![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. September 2001 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK, Art. 29 Abs. 2 und 3 sowie Art. 32 Abs. 2 BV. Strafverfahren. Verurteilung im Abwesenheitsverfahren; Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung; Verteidigungsrechte. |
Ist der in Abwesenheit Verurteilte, der auf sein Anwesenheitsrecht verzichtet hat, nie (wirksam) verteidigt worden, so ist eine Neubeurteilung grundsätzlich zu bewilligen (E. 4). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Am 7. Juni 2000 ersuchte B. - zwischenzeitlich in Basel-Stadt in Haft - in Bezug auf das basel-landschaftliche Obergerichtsurteil vom 17. September 1996 um Neubeurteilung (Restitution). Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft wies das Restitutionsgesuch am 20. Februar 2001 ab.
| 2 |
3 | |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
| 4 |
Aus den Erwägungen: | |
3. a) Als wesentliches Element des Rechts auf ein faires Verfahren garantiert Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) den Anspruch des Beschuldigten, persönlich an der Verhandlung teilzunehmen (EGMR-Urteil Colozza c. Italien vom 12. Februar 1985, Serie A Nr. 89, Ziff. 27; BGE 126 I 36 E. 1a S. 38 f.; JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl., 1996, Art. 6 N. 94). Ein entsprechendes Recht ergibt sich auch aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. BGE 117 Ib 337 E. 5a S. 343; nicht veröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom 2. November 1994 i.S. L., E. 2a und vom 16. Mai 1994 i.S. B., E. 2a). Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung ist indessen nicht absolut. Nach der Praxis des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind Abwesenheitsverfahren zulässig, sofern der in Abwesenheit Verurteilte nachträglich (grundsätzlich auch nach Eintritt der Vollstreckungsverjährung) verlangen kann, dass ein Gericht, nachdem es ihn zur Sache angehört hat, nochmals überprüft, ob die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen begründet sind (BGE 126 I 36 E. 1a S. 39; BGE 122 I 36 E. 2 S. 37; BGE 122 IV 344 E. 4c S. 349, E. 5c und d S. 352 f. [zur Verjährungsfrage]; BGE 117 Ib 337 E. 5a und b S. 343 f.; BGE 113 Ia 225 E. 2a S. 230; EGMR-Urteile Medenica c. Schweiz vom 14. Juni 2001, Ziff. 54; Krombach c. Frankreich vom 13. Februar 2001, Ziff. 85; Poitrimol c. Frankreich vom 23. November 1993, Serie A Nr. 277-A, Ziff. 31; Colozza, a.a.O., Ziff. 29). Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV gewähren dem in Abwesenheit Verurteilten allerdings kein bedingungsloses Recht, eine Neubeurteilung zu verlangen. Eine solche kann von der Einhaltung bestimmter Formen und Fristen seitens des Gesuchstellers abhängig gemacht werden. Ferner ist es mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV vereinbar, wenn eine Neubeurteilung deswegen abgelehnt wird, weil der in Abwesenheit Verurteilte sich geweigert hat, an der Verhandlung ![]() | 5 |
Das Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht ist von zentraler Bedeutung sowohl für dessen Recht, gehört zu werden, als auch für die Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Behauptungen zu überprüfen und diese den Aussagen des Opfers und der Zeugen gegenüberzustellen. Dem Gesetzgeber ist es nach der Strassburger Praxis deshalb unbenommen, Massnahmen vorzusehen, um den Beschuldigten von einem ungerechtfertigten Fernbleiben von der Verhandlung abzuhalten (Urteile Poitrimol, a.a.O., Ziff. 35; Medenica, a.a.O., Ziff. 54). Indessen erachtet es der Strassburger Gerichtshof im Hinblick auf ein faires Verfahren als unverhältnismässige Massnahme, wenn einem Beschuldigten das in Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK verankerte Recht, von einem Anwalt wirksam verteidigt zu werden, mit der Begründung entzogen wird, er sei trotz ordnungsgemässer Vorladung und ohne Entschuldigung zur Verhandlung nicht erschienen. Dies gilt auch für das Recht auf amtliche Verteidigung (Urteile Poitrimol, a.a.O., Ziff. 34; Krombach, a.a.O., Ziff. 84; Van Geyseghem c. Belgien vom 21. Januar 1999, Ziff. 33 f.; Lala und Pelladoah c. Niederlande vom 22. September 1994, Serie A Nr. 297-A bzw. 297-B, Ziff. 33 bzw. 40). Auch die in der Bundesverfassung verankerten Rechte auf Beizug eines Verteidigers nach eigener Wahl (Art. 32 Abs. 2 BV), auf amtliche Verteidigung (Art. 32 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 3 BV) sowie auf wirksame Verteidigung (Art. 32 Abs. 2 BV) dürfen einem Beschuldigten nicht wegen einer unentschuldigten Abwesenheit an der Verhandlung verweigert werden.
