BGE 127 I 213 - Doppelbürger B. | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. September 2001 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK, Art. 29 Abs. 2 und 3 sowie Art. 32 Abs. 2 BV. Strafverfahren. Verurteilung im Abwesenheitsverfahren; Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung; Verteidigungsrechte. |
Ist der in Abwesenheit Verurteilte, der auf sein Anwesenheitsrecht verzichtet hat, nie (wirksam) verteidigt worden, so ist eine Neubeurteilung grundsätzlich zu bewilligen (E. 4). | |
Sachverhalt | |
Mit Entscheid vom 15. Februar 1996 verurteilte das Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft den schweizerisch-französischen Doppelbürger B. in Abwesenheit wegen mehrfacher qualifizierter Veruntreuung zu einer unbedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 16 Monaten. Der Angeklagte, der sich dem noch offenen Vollzug von früher im Kanton Basel-Stadt gegen ihn ausgesprochenen Freiheitsstrafen durch Auswanderung nach Frankreich entzogen hatte und sich zum Zeitpunkt des Baselbieter Strafverfahrens dort aufhielt, appellierte gegen dieses Urteil beim Obergericht des Kantons Basel-Landschaft. Gestützt auf § 168 Abs. 1 des damals geltenden basel-landschaftlichen Gesetzes betreffend die Strafprozessordnung vom 30. Oktober 1941 (aStPO) nahm das Obergericht mit Urteil vom 17. September 1996 an, B. habe wegen seines Nichterscheinens zur Verhandlung auf die Appellation verzichtet und erklärte dieses Rechtsmittel als dahingefallen. Der Angeklagte war sowohl zur Verhandlung vor Strafgericht wie auch vor Obergericht ordnungsgemäss vorgeladen worden. Er begründete sein Fernbleiben im Vorfeld der angesetzten Verhandlungen jeweils schriftlich damit, dass seine Sicherheit bei einer Einreise in die Schweiz nicht gewährleistet sei. Der Angeklagte war wegen den im Kanton Basel-Stadt ausgefällten Freiheitsstrafen zur Fahndung ausgeschrieben gewesen und sein Gesuch um freies Geleit war vom Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt am 12. Februar 1996 abgewiesen worden. Bei einer Festnahme wäre er dem basel-städtischen Strafvollzug zugeführt worden. Aufgrund der französischen Staatsbürgerschaft des Angeklagten hatten die schweizerischen Behörden dessen Auslieferung nicht erwirken können. Der Angeklagte ersuchte sowohl für die Gerichtsverhandlung vor Strafgericht als auch für jene vor Obergericht um amtliche Verteidigung. Vor erster Instanz wurde deren Gewährung gemäss der damaligen basel-landschaftlichen Gerichtspraxis vom persönlichen Erscheinen des Angeklagten an der Hauptverhandlung abhängig gemacht. Vor der Rechtsmittelinstanz wurde die Offizialverteidigung zwar bewilligt, die Appellation indessen trotz gegenteiligen Antrags der an der Verhandlung anwesenden Verteidigerin wegen Nichterscheinens des Angeklagten als dahingefallen erklärt.
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Am 7. Juni 2000 ersuchte B. - zwischenzeitlich in Basel-Stadt in Haft - in Bezug auf das basel-landschaftliche Obergerichtsurteil vom 17. September 1996 um Neubeurteilung (Restitution). Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft wies das Restitutionsgesuch am 20. Februar 2001 ab.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
3. a) Als wesentliches Element des Rechts auf ein faires Verfahren garantiert Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) den Anspruch des Beschuldigten, persönlich an der Verhandlung teilzunehmen (EGMR-Urteil Colozza c. Italien vom 12. Februar 1985, Serie A Nr. 89, Ziff. 27; BGE 126 I 36 E. 1a S. 38 f.; JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl., 1996, Art. 6 N. 94). Ein entsprechendes Recht ergibt sich auch aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. BGE 117 Ib 337 E. 5a S. 343; nicht veröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom 2. November 1994 i.S. L., E. 2a und vom 16. Mai 1994 i.S. B., E. 2a). Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung ist indessen nicht absolut. Nach der Praxis des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind Abwesenheitsverfahren zulässig, sofern der in Abwesenheit Verurteilte nachträglich (grundsätzlich auch nach Eintritt der Vollstreckungsverjährung) verlangen kann, dass ein Gericht, nachdem es ihn zur Sache angehört hat, nochmals überprüft, ob die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen begründet sind (BGE 126 I 36 E. 1a S. 39; BGE 122 I 36 E. 2 S. 37; BGE 122 IV 344 E. 4c S. 349, E. 5c und d S. 352 f. [zur Verjährungsfrage]; BGE 117 Ib 337 E. 5a und b S. 343 f.; BGE 113 Ia 225 E. 2a S. 230; EGMR-Urteile Medenica c. Schweiz vom 14. Juni 2001, Ziff. 54; Krombach c. Frankreich vom 13. Februar 2001, Ziff. 85; Poitrimol c. Frankreich vom 23. November 1993, Serie A Nr. 277-A, Ziff. 31; Colozza, a.a.O., Ziff. 29). Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV gewähren dem in Abwesenheit Verurteilten allerdings kein bedingungsloses Recht, eine Neubeurteilung zu verlangen. Eine solche kann von der Einhaltung bestimmter Formen und Fristen seitens des Gesuchstellers abhängig gemacht werden. Ferner ist es mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV vereinbar, wenn eine Neubeurteilung deswegen abgelehnt wird, weil der in Abwesenheit Verurteilte sich geweigert hat, an der Verhandlung teilzunehmen oder er die Unmöglichkeit, dies zu tun, selber verschuldet hat (BGE 126 I 36 E. 1b S. 39; BGE 113 Ia 225 E. 2a S. 231; Urteil Medenica, a.a.O., Ziff. 58). Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist die Abwesenheit nicht nur im Falle höherer Gewalt (objektive Unmöglichkeit zu erscheinen) gültig entschuldigt, sondern auch im Falle subjektiver Unmöglichkeit aufgrund der persönlichen Umstände oder eines Irrtums (BGE 126 I 36 E. 1b S. 40). Ein allfälliger Verzicht auf das Recht, persönlich an der Verhandlung teilzunehmen, muss nach der Strassburger Praxis in unmissverständlicher Weise erklärt werden und von einem Minimum an Garantien begleitet sein, welche die Auswirkungen des Verzichts ausgleichen (Urteil Poitrimol, a.a.O., Ziff. 31).
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Das Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht ist von zentraler Bedeutung sowohl für dessen Recht, gehört zu werden, als auch für die Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Behauptungen zu überprüfen und diese den Aussagen des Opfers und der Zeugen gegenüberzustellen. Dem Gesetzgeber ist es nach der Strassburger Praxis deshalb unbenommen, Massnahmen vorzusehen, um den Beschuldigten von einem ungerechtfertigten Fernbleiben von der Verhandlung abzuhalten (Urteile Poitrimol, a.a.O., Ziff. 35; Medenica, a.a.O., Ziff. 54). Indessen erachtet es der Strassburger Gerichtshof im Hinblick auf ein faires Verfahren als unverhältnismässige Massnahme, wenn einem Beschuldigten das in Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK verankerte Recht, von einem Anwalt wirksam verteidigt zu werden, mit der Begründung entzogen wird, er sei trotz ordnungsgemässer Vorladung und ohne Entschuldigung zur Verhandlung nicht erschienen. Dies gilt auch für das Recht auf amtliche Verteidigung (Urteile Poitrimol, a.a.O., Ziff. 34; Krombach, a.a.O., Ziff. 84; Van Geyseghem c. Belgien vom 21. Januar 1999, Ziff. 33 f.; Lala und Pelladoah c. Niederlande vom 22. September 1994, Serie A Nr. 297-A bzw. 297-B, Ziff. 33 bzw. 40). Auch die in der Bundesverfassung verankerten Rechte auf Beizug eines Verteidigers nach eigener Wahl (Art. 32 Abs. 2 BV), auf amtliche Verteidigung (Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV) sowie auf wirksame Verteidigung (Art. 32 Abs. 2 BV) dürfen einem Beschuldigten nicht wegen einer unentschuldigten Abwesenheit an der Verhandlung verweigert werden.
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b) Die Frage, ob die Abwesenheit des Verurteilten diesem vorgeworfen werden kann, ist eine Rechtsfrage, die im Zusammenhang mit der Anwendung der Konvention bzw. der Verfassung steht und deshalb vom Bundesgericht frei geprüft wird (BGE 126 I 36 E. 1b S. 40).
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4. Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer Kenntnis von der ordnungsgemäss zugestellten Vorladung zur Appellationsverhandlung des Obergerichts hatte und später die zehntägige Restitutionsfrist einhielt. Umstritten ist, ob die drohende Verhaftung des Beschwerdeführers eine subjektive Unmöglichkeit darstellt, die sein Nichterscheinen vor Obergericht im Sinne eines unabwendbaren Hindernisses (§ 166 Abs. 1 aStPO) zu entschuldigen vermag. Umstritten ist ferner, ob sein Entscheid, der Appellationsverhandlung fernzubleiben, als Verzicht darauf zu werten ist, persönlich an der Verhandlung teilzunehmen (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV) sowie von einem Offizialverteidiger wirksam verteidigt zu werden (Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV).
