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49. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. November 1995 i.S. R. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Disziplinarbusse (Art. 6 Ziff. 1 EMRK). | |
Sachverhalt | |
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R. erhob Rekurs an den Regierungsrat des Kantons Zürich, welcher diesen abwies.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Die Beschwerdeführerin rügt, das zürcherische Ordnungsstrafenrecht und demzufolge auch der angefochtene Bussenentscheid verstosse gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK, weil keine Überprüfung durch ein Gericht möglich sei. Ob auf die erstmals im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde ausdrücklich erhobene Rüge der Verletzung von Art. 6 EMRK einzutreten sei, erscheint fraglich (vgl. BGE 120 Ia 19 E. 2c/bb, S. 24 ff.), kann aber offenbleiben, da sich die Rüge, wie im folgenden zu zeigen sein wird, als unbegründet erweist.
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a) Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass ein unabhängiges und unparteiisches Gericht über die Stichhaltigkeit einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage befindet. Was eine strafrechtliche Anklage im Sinne dieser Bestimmung ist, beurteilt sich autonom nach dem Recht der EMRK (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Engel vom 8. Juni 1976, Série A. Bd. 22, Ziff. 81; Urteil des Bundesgerichts i.S. V. vom 4. Februar 1994, publiziert in ZBl 95/1994 S. 422, E. 3a; ARTHUR HAEFLIGER, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993, S. 120). Nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Urteile i.S. Ravnsborg vom 23. März 1994, Série A Bd. 283, Ziff. 30 ff.; i.S. Demicoli vom 27. August 1991, Série A Bd. 210, Ziff. 32 ff.; i.S. Weber vom 22. Mai 1990, Série A Bd. 177, Ziff. 30 ff.; i.S. Lutz vom 25. August 1987, Série A Bd. 123, Ziff. 54 ff.; i.S. Campbell und Fell vom 28. Juni 1984, Série A Bd. 80, Ziff. 68 ff.; i.S. Öztürk vom 21. Februar 1984, Série A Bd. 73, Ziff. 50; zit. Urteil Engel Ziff. 82), der sich das Bundesgericht angeschlossen hat (ZBl 95/1994 S. 422, E. 3a; BGE 119 Ib 311 E. 2d S. 316; BGE 117 Ia 187 E. 4a S. 188), beurteilt sich die Frage, ob eine Anklage strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK sei, nach drei alternativen Kriterien: nach der landesrechtlichen Qualifikation als strafrechtlich (unten lit. b), nach der Natur der Widerhandlung (unten lit. c) sowie nach Natur und Schwere der angedrohten Sanktion (unten lit. d) (vgl. HAEFLIGER, a.a.O., S. 121 ff.; ANDREAS KLEY-STRULLER, Der richterliche Rechtsschutz ![]() | 6 |
b) Das zürcherische Ordnungsstrafengesetz ist formal nicht Teil des Strafrechts. Es wird von Verwaltungsinstanzen ohne Mitwirkung der Strafverfolgungsbehörden angewendet und will das gute Funktionieren der Verwaltung sicherstellen. Deshalb erscheint das Ordnungsstrafengesetz auch materiell nicht als Strafrecht, obwohl es für einzelne Fragen gewisse Bestimmungen des Strafgesetzbuches für anwendbar erklärt (§ 4a des Ordnungsstrafengesetzes).
