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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Justiz- und Polizeidepartement sowie Präsident des Verwaltungsgerichtes des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.203/2002 vom 14. August 2002> | |
Regeste |
Art. 29 Abs. 3 BV; Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Massnahmevollzug. |
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für ein Verfahren um Urlaubsgewährung im konkreten Fall bejaht (E. 2.5). | |
Sachverhalt | |
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X. befindet sich seit dem 8. Februar 1994 in der Strafanstalt Pöschwies (Kanton Zürich). Während des Massnahmevollzugs war er verschiedentlich in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Rheinau hospitalisiert. Das für den Vollzug zuständige Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen prüfte regelmässig die Weiterführung der Massnahme und befand diese jeweils für richtig.
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Zur Zeit prüft das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen die Bewilligung von Vollzugslockerungen in Form von - auch vom Verwahrten gewünschten - begleiteten Tagesurlauben sowie die Frage der weiteren Ausgestaltung des Vollzugs. Grundlage hierfür bildet ein Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom 31. Juli 2001. Inzwischen liegen auch Stellungnahmen des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Justizvollzugs des Kantons Zürich wie auch der Strafanstalt Pöschwies dazu vor. Ferner hat die Fachkommission des Ostschweizer Strafvollzugskonkordates zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern und Straftäterinnen mit Schreiben vom 19. Juni 2002 zur Frage der Urlaubsgewährung und der weiteren Vollzugsplanung Stellung genommen.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Wie aus dem Brief des St. Galler Justiz- und Polizeidepartements vom 4. Juli 2002 an den Rechtsvertreter des Verwahrten hervorgeht, sieht dieses vor, im Zusammenhang mit der anstehenden jährlichen Überprüfung der Massnahme den Beschwerdeführer anzuhören und danach über die Bewilligung von Vollzugslockerungen förmlich zu ![]() | 7 |
Zu prüfen ist, ob grundsätzlich ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für folgende drei Konstellationen zu bejahen ist: für das konkrete Verfahren um Urlaubsgewährung (E. 2.4.1), für die gesamte Dauer des Vollzugs hinsichtlich der jährlichen Überprüfung der Massnahme im Sinne von Art. 45 Ziff. 1 StGB (E. 2.4.2), für die Vollzugsplanung bzw. Ausgestaltung der Massnahme (E. 2.4.3).
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2.4.2 Der Beschwerdeführer beantragt ferner die unentgeltliche Verbeiständung für die gesamte Dauer des Vollzugs hinsichtlich der jährlichen Überprüfung der Massnahme. Da die Bejahung eines verfassungsmässigen Anspruchs auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung jeweils davon abhängt, ob in einem bestimmten Verfahren eine bedürftige Person im Hinblick auf die Tragweite des zu fällenden Entscheides und die Schwierigkeiten der damit verbundenen Fragen auf einen Rechtsbeistand angewiesen ist, sich die konkreten Verhältnisse und Fragestellungen von Verfahren zu Verfahren indessen verändern können, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für noch nicht eingeleitete, zukünftige Verfahren. Wenn auch die jährliche, von Amtes wegen vorzunehmende Überprüfung der Massnahme gemäss ![]() | 10 |
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Der Beschwerdeführer wurde vom Kanton St. Gallen in die Zürcher Strafanstalt Pöschwies eingewiesen. Nach Art. 9 Abs. 1 der Vereinbarung vom 19. Juni 1975 der Kantone Zürich, Glarus, Schaffhausen, Appenzell A. Rh., Appenzell I. Rh., St. Gallen, Graubünden und Thurgau über den Vollzug freiheitsentziehender Strafen und Massnahmen gemäss Schweizerischem Strafgesetzbuch und Versorgungen gemäss eidgenössischem und kantonalem Recht (Ostschweizer Strafvollzugskonkordat; SR 343.1) ist für Entscheide im Sinne von Art. 43 und 45 StGB der einweisende Kanton zuständig. Laut Art. 11 Abs. 1 des Ostschweizer Strafvollzugskonkordats richtet sich der Vollzug nach den Vorschriften für die einzelnen Anstalten. Sie werden von dem Kanton erlassen, der die Anstalt führt. Der Vollzug in der Strafanstalt Pöschwies richtet sich folglich nach dem Zürcher Gesetz vom 30. Juni 1974 über das kantonale Strafrecht und den Vollzug von Strafen und Massnahmen (Kantonales Straf- und Vollzugsgesetz) und insbesondere nach der am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Justizvollzugsverordnung vom ![]() | 12 |
§ 77 Erstellung und Inhalt
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Nach Eintritt erstellt die Vollzugseinrichtung für die verurteilte Person einen Vollzugsplan, sofern der noch zu verbüssende Freiheitsentzug mehr als sechs Monate dauert.
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Der Vollzugsplan legt die Vollzugsziele, die Unterbringung in der Vollzugseinrichtung, den Arbeitsplatz, die schulische und berufliche Ausbildung und Weiterbildung, die notwendige besondere Betreuung und den Therapiebedarf fest.
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§ 78 Anpassung
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Der Vollzugsplan wird periodisch überprüft und bei Bedarf angepasst. Die Überprüfung erfolgt in Abständen, die der Dauer der Strafe oder der Art der Massnahme Rechnung tragen.