| 6 |
b) Die Frage, ob die Abwesenheit des Verurteilten diesem vorgeworfen werden kann, ist eine Rechtsfrage, die im Zusammenhang mit der Anwendung der Konvention bzw. der Verfassung steht und deshalb vom Bundesgericht frei geprüft wird (BGE 126 I 36 E. 1b S. 40).
| 7 |
![]() | 8 |
Der Beschwerdeführer bekundete zwar sein Interesse an der Verhandlung vor Obergericht, indem er um freies Geleit und um Dispensation ersuchte. Die selbst bestimmte Abwesenheit aus Furcht vor dem Vollzug einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe kann jedoch nicht als subjektive Unmöglichkeit gewertet werden, die ein Nichterscheinen vor Gericht zu entschuldigen vermöchte. Der Beschwerdeführer mag sich zwar aus persönlicher Sicht in einer psychischen Notlage befunden haben. Zugute zu halten ist ihm zudem, dass er sich im Jahre 2000 den Basler Behörden freiwillig stellte. Dennoch wiegt hier das öffentliche Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens (auch gegen einen Abwesenden) schwerer als das gegenläufige persönliche Interesse daran, sich einer in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe durch Flucht zu entziehen. Unbehelflich ist auch das Argument, dass Flucht vor Strafvollzug und Selbstbegünstigung nicht strafbar seien.
| 9 |
Der Beschwerdeführer verzichtete sowohl vor erster als auch vor der Appellationsinstanz ausdrücklich und in unmissverständlicher Weise auf sein Recht, persönlich an den Verhandlungen teilzunehmen. Indes ersuchte er sowohl vor Straf- als auch vor Obergericht um amtliche Verteidigung. Zudem erklärte er dem Obergericht schriftlich, dass sein Nichterscheinen nicht als Verzicht gelte, womit - im Zusammenhang gelesen - wohl gemeint war, dass er auf die Appellation nicht verzichte. Der Beschwerdeführer verzichtete zwar auf sein Recht auf persönliche Anwesenheit, nicht jedoch auf sein Recht, durch einen Offizialverteidiger vertreten zu werden. Dass die Voraussetzungen für die Gewährung der amtlichen Verteidigung nach kantonalem Recht vorlagen, wird nicht bestritten. Wie bereits ![]() | 10 |
Angesichts des Umstandes, dass der Angeklagte in Abwesenheit zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt wurde, ohne dass er weder vor erster noch wirksam vor zweiter Instanz verteidigt wurde, hätte eine konventions- und verfassungskonforme Auslegung von § 166 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO geboten, in der vorliegenden Konstellation die Neubeurteilung zu bewilligen. § 168 Abs. 1 aStPO wäre einer konventions- bzw. verfassungskonformen Auslegung auch zugänglich gewesen, sieht diese Bestimmung doch vor, dass wegen Nichterscheinens des Angeklagten Verzicht auf die Appellation dann angenommen wird, wenn sich der Angeklagte erst nach Fällung des Urteils des Strafgerichts durch Flucht der Vollstreckung entzogen hat. Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer bereits vor der erstinstanzlichen Verhandlung, allerdings wegen einer im Kanton Basel-Stadt gegen ihn ausgesprochenen Freiheitsstrafe, geflohen. Die Bewilligung einer Neubeurteilung hätte den Mangel, dass der in Abwesenheit Verurteilte nie verteidigt wurde, zu heilen vermocht.
| 11 |
Da sich § 166 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 Abs. 1 aStPO im vorliegenden Fall konventions- bzw. verfassungskonform auslegen lassen, braucht nicht geprüft zu werden, ob sich diese Bestimmungen als solche mit der Konvention bzw. der Verfassung vereinbaren lassen. Immerhin ist anzumerken, dass § 197 Abs. 2 des neuen Gesetzes betreffend die Strafprozessordnung vom 3. Juni 1999 ![]() | 12 |
13 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |