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117. Auszug aus dem Urteil vom 23. Dezember 1971 i.S. Baenziger gegen Aargau, Grosser Rat. | |
Regeste |
Art. 25 Abs. 1 lit. b aarg. KV; Art. 85 lit. a OG; Finanzreferendum, Ersatzbeschaffung für eine veraltete Datenverarbeitungsanlage. |
2. Begriff der "gebundenen" Ausgabe; Abgrenzung zur "neuen" Ausgabe (Erw. 4). |
3. Massgebende Kriterien für den Entscheid darüber, ob die Aufwendungen zur Ersatzbeschaffung für eine veraltete Datenverarbeitungsanlage als "neue" oder als "gebundene" Ausgabe zu behandeln sind (Erw. 5). | |
Sachverhalt | |
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B.- Im April 1961 beschloss der Regierungsrat des Kantons Aargau, in der Staatsverwaltung die elektronische Datenverarbeitung (EDV) einzuführen. Mit Botschaft vom 21. Februar 1963 ersuchte er den Grossen Rat um Bewilligung eines Kredits von Fr. 800'000.-- zur Anschaffung einer EDV-Anlage Typ UNIVAC-UCT mit gebrauchter Zentraleinheit, Baujahr 1960 (Neupreis Fr. 1'430,000.--). In der Begründung dieses Antrags führte der Regierungsrat unter anderem aus, die Verwaltung bedürfe zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben (Art. 37 in Verbindung mit Art. 39 lit. b KV) ausreichender personeller und sachlicher Mittel. Nach der bisherigen Praxis würden die hiefür erforderlichen Aufwendungen, mit Ausnahme der staatlichen Hochbauten, entweder auf dem Budgetweg oder durch besonderen Grossratsbeschluss - also ohne Berücksichtigung des Finanzreferendums - bewilligt. Es erscheine deshalb folgerichtig, auch den Kredit für die Anschaffung einer EDV- ![]() | 2 |
Am 30. April 1963 schloss sich der Grosse Rat dieser Betrachtungsweise an und stimmte der Vorlage mit 98 Stimmen ohne Gegenstimme zu. Auf Antrag des Regierungsrats bewilligte der Grosse Rat sodann am 2. Dezember 1968 einen Kredit von Fr. 159'810.-- für die Erweiterung des Maschinenparks der EDV-Anlage.
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C.- Mit Botschaft vom 22. April 1971 stellte der Regierungsrat dem Grossen Rat Antrag auf Bewilligung eines Verpflichtungskredits von Fr. 5'000,000.-- zur Beschaffung eines Computers Siemens 4004/135. Gleichzeitig schlug er vor, die hiefür notwendigen Zahlungskredite in die Nachtragskredite 1971, II. Teil, sowie in die Voranschläge 1972 und 1973 einzustellen. Zur Begründung führte er aus, es gehe - anders als im Jahre 1963 - nicht mehr um die Einführung der EDV, sondern um den Ersatz des inzwischen veralteten Systems UNIVAC-UCT, wobei die Datenverarbeitung bis zu einem gewissen Grade ausgebaut werden solle. Der Grundsatzentscheid über die EDV sei im Jahre 1963 mit der Beschaffung des UCT-Systems gefällt worden. Selbst wenn man annehmen wollte, dass der entsprechende Beschluss seinerzeit dem Finanzreferendum hätte unterstellt werden müssen, so betreffe der nunmehr verlangte Kredit fraglos eine gebundene, dem Finanzreferendum nicht unterliegende Ausgabe, denn die Beschaffung des vorgeschlagenen Systems stelle bloss "die logische Fortsetzung der bisherigen Politik" dar.
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Am 29. Juni 1971 beschloss der Grosse Rat nach reger Diskussion mit 162 Stimmen Eintreten auf die Vorlage; auf einen Rückweisungsantrag von Grossrat Baenziger entfielen 5 Stimmen. Hierauf stimmte der Rat dem Kreditbegehren mit 109 Stimmen zu; ein Antrag auf Durchführung einer Volksabstimmung vereinigte 50 Stimmen auf sich.
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D.- Grossrat Baenziger führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Beschluss des Grossen Rats vom 29. Juni 1971 "gestützt auf Art. 25 Abs. 1 lit. b und Art. 33 Abs. 1 lit. f KV" aufzuheben. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
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E.- Der Grosse Rat, vertreten durch den Regierungsrat, beantragt die Abweisung der Beschwerde.