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c) aa) Wichtiger als die landesrechtliche Qualifikation ist das zweite Kriterium (zit. Urteile Weber, Ziff. 32, Demicoli Ziff. 33, Campbell und Fell Ziff. 71, Öztürk Ziff. 52). Nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind Disziplinarregelungen, mit denen den Mitgliedern besonderer Institutionen oder Berufsgattungen bestimmte Verhaltensregeln auferlegt werden, grundsätzlich nicht als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK zu betrachten (HAEFLIGER, a.a.O., S. 122 ff.; KLEY-STRULLER, a.a.O., S. 112 f.; POLEDNA, a.a.O., S. 72 ff.; VILLIGER, a.a.O., S. 234; ZIMMERMANN, a.a.O., S. 342 ff.; je mit Hinweisen), ausser wenn das pönalisierte Verhalten zugleich ein vom allgemeinen Strafrecht erfasstes Delikt darstellt (zit. Urteil Campbell und Fell Ziff. 71) oder die angedrohte Sanktion nach Art und Schwere als strafrechtlich erscheint, namentlich wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als bloss einigen Tagen in Aussicht steht (ZBl 95/1994 S. 424 E. b/c, mit zahlreichen Hinweisen). Ordnungsbussen, mit denen für die ganze Bevölkerung geltende Verhaltensvorschriften durchgesetzt werden sollen, gelten demgegenüber als strafrechtlich (zit. Urteile Lutz Ziff. 50 ff. und Öztürk Ziff. 53 bezüglich Strassenverkehrsvorschriften; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Bendenoun vom 24. Februar 1994, Série A Bd. 284, Ziff. 47 und BGE 119 Ib 311 E. 2f S. 317 bezüglich Steuerhinterziehungsbussen). Strafen, mit denen ein Verstoss von Prozessparteien gegen verfahrensrechtliche Vorschriften geahndet wird, ![]() | 8 |
bb) Der vorliegende Fall ist vergleichbar mit den zuletzt genannten Entscheiden: die Strafe kann zwar potentiell gegen die gesamte Bevölkerung ausgesprochen werden, aber nur soweit der Einzelne mit Verwaltungs- oder Gerichtsstellen in Geschäftsverkehr steht. Sie gilt damit nur für einen beschränkten Kreis von Personen, die in einem besonderen Verhältnis der Unterordnung unter die Behörde stehen (HAEFLIGER, a.a.O., S. 124), dient dem geordneten Geschäftsgang der Behörden und stellt eine reine Disziplinarmassnahme dar, die nicht ein kriminelles Unrecht abgilt; vielmehr wird ein Strafverfahren allenfalls zusätzlich durchgeführt, wenn nebst dem Disziplinarvergehen strafrechtliche Tatbestände erfüllt sind (vgl. § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 3, § 4 Abs. 2 des Ordnungsstrafengesetzes). Die Busse wird zudem nicht im Strafregister eingetragen (vgl. Art. 9 der Verordnung vom 21. Dezember 1973 über das Strafregister, SR 331). Die Widerhandlung erscheint damit ihrer Natur nach nicht als strafrechtlich.
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cc) Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin vorliegend in ihrer ![]() | 10 |
d) Schliesslich könnten die Natur und Schwere der Sanktion die Strafe zu einer strafrechtlichen werden lassen. Ist eine Widerhandlung bereits nach ihrer Natur (zweites Kriterium) als strafrechtlich zu betrachten, so ändert eine geringe Höhe der streitigen Busse daran nichts (vgl. zit. Urteil Öztürk, wo eine Busse im Betrag von DM 63.90 in Frage stand). Ergibt sich hingegen nicht bereits aus dem zweiten Kriterium die Qualifikation als strafrechtlich, so spielen die Natur und Schwere der Sanktion eine wichtige Rolle. Im Entscheid Ravnsborg hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Maximalstrafe von 1'000 Schwedenkronen nicht als strafrechtlich betrachtet. Dass die Busse in Haft umgewandelt werden konnte, änderte daran nichts, weil die Umwandlung nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig war und vor einer Umwandlung der Betroffene anzuhören war (zit. Urteil Ravnsborg Ziff. 35). Im Lichte dieser Praxis erscheint auch die vorliegend streitige Sanktion nicht als strafrechtlich: ausgesprochen wurde eine Busse von Fr. 300.--; die Maximalstrafe beträgt Fr. 1'000.--. Eine Umwandlung in Haft ist gemäss § 4a des Ordnungsstrafengesetzes nach Massgabe von Art. 49 StGB zulässig, mithin nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur in einem Verfahren, in welchem der Betroffene angehört werden muss (Urteil des Bundesgerichts i.S. D. vom 30. September 1994, publiziert in SJ 1995 S. 15).
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e) Gesamthaft erscheint somit die streitige Disziplinarbusse nicht als strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Damit sind die Verfahrensgarantien dieser Bestimmung nicht anwendbar, namentlich nicht der Anspruch auf eine Beurteilung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Der angefochtene Bussenentscheid verletzt daher die EMRK nicht.
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