![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
28. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. August 1996 i.S. H. und K. gegen Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV. Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B.- Mit Schreiben vom 25. Januar 1996 teilte Rechtsanwalt K. der Rekurskommission mit, Z. sei mit unbekanntem Ziel abgereist und halte sich mutmasslich in Polen auf. Damit erschienen die Forderung aus dem Arbeitsverhältnis und die zugesprochene Parteientschädigung als uneinbringlich, zumal Z. in der Schweiz offenbar über kein Vermögen verfüge. Die Parteientschädigung sei deshalb anhand der am 11. September 1995 eingereichten Kostennote festzulegen und aus der Gerichtskasse zu bezahlen.
| 2 |
3 | |
C.- Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde, die Frau H. gegen diesen Entscheid erhob, ab.
| 4 |
Aus den Erwägungen: | |
5 | |
a) Der Anspruch einer Prozesspartei auf unentgeltliche Rechtspflege beurteilt sich in erster Linie nach den Vorschriften des kantonalen Prozessrechts. Im Sinne von Mindestanforderungen leitet das Bundesgericht jedoch einen solchen Anspruch auch unmittelbar aus Art. 4 BV ab (BGE 115 Ia 193 E. 2 S. 194; BGE 113 Ia 12 f. E. 2, je mit Hinweisen). Vorliegend beruft sich die Beschwerdeführerin nicht auf das kantonale Prozessrecht und behauptet nicht, dessen Bestimmungen seien willkürlich angewendet worden. In Frage stehen vielmehr einzig die direkt aus Art. 4 BV fliessenden Minimalgarantien.
| 6 |
b) Die Beschwerdeführerin macht im wesentlichen geltend, sie habe zunächst keinen Anlass gehabt, unentgeltliche Rechtspflege zu beantragen. Wegen der Kostenlosigkeit des Verfahrens (Art. 343 Abs. 3 OR) habe sie keine Gerichtskosten vorschiessen müssen. Ausserdem sei ihre Bedürftigkeit erst im Verlauf des Jahres 1995 eingetreten, nachdem sie arbeitslos geworden sei. Ein früher gestelltes Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung hätte deshalb kaum Aussicht auf Erfolg gehabt. Es könne von einer "nicht eben auf Rosen gebetteten" Partei auch nicht verlangt werden, dass sie stets von Anfang an die unentgeltliche Rechtspflege anbegehre, weil sie später allenfalls keine Arbeit mehr haben und bedürftig werden könnte und eine ihr zugesprochene Prozessentschädigung sich allenfalls wegen ![]() | 7 |
c) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 4 BV, dass die unentgeltliche Rechtsverbeiständung jederzeit während des Verfahrens beantragt werden kann. Sie ist, wenn ihre Voraussetzungen gegeben sind, mit Wirkung vom Zeitpunkt an zu bewilligen, in welchem das Gesuch gestellt worden ist, wobei auch die anwaltschaftlichen Bemühungen im Zusammenhang mit einer gleichzeitig eingereichten Rechtsschrift eingeschlossen sind (BGE 120 Ia 14 ff., insbes. E. 3f S. 17 f.). Ob Art. 4 BV unter Umständen auch eine darüber hinausgehende Rückwirkung verlangt, brauchte das Bundesgericht bisher nicht zu entscheiden. In einem unveröffentlichten Urteil (vom 11. Februar 1993 i.S. N., zitiert in BGE 120 Ia 14 E. 3e, S. 17) hat es dies zwar als naheliegend bezeichnet, die Frage dann jedoch ausdrücklich offengelassen; ausschlaggebend war dort, dass das kantonale Recht die Möglichkeit, eine Rückwirkung anzuordnen, ausdrücklich vorsah und dass es aufgrund der Umstände als willkürlich erschien, im zu beurteilenden Fall von der Anwendung der entsprechenden Bestimmung abzusehen.
| 8 |
In der Lehre äussern sich nur wenige Autoren zur Frage, ob und wieweit sich aus Art. 4 BV ein Anspruch auf rückwirkende Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für bereits vor der Gesuchseinreichung erbrachte Anwaltsleistungen ergeben kann. PIERMARCO ZEN-RUFFINEN (Assistance judiciaire et administrative: les règles minima imposées par l'article 4 de la constitution fédérale, JdT 137/1989, S. 56) lehnt eine solche Rückwirkung zwar grundsätzlich ab, behält aber Ausnahmen vor, insbesondere den Fall, dass der Gesuchsteller seinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nicht kannte und auch nicht kennen konnte. PATRICK WAMISTER (Die unentgeltliche Rechtspflege, die unentgeltliche Verteidigung und der unentgeltliche Dolmetscher unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV und Art. 6 EMRK, Diss. Basel 1983, S. 77) vertritt die Meinung, dass die unentgeltliche Rechtspflege bei nachträglicher Gewährung bis auf den Zeitpunkt zurückwirken solle, seit dem ihre Voraussetzungen gegeben seien.
