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116. Auszug aus dem Urteil vom 15. Dezember 1971 i.S. Gerber und Wimmer gegen Einwohnergemeinde Muri und Verwaltungsgericht des Kantons Bern. | |
Regeste |
Eigentumsgarantie, Art. 4 BV; materielle Enteignung. |
2. Wird die Enteignungsentschädigung nicht im Zeitpunkt der Bemessung ausbezahlt, so kann das Gemeinwesen verpflichtet werden, diese Leistung von dem Tage an zu verzinsen, an dem der Entschädigungsanspruch erstmals in unverkennbarer Weise geltend gemacht wird (Erw. 3 a). |
Willkürliche Anwendung dieser Regel im vorliegenden Falle (Erw. 3 b). | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.- Die Einwohnergemeinde Muri bei Bern beschloss am 25. Mai 1956 einen Alignementsplan mit Sonderbauvorschriften, einen neuen Bauzonenplan und eine Revision des Baureglementes. Durch den am 2. Oktober 1956 vom Regierungsrat des Kantons Bern genehmigten Alignementsplan "Halden" mit Sonderbauvorschriften wurden die Parzelle Nr. 56 des Rudolf Gerber vollständig und die Parzelle Nr. 175 des Wilhelm Wimmer teilweise mit einem Bauverbot belegt. Im Genehmigungsbeschluss des Regierungsrates wird festgestellt, die Gemeinde Muri anerkenne, dass es sich um eine Massnahme der Zwangsenteignung handle, und habe sich zum Ankauf des vom ![]() | 2 |
B.- Mit Eingabe vom 10. Oktober 1966 ersuchten die beiden Grundeigentümer Gerber und Wimmer die zuständige Enteignungs-Schätzungskommission Kreis 2 um Festsetzung der ihnen von der Gemeinde Muri geschuldeten Enteignungsentschädigungen für die Parzellen Nr. 56 und 175.
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Mit Entscheid vom 15. April 1969 entsprach die Kommission diesem Begehren. Für die Bewertung teilte sie die in Frage stehenden Grundstücke in vier verschiedene Zonen ein: Waldabstandszone, Bauzone, Hangzone, Lischland. Sie zog sodann in Erwägung, dass bei einer Überbauung die Grundeigentümer zweifellos zur Leistung von Beiträgen an den Ausbau der Haldenstrasse verpflichtet worden wären und brachte den dafür mutmasslich geschuldeten Betrag vom Verkehrswert in Abzug. Die Schätzungskommission kam auf diesem Wege zu folgenden Entschädigungen:
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a) für Rudolf Gerber:
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3350 m2 Waldabstandsland à Fr. 45.- FR. 150'750.--
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3810 m2 Bauland "" 130.-- " 495'300.--
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2660 m2 Hangland "" 20.- " 53'200.--
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3247 m2 Lischland "" 1.- " 3'247.--
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FR. 702'497.-- abzüglich mutmasslicher Grundeigentümerbeitrag
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an den Ausbau der Erschliessungsstrasse Fr. 18'000.--
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Total Fr. 684'497.--
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b) für Wilhelm Wimmer:
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1890 m2 Waldabstandsland à Fr. 45.- FR. 85'050.--
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2950 m2 Bauland "" 130.-- " 383'500.--
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1500 m2 Hangland "" 20.- " 30'000.--
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2530 m2 Lischland "" 1.- " 2'530.--
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FR. 501'080.--
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abzüglich Grundeigentümerbeitrag
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an den Ausbau der Erschliessungsstrasse Fr. 12'000.--
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Total = Fr. 489'080.--
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Gestützt auf eine gerichtliche Expertise setzte es folgende Entschädigungen fest:
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R. Gerber:
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Verkehrswert der Parzelle Nr. 56 als Bauland per 2. Oktober 1956: Fr. 509'300.--
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zuzüglich Wertsteigerung des Kulturlandes entsprechend der Verkehrswertdifferenz vom 2. Oktober 1956 bis 15. April 1969 (Fr. 32'700.-- minus Fr. 23'600.--): Fr. 9'100.--
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Enteignungsentschädigung: Fr. 518'400.--
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W. Wimmer:
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Verkehrswert der Parzelle Nr. 175 als Bauland per 2. Oktober 1956: Fr. 303'900.--
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zuzüglich Wertsteigerung des Kulturlandes entsprechend der Verkehrswertdifferenz vom 2. Oktober 1956 bis 15. April 1969 (Fr. 20'100.-- minus Fr. 14'600.--): Fr. 5'500.--
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Enteignungsentschädigung: Fr. 309'400.--
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Das Verwaltungsgericht bestimmte überdies, dass jener Teil der Enteignungsentschädigung, der als Schadenersatz für das Bauverbot zu betrachten sei, von dem Zeitpunkt an zu 5% verzinst werden müsse, in welchem die Enteigneten ihre Ansprüche gegenüber dem Gemeinwesen erstmals in aller Form geltend gemacht hätten.
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Die Begründung der Beschwerde geht soweit wesentlich aus den nachfolgenden Erwägungen hervor.
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E.- Die Einwohnergemeinde Muri beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde. In gleichem Sinne liess sich das Verwaltungsgericht des Kantons Bern vernehmen, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Als die hier in Frage stehende Grünzone geschaffen wurde, galt im Kanton Bern noch das sogenannte Alignementsgesetz von 1894 (Gesetz betreffend die Aufstellung von Alignementsplänen und von baupolizeilichen Vorschriften durch die Gemeinden vom 15. Juli 1894). Weder dieses Gesetz noch das damals geltende Enteignungsgesetz vom 2. September 1868 enthalten allgemeine Vorschriften über den Tatbestand, der ![]() | 37 |
"Wenn die Gemeinde vorschreibt, dass eine Strasse nur auf einer Seite bebaut werden dürfe, so können die Eigentümer solcher auf der andern Seite gelegener Grundstücke, welche sich sonst zum Bauen eignen würden, von der Gemeinde sofortige Übernahme der Grundstücke gegen Vergütung ihres Wertes vor der Beschränkung oder Ersatz für den durch die Beschränkung entstehenden Minderwert verlangen."
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In Abs. 1 von § 13 wird der Grundsatz aufgestellt, dass - abgesehen von den in Abs. 2 geregelten Ausnahmen - "wegen der in diesem Gesetz auferlegten Beschränkung der Baufreiheit" eine Entschädigung nicht verlangt werden könne.
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In Art. 30 des Gesetzes über die Bauvorschriften vom 26. Januar 1958, welches das Alignementsgesetz von 1894 aufhob, wurde dann die Frage der Entschädigungspflicht für Grün- oder Freiflächen folgendermassen geregelt:
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"Der Eigentümer kann verlangen, dass die Gemeinde nach ihrer Wahl entweder das Grundstück sofort erwerbe oder ihm für den Entzug der Baufreiheit Schadenersatz leiste, wenn das Land für eine Grün- oder Freifläche (Art. 9) beansprucht wird."
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Weder diesen gesetzlichen Vorschriften noch den von den Beschwerdeführern zitierten Entscheidungen lässt sich entnehmen, dass im Kanton Bern 1956 bei materieller Enteignung die Schätzung als Bemessungszeitpunkt betrachtet worden sei. Soweit eine Entschädigungspflicht anerkannt wurde, ist von sofortiger Übernahme bzw. von "Ersatz für den durch die Beschränkung entstehenden Minderwert" die Rede. Die Frage von Preisschwankungen zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Beschränkung und der Schätzung ist in diesen Vorschriften nicht ausdrücklich geregelt; aus dem Wortlaut ist aber doch eher zu schliessen, dass das Inkrafttreten der Beschränkung massgebend sein soll. Fehlt für die gegenteilige Ansicht jeder konkrete Anhaltspunkt, so verstösst die mit der heute herrschenden Auffassung übereinstimmende Lösung des bernischen Verwaltungsgerichts, wonach grundsätzlich ![]() | 42 |
b) Die Beschwerdeführer bestreiten an sich nicht, dass bei materieller Enteignung heute richtigerweise in der Regel die Verhältnisse im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung für die Bemessung der Entschädigung massgebend sind (BGE 93 I 144; bern. Enteignungsgesetz 1965 Art. 21 Abs. 2). Sie vertreten jedoch die Auffassung, diese Regel komme im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, weil es sich gar nicht um eine materielle Enteignung handle.
