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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21. Februar 2000 i.S. A. gegen B., Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Obwalden (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 4 aBV, Art. 29 Abs. 2 BV); von der Anklage abweichende rechtliche Würdigung im Strafurteil. |
Eine Bestrafung wegen Verletzung einer anderen Verkehrsregel ist eine Verurteilung wegen eines anderen Straftatbestands (E. 2d/aa). Damit musste der Angeklagte im vorliegenden Fall nicht rechnen und dies hatte Auswirkungen auf die Ausübung seiner Verteidigungsrechte (E. 2e). | |
Sachverhalt | |
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Mit Anklageschrift vom 16. August 1999 beantragte die Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden, A. sei zu verurteilen, weil er nicht den Vortritt gewährt habe bzw. es unterlassen habe, an einer Ausweichstelle zu halten oder zu ihr zurückzufahren (Art. 26 Abs. 1 SVG und Art. 9 Abs. 2 VRV). Die Anklageschrift hielt fest, A. könne nicht vorgeworfen werden, mit nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren zu sein. Er habe auf halbe Sichtweite halten können. Mit Urteil vom 7. September 1999 verurteilte der Kantonsgerichtspräsident A. zu einer Busse von Fr. 100.- wegen Nichtgewährens des Vortritts (Art. 26 Abs. 1 SVG). Vom Vorwurf einer Verletzung von Art. 9 Abs. 2 VRV wurde er freigesprochen. A. erhob Appellation gegen das Urteil des Kantonsgerichtspräsidenten und beantragte, er sei freizusprechen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anschlussappellation und begründete diese in der Appellationsverhandlung vom 16. November 1999 unter anderem damit, dass A. auch Art. 9 Abs. 2 VRV verletzt habe. Mit Urteil vom 16. November 1999 wies das Obergericht die Appellation und die Anschlussappellation ab, sprach A. wegen Fahrens mit den Umständen nicht angepasster Geschwindigkeit schuldig (Art. 32 Abs. 1 SVG) und vom Vorwurf der Verletzung anderer Verkehrsregeln frei.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Der Anklagegrundsatz verteilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Aufgaben zwischen den Untersuchungs- bzw. Anklagebehörden einerseits und den Gerichten andererseits. Er bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Die Anklage hat die dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 120 IV 348 E. 2b S. 353 f. mit Hinweisen). Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK (SR 0.101) hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, in möglichst kurzer Frist über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Diese Angaben schliessen es allerdings nicht aus, dass eine spätere Verurteilung wegen eines gleichartigen oder geringfügigeren Delikts erfolgt. Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden, nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 3. Auflage, 1997, S. 44; ARMAND MEYER, Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat (Tatidentität), 1972, S. 10 f.; so auch ausdrücklich Art. 124 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Obwalden vom 9. März 1973 [StPO/OW; LB XIII, 185]).
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Ein Anspruch des Betroffenen, vor Erlass eines belastenden Entscheids angehört zu werden, besteht jedoch auch unabhängig vom Anklagegrundsatz. Dieser Anspruch auf rechtliches Gehör floss bisher aus Art. 4 aBV und ist jetzt in Art. 29 Abs. 2 der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April ![]() | 7 |
b) Art. 124 Abs. 2 StPO/OW sieht vor, dass eine Verurteilung des Angeklagten aufgrund schärferer Strafbestimmungen als der in der Anklageschrift angerufenen nur erfolgen darf, wenn der Angeklagte vorher darauf hingewiesen worden ist und die Gelegenheit erhalten hat, sich dazu zu äussern. Das Obergericht hält im Ergebnis zu Recht fest, dass diese Bestimmung nicht auf die Verurteilung des Beschwerdeführers anwendbar sei. Er wurde wie von der Staatsanwaltschaft beantragt nach Art. 90 Abs. 1 SVG verurteilt, und zwar wie schon vom Kantonsgerichtspräsidenten zu einer Busse von Fr. 100.-. Auch wiegt eine Verletzung von Art. 32 Abs. 1 SVG, wegen der er schliesslich bestraft wurde, nicht schwerer als eine solche von Art. 26 SVG oder Art. 9 Abs. 2 VRV, die vor dem Kantonsgerichtspräsidenten und nach der Anklageschrift zur Diskussion standen.
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c) Es fragt sich somit, ob ein Angeklagter direkt aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör ein Anrecht hat, vor einer Verurteilung gemäss anderer als der von der Anklagebehörde genannten Strafbestimmungen zu dieser Veränderung Stellung nehmen zu können.
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aa) Dies ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zunächst dann der Fall, wenn das Gericht den eingeklagten Sachverhalt unter eine schärfere Strafbestimmung oder zusätzlich unter einen weiteren Straftatbestand subsumieren und dies straferhöhend berücksichtigen will (vgl. unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 5. Juli 1985 i.S. S., E. 3). In BGE 116 Ia 455 E. 3cc S. 458 hat das Bundesgericht darüber hinaus verlangt, ein Angeschuldigter müsse zur beabsichtigten rechtlichen Würdigung angehört werden, wenn sich das Gericht auf juristische Argumente zu stützen gedenke, die ihm nicht bekannt seien und mit deren Heranziehen er nicht rechnen musste. Wieweit sich dies aus dem Anklagegrundsatz ergibt, wurde offen gelassen, da es jedenfalls aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör hergeleitet werden könne (vgl. allgemein zum Anspruch auf rechtliches Gehör zu Rechtsfragen BGE 124 I 49 E. 3c S. 52; BGE 123 I 63 E. 2d S. 69 mit Hinweis).