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Der Beschwerdeführer bekundete zwar sein Interesse an der Verhandlung vor Obergericht, indem er um freies Geleit und um Dispensation ersuchte. Die selbst bestimmte Abwesenheit aus Furcht vor dem Vollzug einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe kann jedoch nicht als subjektive Unmöglichkeit gewertet werden, die ein Nichterscheinen vor Gericht zu entschuldigen vermöchte. Der Beschwerdeführer mag sich zwar aus persönlicher Sicht in einer psychischen Notlage befunden haben. Zugute zu halten ist ihm zudem, dass er sich im Jahre 2000 den Basler Behörden freiwillig stellte. Dennoch wiegt hier das öffentliche Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens (auch gegen einen Abwesenden) schwerer als das gegenläufige persönliche Interesse daran, sich einer in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe durch Flucht zu entziehen. Unbehelflich ist auch das Argument, dass Flucht vor Strafvollzug und Selbstbegünstigung nicht strafbar seien.
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Der Beschwerdeführer verzichtete sowohl vor erster als auch vor der Appellationsinstanz ausdrücklich und in unmissverständlicher Weise auf sein Recht, persönlich an den Verhandlungen teilzunehmen. Indes ersuchte er sowohl vor Straf- als auch vor Obergericht um amtliche Verteidigung. Zudem erklärte er dem Obergericht schriftlich, dass sein Nichterscheinen nicht als Verzicht gelte, womit - im Zusammenhang gelesen - wohl gemeint war, dass er auf die Appellation nicht verzichte. Der Beschwerdeführer verzichtete zwar auf sein Recht auf persönliche Anwesenheit, nicht jedoch auf sein Recht, durch einen Offizialverteidiger vertreten zu werden. Dass die Voraussetzungen für die Gewährung der amtlichen Verteidigung nach kantonalem Recht vorlagen, wird nicht bestritten. Wie bereits oben (E. 3a) dargelegt, kann der Gesetzgeber Massnahmen vorsehen, um Beschuldigte von einem ungerechtfertigten Fernbleiben von der Gerichtsverhandlung abzuhalten. Die Versagung von Verteidigungsrechten im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK bzw. Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV wegen unentschuldigter Säumnis stellt jedoch eine unverhältnismässige Massnahme dar. Wegen der zentralen Bedeutung der persönlichen Anwesenheit des Beschuldigten für ein faires Strafverfahren muss zudem der Verzicht auf das Anwesenheitsrecht soweit möglich durch die Sicherstellung einer wirksamen Verteidigung ausgeglichen werden, sofern der Beschuldigte - ausserhalb des Bereiches der notwendigen Verteidigung - nicht auch darauf verzichtet. Im vorliegenden Fall wurde dem Beschwerdeführer vor Strafgericht die amtliche Verteidigung verwehrt, da er nicht persönlich zur Verhandlung erschien. Vor Obergericht war ihm zwar eine Offizialverteidigerin beigegeben worden. Die Appellation wurde jedoch wegen Nichterscheinens des Beschwerdeführers als dahingefallen betrachtet und somit gar nicht materiell behandelt.
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Angesichts des Umstandes, dass der Angeklagte in Abwesenheit zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt wurde, ohne dass er weder vor erster noch wirksam vor zweiter Instanz verteidigt wurde, hätte eine konventions- und verfassungskonforme Auslegung von § 166 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO geboten, in der vorliegenden Konstellation die Neubeurteilung zu bewilligen. § 168 Abs. 1 aStPO wäre einer konventions- bzw. verfassungskonformen Auslegung auch zugänglich gewesen, sieht diese Bestimmung doch vor, dass wegen Nichterscheinens des Angeklagten Verzicht auf die Appellation dann angenommen wird, wenn sich der Angeklagte erst nach Fällung des Urteils des Strafgerichts durch Flucht der Vollstreckung entzogen hat. Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer bereits vor der erstinstanzlichen Verhandlung, allerdings wegen einer im Kanton Basel-Stadt gegen ihn ausgesprochenen Freiheitsstrafe, geflohen. Die Bewilligung einer Neubeurteilung hätte den Mangel, dass der in Abwesenheit Verurteilte nie verteidigt wurde, zu heilen vermocht.
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Da sich § 166 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO im vorliegenden Fall konventions- bzw. verfassungskonform auslegen lassen, braucht nicht geprüft zu werden, ob sich diese Bestimmungen als solche mit der Konvention bzw. der Verfassung vereinbaren lassen. Immerhin ist anzumerken, dass § 197 Abs. 2 des neuen Gesetzes betreffend die Strafprozessordnung vom 3. Juni 1999 (StPO) im Abwesenheitsverfahren vor dem Strafgericht vorsieht, dass die Verteidigung am Verfahren teilnehmen kann, wenn die angeklagte Person eine solche hat. Diese Bestimmung bietet Raum dafür, eine Konstellation, wie sie hier vorliegt, zu vermeiden.
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