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Aus den Akten ergibt sich, dass die Gemeinde schon 1956 die Bereitschaft erklärte, die mit einem Bauverbot belegten Flächen zu übernehmen. Dieser Umstand macht die materielle Enteignung jedoch nicht zu einer formellen Enteignung. Das Wesen der sogenannten materiellen Enteignung besteht darin, dass die Folgen öffentlich-rechtlicher Eigentumsbeschränkungen nachträglich entschädigt werden, weil sie als enteignungsähnlich zu qualifizieren sind. Die formelle Enteignung hingegen schafft die Voraussetzungen für den Übergang von Rechten auf den Enteigner. Die formelle Enteignung steht nach ihrer Struktur und Funktion dem Vertrag näher; sie geht grundsätzlich der zwangsweisen Übertragung des Rechtes voran, während bei der sogenannten materiellen Enteignung der durch den enteignungsähnlichen Eingriff bewirkte Schaden hinterher - nach Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung - festgesetzt und vergütet wird (vgl. hiezu BGE 93 I 143). - Bringt man diese Kriterien auf den vorliegenden Fall zur Anwendung, so lässt sich nicht bezweifeln, dass das durch den Alignementsplan geschaffene Bauverbot unter den Begriff der materiellen Enteignung zu subsumieren ist: Es geht nicht um den Erwerb eines Rechtes auf dem Wege der formellen Enteignung, sondern um die Frage der Entschädigung des durch die öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung bewirkten enteignungsähnlichen Eingriffs. Dass das entschädigungspflichtige Gemeinwesen und die ![]() ![]() | 44 |
Eine Einschränkung wäre nur zu machen, sofern die betroffenen Grundeigentümer nicht von Anfang an die Möglichkeit zur Geltendmachung ihrer Ansprüche gehabt hätten oder wenn sie vom entschädigungspflichtigen Gemeinwesen gegen Treu und Glauben von der formellen Einleitung eines Schätzungsverfahrens abgehalten worden wären. Das wird nun aber im vorliegenden Verfahren nicht behauptet. Im Beschluss des Regierungsrates vom 2. Oktober 1956 über die Genehmigung des Alignementsplanes heisst es ausdrücklich, dass Entschädigungsansprüche von den Einsprechern gegebenenfalls vor dem Expropriationsrichter geltend zu machen seien. Dieser Weg wurde trotzdem zunächst nicht eingeschlagen. Es fanden angeblich mündliche Verhandlungen statt, die aber nicht zu einer Einigung führten. Erst im Jahre 1963 wandten die Beschwerdeführer sich schriftlich an die Gemeinde. - Es besteht somit kein Anlass, im vorliegenden Falle von dem grundsätzlich als zweckmässig und richtig erkannten Bemessungszeitpunkt bei materieller Enteignung abzuweichen. Ob die Beschwerdeführer tatsächlich aus spekulativen Gründen zunächst von der formellen Durchsetzung ihrer Ansprüche absahen oder ob andere Überlegungen zur Verzögerung führten, ist hier ohne Belang. Auf jeden Fall fehlt der Nachweis einer tatsächlichen oder rechtlichen Behinderung, welche das Abstellen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bauverbotes als unbegründet erscheinen liesse.
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a) Zunächst ist zu prüfen, ob die vom Verwaltungsgericht in Ermangelung einer gesetzlichen Ordnung aufgestellte Regel mit der Eigentumsgarantie im Einklang steht. In der Ausgestaltung der Einzelheiten ihres Enteigungsrechtes sind die Kantone im Rahmen der Eigentumsgarantie frei. Das Bundesgericht auferlegt sich dementsprechend bei der Überprüfung kantonaler Entscheide eine gewisse Zurückhaltung, wenn, wie im vorliegenden Falle inbezug auf die Verzinsung der Entschädigungssumme, diese Gestaltungsfreiheit der Kantone in Frage steht. Unter dem Aspekt des Verfassungsrechtes ist bei solchen Fragen nicht eine "allein richtige Lösung" zu bestimmen, sondern lediglich festzustellen, ob die vom Kanton gewählte Ordnung mit der Eigentumsgarantie vereinbar ist.
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Der verfassungsrechtliche Anspruch auf volle Entschädigung darf nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass das entschädigungspflichtige Gemeinwesen die Zahlung der Entschädigung verzögert und so den Anspruchsberechtigten hindert, die ihm zustehende Entschädigungsleistung zu nutzen. Als Ausgleich eines solchen zusätzlichen Schadens durch die zeitliche Hinausschiebung der Zahlung kann ein Zins zugesprochen werden. Der verfassungsmässigen Eigentumsgarantie könnte auch eine andere Form des angemessenen Ausgleichs gerecht werden. Mit der Zusprechung eines Zinses von 5% - analog dem Ansatz in OR Art. 73 und Art. 104 - hat das Verwaltungsgericht eine ![]() | 49 |
Das gleiche gilt für die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Beginn des Zinsenlaufs setze eine gewisse Aktivität des betroffenen Grundeigentümers voraus. Enteignungsähnliche Eigentumsbeschränkungen, die eine Entschädigungspflicht des Gemeinwesens nach sich ziehen, können nicht ohne weiteres zivilrechtlicher Schadensverursachung oder dem formellen Entzug einer Eigentümerbefugnis gleichgestellt werden. Die Eigentumsbeschränkung beeinträchtigt unter Umständen die vom Eigentümer gewollte Nutzung des Landes nicht und wird von ihm entschädigungslos akzeptiert. Während im Haftpflichtrecht kurze Verjährungsfristen (Art. 60 OR: 1 Jahr; Art. 83 SVG: 2 Jahre) den Anspruchsberechtigten zwingen, seine Forderungen geltend zu machen, fehlen inbezug auf die materielle Enteignung entsprechende Vorschriften; der Eigentümer hat Zeit, um sich zu überlegen, ob er eine Entschädigung verlangen will. Dass allenfalls nach zehn Jahren die Verjährung eintritt (vgl. BGE 97 I 624 ff.), ist hier ohne Belang; die Verjährung des Anspruches wird nicht behauptet. Kann bei der materiellen Enteignung der Anspruchsberechtigte den Zeitpunkt der Geltendmachung seiner Forderung in einem weiten Rahmen frei wählen, so muss die durch sein Abwarten verursachte Verzögerung der Entschädigungszahlung nicht unbedingt zu einem Anspruch auf Verzinsung führen. Es ist mit der Eigentumsgarantie vereinbar, dass der Grundeigentümer, solange er sich mit der verbleibenden (bisherigen) Nutzung seines Landes begnügt und keine Entschädigungsforderung stellt, auch keine Verzinsung des später allenfalls eruierten Minderwertes beanspruchen kann, und dass die Pflicht zur Verzinsung der Entschädigung erst in dem Zeitpunkt beginnt, wo der Entschädigungsanspruch gegenüber dem Gemeinwesen in unverkennbarer Weise geltend gemacht wird.
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b) Erweist sich somit die von der Vorinstanz aufgestellte Regel als verfassungskonform, so bleibt zu prüfen, ob ihre Anwendung im konkreten Falle vor dem Willkürverbot standhält. Aus den Akten ergibt sich, dass offenbar vor der Genehmigung des Alignementsplanes durch den Regierungsrat von der Entschädigungspflicht der Einwohnergemeinde die Rede war und dass damals die Gemeinde sich zur Übernahme der mit einem Bauverbot belegten Grundstücke bereit erklärt hat.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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