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d) aa) Im vorliegenden Fall wurde das Verhalten des Beschwerdeführers unter einen anderen Tatbestand subsumiert als gemäss der Anklage, ohne dass die veränderte obergerichtliche Würdigung zu einer Erhöhung der Strafe geführt hätte (vgl. vorne E. 2b). Zwar erfolgte die Verurteilung wie von der Staatsanwaltschaft beantragt gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG. Bei dieser Bestimmung handelt es sich jedoch um eine Blankettstrafnorm, so dass die durch sie strafbewehrte Verkehrsregel die rechtliche Subsumtion des Sachverhalts darstellt (ähnlich die EKMR in ihrem Bericht zum Fall Chichlian und Ekindjian, a.a.O., Ziff. 58). Diese verletzte Verkehrsregel ist ![]() | 12 |
bb) Wurde der Beschwerdeführer auf Grund eines anderen Straftatbestands als in der Anklage beantragt verurteilt, ist zu prüfen, ob er mit der beabsichtigten neuen rechtlichen Würdigung rechnen musste (vgl. vorne E. 2c/aa; BGE 116 Ia 455 E. 3cc S. 458). Dies muss auf Grund aller Umstände des konkreten Falles beurteilt werden (vgl. auch BGE 111 Ia 101 E. 2b S. 103 f.). Musste er nicht damit rechnen, ist das angefochtene Urteil grundsätzlich wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufzuheben. Ausnahmsweise kann eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs verneint werden, wenn eine Anhörung zur veränderten rechtlichen Würdigung überhaupt keine Auswirkungen auf die Ausübung seiner Verteidigungsrechte haben konnte. Hingegen ist die Möglichkeit zur Stellungnahme wegen der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BGE 125 I 113 E. 3 S. 118) unabhängig davon zu gewähren, ob die Argumente, die der Angeklagte hätte vorbringen können, das Strafurteil voraussichtlich geändert hätten oder nicht.
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e) aa) Einerseits war dem Beschwerdeführer ganz zu Beginn des Strafverfahrens, im Strafbefehl, schon einmal vorgeworfen worden, seine Geschwindigkeit sei unangemessen gewesen. Der schliesslich ausschlaggebende Vorwurf war ihm also bekannt. Dieser wurde jedoch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht einfach zugunsten präziserer Qualifikationen aufgegeben, sondern die Staatsanwaltschaft hielt ausdrücklich fest, dem Beschwerdeführer könne keine unangemessene Geschwindigkeit vorgeworfen werden. Er sei in der Lage gewesen, sein Fahrzeug innert halber Sichtweite anzuhalten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Geschwindigkeit, mit der er fuhr, bei der Anschlussappellation und ihrer Begründung in der Verhandlung vor Obergericht irgend eine Rolle gespielt hätte. Die Staatsanwaltschaft warf ihm ja vor, dass er überhaupt auf die Brücke gefahren sei und nicht vor ihr gewartet habe bzw. zu einer Ausweichstelle zurückgefahren sei. Der Beschwerdeführer musste somit ![]() | 14 |
bb) Wenn der Beschwerdeführer auf die Möglichkeit hingewiesen worden wäre, dass ihm eine unangemessene Geschwindigkeit vorgeworfen werden könnte, hätte er auch tatsächlich zusätzliche Argumente zu seiner Verteidigung vorbringen können. Er hätte zu den vom Obergericht herbeigezogenen Umständen und Überlegungen, warum diese Geschwindigkeit unangemessen gewesen sei, Stellung nehmen können. So hätte er vorbringen können, dass sein Fahrzeug gemäss der Anklage und dem Urteil des Kantonsgerichtspräsidenten zum Kollisionszeitpunkt stillgestanden sei, was nachträglich zeige, dass seine Geschwindigkeit nicht unangemessen gewesen sei. Wenn er gewusst hätte, dass seine Geschwindigkeit zu bewerten war, hätte er auch darauf hinweisen können, dass in der Anklage berechnet und ausgeführt werde, er habe auf halbe Sichtweite anhalten können. Er hätte jedenfalls seine Auffassung über die Sichtweite vorbringen und entsprechende Beweisanträge stellen können.
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f) Zusammenfassend musste der Beschwerdeführer in der konkreten Situation seines Strafverfahrens nicht mit einer Verurteilung wegen unangemessener Geschwindigkeit rechnen, und die unterlassene Anhörung hatte Auswirkungen auf seine Verteidigungsrechte. Daher verstiess es gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, dass ihm das Obergericht keine Gelegenheit gab, zur in Aussicht genommenen neuen rechtlichen Qualifikation des ihm vorgeworfenen Sachverhalts Stellung zu nehmen. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Daher erübrigt sich ein Eingehen auf die übrigen Rügen des Beschwerdeführers.
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