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Der Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 lit. b KV könnte zwar - für sich allein betrachtet - darauf schliessen lassen, jede einmalige Ausgabe für einen bestimmten Zweck von mehr als Fr. 250'000.-- unterliege dem obligatorischen Finanzreferendum. Aus der Entstehungsgeschichte und aus dem Sinn der genannten Verfassungsbestimmung ergibt sich jedoch, dass auch im Kanton Aargau bloss Beschlüsse über "neue", nicht auch über "gebundene" Ausgaben dem Stimmbürger vorzulegen sind.
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Die Vorschrift von Art. 25 Abs. 1 lit. b der heute in Kraft stehenden Verfassung aus dem Jahre 1885 ersetzte die Bestimmung des Art. 46 Abs. 1 der Verfassung 1870, wo ausdrücklich von "neuen" Ausgaben die Rede ist. Die Streichung des Wortes "neu" in Art. 25 Abs. 1 lit. b der Verfassung 1885 beruht jedoch auf einem offensichtlichen Versehen des Gesetzgebers, der die Regelung in Art. 46 Abs. 1 der Verfassung aus dem Jahre 1870 anlässlich der Revision nachgewiesenermassen nicht abändern wollte (vgl. G. BUSER, in: "Das Finanzreferendum im Kanton Aargau", S. 20 und H. NEF, ibid., S. 59/60). Wohl ist der Wille des Gesetzgebers für die Auslegung einer Norm allein nicht entscheidend, wenn er im Wortlaut der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hat (BGE 95 I 511 mit Verweisungen). Er bildet indessen ein Auslegungselement und darf bei der Ermittlung des Sinngehalts einer auslegungsbedürftigen ![]() | 11 |
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Der verfassungspolitische Zweck des Finanzreferendums besteht darin, dem Bürger bei Beschlüssen über erhebliche Ausgaben, die ihn als Steuerzahler mittelbar treffen, ein Mitspracherecht zu sichern. Dies gilt zunächst für Vorlagen, mit welchen die Verwaltung zur Erfüllung von zusätzlichen, ausserhalb ihres bisherigen Tätigkeitsbereichs liegenden Aufgaben einen Kredit begehrt. Das erwähnte Mitspracherecht soll sodann auch in jenen Fällen gewährleistet bleiben, in denen die verlangten Mittel dazu dienen sollen, die bisherige gesetzliche ![]() | 13 |
Mit Rücksicht auf den Zweck des Finanzreferendums geht die Rechtsprechung im allgemeinen davon aus, der Begriff der "gebundenen Ausgabe" sei eher eng und jener der "neuen Ausgabe" eher weit zu fassen (BGE 96 I 709 mit Verweisungen). Die soeben erwähnten Grundsätze sind denn auch durchaus ein Ausfluss dieser Maxime. Der Verfassungsrichter ist jedoch gehalten, im Einzelfall Untersuchungen darüber anzustellen, ob sich aufgrund einer feststehenden und unangefochtenen Rechtsauffassung und Praxis des kantonalen Gesetzgebers, der in erster Linie zur Verfassungsauslegung berufen ist, eine andere Betrachtungsweise aufdrängt (BGE 95 I 219 ![]() | 14 |
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Im Kanton Aargau wurde der Grundsatzentscheid zur Einführung der EDV spätestens im Jahre 1963 gefällt, als der Grosse Rat einen Kredit von Fr. 800'000.-- für die Anschaffung der Anlage UNIVAC-UCT bewilligte. Dieser Beschluss wurde nicht dem Referendum unterstellt und blieb unangefochten. Wohl ist aufgrund der erwähnten Rechtsprechung anzunehmen, dass eine gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde Erfolgsaussichten gehabt hätte. Dass die ohne Mitwirkung des Stimmbürgers beschlossene Einführung der EDV gegen die Verfassung verstiess, kann jedoch im vorliegenden Verfahren nicht mehr geltend gemacht werden (BGE 95 I 540). Wie der Regierungsrat mit Recht ausführt, stellt der erwähnte Kreditbeschluss aus dem Jahre 1963 einen vom Stimmbürger stillschweigend gebilligten Grundsatzentscheid ![]() | 16 |
a) Der Beschwerdeführer macht geltend, die bestehende UCT-Anlage "funktioniere noch einwandfrei" und sei lediglich zu klein. Damit bestreitet er sinngemäss die Notwendigkeit einer Ersatzbeschaffung. Dieses Vorbringen erscheint indessen schon deshalb als wenig überzeugend, weil der Beschwerdeführer im Verlaufe der grossrätlichen Debatte vom 29. Juni 1971 bloss beanstandete, dass im Zusammenhang mit der Beschaffung einer neuen Computer-Anlage nicht auch die Frage des "Leasing" geprüft und zum Entscheid vorgelegt worden sei; ferner führte er selbst aus, elektronische Anlagen hätten eine Lebensdauer von kaum 10 Jahren. Ob der Beschwerdeführer seine Ansicht inzwischen tatsächlich geändert hat, ist jedoch unerheblich, denn nach den gesamten Umständen kann nicht ernstlich bestritten werden, dass die bestehende EDV-Anlage ersetzt werden muss. Aus den vorhandenen Akten sowie aus den Darlegungen des Regierungsrats in der Botschaft vom 22. April 1971 und in der Vernehmlassung vom 26. August 1971 ergibt sich zweifelsfrei, dass die UCT-Anlage technisch veraltet ist, den Anforderungen nicht mehr genügt und jederzeit ausfallen kann, da die Herstellung dieses Typs bereits im Jahre 1961 eingestellt wurde und die Lieferung von Ersatzteilen - wie aus einem Schreiben der UNIVAC vom 25. Januar 1971 hervorgeht - nur bis Ende 1971 voll gewährleistet ist. Auch Prof. Dr. C. A. Zehnder (Koordinationsgruppe für Datenverarbeitung der ETH Zürich) kommt in seinem, dem Präsidenten der EDV-Kommission erstatteten Gutachten vom 18. August 1971 zum Schluss, die UCT-Anlage müsse umgehend ersetzt werden. Wie dem Protokoll der grossrätlichen Debatte vom 29. Juni 1971 entnommen werden kann, gingen die Meinungen denn auch bloss über die Art der Ersatzbeschaffung und über die Tragweite von Art. 25 Abs. 1 lit. b KV auseinander.
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Richtig ist, dass mit dem neuen System "ein gewisser Ausbau der EDV realisiert werden soll" (Botschaft Ziff. 5.1, S. 12) und dass die Kosten der Anlage Siemens 4004/135 um ein Vielfaches höher sind als jene des bestehenden UNIVAC-UCT-Computers. Allein daraus folgt nicht ohne weiteres, dass keine eigentliche Ersatzbeschaffung vorliegt. Nach dem erwähnten Gutachten Zehnder stammt das veraltete UNIVAC-UCT-System als mittelgrosse Anlage aus der Übergangszeit von der ersten zur zweiten Computer-Generation. Das System Siemens 4004/135 gehört der dritten Generation an und kann nach den heute geltenden Massstäben ebenfalls als mittelgrosse Anlage bezeichnet werden. Das UNIVAC-UCT-System vermochte die im Zeitpunkt der Anschaffung bestehenden und während der Nutzungsdauer zu erwartenden Bedürfnisse der Verwaltung zu befriedigen und verfügte zudem über eine gewisse Leistungsreserve, die heute allerdings vollständig ausgeschöpft ist. Im Hinblick auf die rasch voranschreitende technische Entwicklung auf dem Gebiete der Datenverarbeitung und angesichts der Tatsache, dass sich die Verwaltungstätigkeit fortwährend ausweitet, erscheint eine Ersatzbeschaffung zum vorneherein nur dann als sinnvoll, wenn bei der Auswahl des neuen Systems - ähnlich wie seinerzeit bei der Beschaffung der nunmehr veralteten Anlage - darauf geachtet wird, dass während der voraussichtlichen Nutzungsdauer eine ausreichende Leistungsreserve erhalten bleibt, die einen zweckmässigen und wirtschaftlichen Einsatz der Anlage gewährleistet. Aus der Absicht des Regierungsrats, mit dem neuen System "einen gewissen Ausbau der EDV zu realisieren", folgt daher nicht ohne weiteres, dass mit dem angefochtenen Beschluss über die umstrittene Ersatzbeschaffung ein Entscheid gefällt wurde, der dem Stimmbürger hätte vorgelegt werden müssen (vgl. dazu W. GEIGER, Elektronische Datenverarbeitungsanlage und Finanzreferendum, ZBl 68/1967, S. 215/6). Ob in bezug auf das ![]() | 19 |
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d) Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der umstrittene Kredit für die Beschaffung eines neuen Computer-Systems Auslagen erfordert, die in Ermangelung einer unter dem Gesichtswinkel des Finanzreferendums erheblichen Entscheidungsfreiheit des Stimmbürgers als "gebunden" gelten können. Der Beschluss des Grossen Rats, auf eine Volksabstimmung zu verzichten, hält demnach vor der Verfassung stand. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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