| 9 |
d) Die meisten kantonalen Zivilprozessordnungen regeln nicht ausdrücklich, ab welchem Zeitpunkt die unentgeltliche Rechtspflege Wirkungen entfalten ![]() | 10 |
Die baselstädtischen Gerichte gewähren demgegenüber die unentgeltliche Rechtspflege dann rückwirkend für bereits entstandene Kosten, wenn die gesuchstellende Partei nachweist, dass sich ihre finanziellen Verhältnisse während des Prozesses verschlechtert haben. Diese Praxis beruht im wesentlichen auf der Überlegung, dass es unbillig wäre, eine Partei dafür zu bestrafen, dass sie zuerst hoffte, den Prozess selber finanzieren zu können (BJM 1989, S. 227 f.; BJM 1974, S. 124 f.; AGE VIII, S. 134 f.; STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, S. 195 f. Rz. 26; ähnlich auch WAMISTER, a.a.O.). Noch weiter geht anscheinend die Glarner Praxis (vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Ausgewählte Rechtsbehelfe der Glarner Zivilprozessordnung, Diss. Zürich 1980, S. 53 f.). Engere Grenzen zieht ![]() | 11 |
e) Die unentgeltliche Rechtspflege ist nicht nur ein Problem des Rechtsstaates, sondern immer auch ein solches der Finanzen. Auch in diesem Gebiet staatlichen Wirkens gilt es, die Finanzbelastung des Gemeinwesens in vernünftigen Grenzen zu halten (HAEFLIGER, Der bundesrechtliche Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung, in: FS Schultz, ZStrR 94/1977, S. 298; WAMISTER, a.a.O., S. 161). Es darf daher den Kantonen nicht verwehrt werden, bei der näheren Ausgestaltung der Wirkungen der unentgeltlichen Rechtspflege auch auf dieses Ziel Rücksicht zu nehmen. In welcher Form dies geschehen soll, ist weitgehend eine rechtspolitische Frage, deren Beantwortung nicht Sache der Verfassungsgerichtsbarkeit ist, zumal - wie sich aus dem Gesagten ergibt (E. c und d hievor) - im einzelnen für verschiedene Lösungen gute Gründe angeführt werden können.
| 12 |
Da Art. 4 BV nach ständiger Praxis lediglich einen minimalen Schutz bieten soll, ist zur Bestimmung der Grenzen des unmittelbar auf die Bundesverfassung gestützten Anspruchs von der Kernfunktion der unentgeltlichen Rechtspflege auszugehen. Diese besteht darin, auch der bedürftigen Partei den Zugang zum Gericht und die zweckdienliche Wahrung ihrer Parteirechte zu ermöglichen (BGE 120 Ia 14 E. 3d S. 16). Der Schutz der unbemittelten Partei vor ihrer eigenen Unwissenheit oder Unvorsichtigkeit oder vor mangelnder Beratung seitens ihres Anwalts gehört dagegen nicht mehr zu den eigentlichen Aufgaben der unentgeltlichen Rechtspflege; eine Partei, die - aus welchen Gründen auch immer - auf Kredit Dritter oder ihres Anwalts prozessiert, obwohl sie unentgeltliche Rechtspflege hätte verlangen können, kann daher jedenfalls aufgrund von ![]() | 13 |
f) Im Rahmen der Minimalgarantien, welche die Rechtsprechung unmittelbar aus Art. 4 BV ableitet, ist demnach daran festzuhalten, dass der verfassungsmässige Anspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege sich grundsätzlich nur auf die Zukunft bezieht; auf bereits entstandene Kosten erstreckt er sich nur, soweit sie sich aus anwaltschaftlichen Leistungen ergeben, die im Hinblick auf den Verfahrensschritt erbracht worden sind, bei dessen Anlass das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird. Eine darüber hinausgehende Rückwirkung kommt höchstens dann ausnahmsweise in Betracht, wenn es wegen der zeitlichen Dringlichkeit einer sachlich zwingend gebotenen Prozesshandlung nicht möglich war, gleichzeitig auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege zu stellen. Umstände und Ereignisse, die bloss die finanzielle Situation der gesuchstellenden Partei betreffen, vermögen hingegen unter dem Blickwinkel von Art. 4 BV für sich allein keine rückwirkende Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zu rechtfertigen. Allfällige Schulden gegenüber Dritten, die im Hinblick auf die Finanzierung des Prozesses Darlehen gewährt haben, oder Honorarschulden gegenüber dem Anwalt, der entgegen seinen Standespflichten keine hinreichenden ![]() | 14 |
g) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann auch keine Rede davon sein, dass der sich aus Art. 4 BV ergebende Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung ohne Rückwirkung unvollständig wäre. Denn solange die "nicht eben auf Rosen gebettete" Partei die Kostenvorschüsse, zu deren Einforderung der Anwalt standesrechtlich verpflichtet ist, bezahlen kann, steht ihr mangels Bedürftigkeit noch gar kein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu; um einen solchen kann sie bzw. ihr Anwalt jedoch ersuchen, sobald sie die Mittel für die Fortführung des Prozesses nicht mehr aufzubringen vermag. Ist aber der Anwalt tätig geworden, ohne einen Kostenvorschuss einzufordern und ohne abzuklären, ob ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt werden sollte, so ist - wie die zitierte Zürcher Rechtsprechung mit Recht festhält (E. d hievor) - nicht einzusehen, weshalb er das damit eingegangene finanzielle Risiko auf den Staat abwälzen können soll.
| 15 |
h) Im Lichte dieser Grundsätze ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden. Die Rekurskommission hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung hinsichtlich der seit der Beweisverhandlung vom 15. September 1995 angefallenen Anwaltskosten sowie hinsichtlich der im Hinblick auf diese Verhandlung erbrachten Leistungen ihres Anwalts anerkannt. Zu einer weitergehenden Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege war sie aufgrund von Art. 4 BV nicht verpflichtet.
| 16 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |