründen nicht blossjene Wähler zugelassen werden, die beim Wahlgang vom 7./8. März 1970 ihre Stimme für Kandidaten der Liste 5 abgegeben haben; zuzulassen sind im Gegenteil alle Stimmberechtigten des Wahlkreises Zürich 8. Dass bei dieser Lösung eine Mehrheit von nichtsozialdemokratischen Wählern diejenigen unter den sieben Kandidaten von Liste 5 bestimmen kann, welche die auf diese Liste entfallenden Gemeinderatssitze einnehmen dürfen, mag auf den ersten Blick unbefriedigend scheinen. Dieser Nachteil wiegt jedoch leicht gegenüber den Nachteilen aller anderen denkbaren Lösungen. Er ist der Preis für die "Wahlaktion".
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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