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§ 79 Zusammenarbeit mit der einweisenden Stelle
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Die Vollzugseinrichtung orientiert die einweisende Stelle über die Vollzugsplanung. Auf Verlangen wird die einweisende Stelle in die Vollzugsplanung einbezogen.
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Zuständig für die Vollzugsplanung ist gemäss diesen Bestimmungen die Vollzugseinrichtung, hier also die Strafanstalt Pöschwies, wobei ein Mitwirkungsrecht der einweisenden Stelle, also des St. Galler Justiz- und Polizeidepartements, vorgesehen wird.
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Angesichts der unbestimmten Dauer einer Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, bei welcher es sich nach der bundesgerichtlichen Praxis sowohl um eine sichernde als auch um eine bessernde Massnahme handelt (BGE 123 IV 100 E. 2 S. 103), kommt der Vollzugsplanung einschliesslich der Planung von Lockerungsschritten für die verwahrte Person grosse Bedeutung zu. Es erscheint denn auch sinnvoll, die verwahrte Person und allenfalls nahe Familienangehörige, Vertrauenspersonen, Vormünder oder auch Rechtsbeistände soweit als möglich in die Vollzugsplanung einzubeziehen. In § 80 Abs. 2 der Justizvollzugsverordnung wird ausdrücklich vorgesehen, dass verurteilte Personen nach ihrem Eintritt in die Vollzugseinrichtung Gelegenheit zum Gespräch mit deren Leitung oder Betreuungsdienst erhalten. Indessen ist zu beachten, dass es bei der Vollzugsplanung um die Ausgestaltung eines durch Gerichtsurteil angeordneten Freiheitsentzuges geht. Ferner regelt der Vollzugsplan unterschiedliche Materien von der Bestimmung der Vollzugsziele über die Unterbringung, Beschäftigung, Aus- und Weiterbildung bis ![]() | 21 |
Hingegen kann ein Vollzugsplan eine wesentliche Grundlage für die Meinungsbildung und Entscheidfindung in einem von Amtes wegen oder auf Gesuch hin eingeleiteten Verwaltungsverfahren sein, in welchem - bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen - ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung gegeben ist. Zu denken ist etwa an Verfahren um Prüfung der probeweisen Entlassung, der Bewilligung von Vollzugslockerungen oder der Zulässigkeit von Vollzugs- bzw. medizinischen (Zwangs-) Massnahmen. In einem solchen Verfahren muss auch das Fehlen, die Unvollständigkeit, Rechtswidrigkeit oder Unzweckmässigkeit eines Vollzugsplanes gerügt werden können, sofern ein enger Sachzusammenhang mit dem Verfahrensgegenstand besteht.
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2.4.4 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für das Verfahren um Urlaubsgewährung grundsätzlich ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht, sofern die in Art. 29 Abs. 3 BV vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Hingegen ergibt sich ![]() | 23 |
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2.5.2 Bei der Klärung der Frage, ob eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung sachlich notwendig ist, sind die konkreten Umstände des Einzelfalls und die Eigenheiten der anwendbaren (kantonalen) Verfahrensvorschriften zu berücksichtigen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat die bedürftige Partei Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen (BGE 122 I 49 E. 2c/bb S. 51, 275 E. 3a S. 276; BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 44 f. mit Hinweisen). Falls das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition des Betroffenen eingreift, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten. Dies trifft insbesondere im Strafprozess zu, wenn dem Angeschuldigten eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst. In BGE 117 Ia 277 E. 5b/bb S. 282 hat das Bundesgericht offen gelassen, ob in einem Verfahren betreffend Rückversetzung in den Massnahmenvollzug nach bedingter oder probeweiser Entlassung gemäss Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB für den Betroffenen derart viel auf dem Spiel stand, dass die Notwendigkeit einer anwaltlichen Verbeiständung von vornherein zu bejahen gewesen wäre. Droht zwar eine erhebliche, nicht aber eine besonders schwere Freiheitsbeschränkung, ![]() | 26 |
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 1994 in der Strafanstalt Pöschwies in Verwahrung. Soweit aus den Akten hervorgeht, sind ihm während dieser Zeit keine Urlaube gewährt worden. Der Entscheid über die erstmalige Bewilligung eines begleiteten Urlaubs ist für eine verwahrte Person von einiger Tragweite. Im Gegensatz zu einer Freiheitsstrafe ist die Verwahrung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zeitlich nicht begrenzt. Die Verwahrung kann zudem in einer Strafanstalt vollzogen werden, womit sie letztlich einer Freiheitsstrafe unbestimmter Dauer gleichkommt (vgl. GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, Bern 1989, § 11, N. 139). Anders als im Strafvollzug, in dem der Gefangene spätestens mit dem Ablauf der Strafdauer entlassen werden muss und in dem Vollzugslockerungen normalerweise in bestimmten Zeitabschnitten stufenweise geplant und allenfalls gewährt werden, ist die Bewilligung von Vollzugslockerungen im Verwahrungsvollzug abhängig von der individuellen Entwicklung der verwahrten Person und von der Beurteilung der von ihr ausgehenden Gefährdung der Öffentlichkeit. Dabei ist die Bewährung bei ersten geringeren Vollzugslockerungen in der Regel zwingende Voraussetzung für die Gewährung weitergehender Freiheiten. Die Bewilligung eines begleiteten Urlaubs hat somit nicht nur Bedeutung für den Anspruch des Verwahrten auf Kontakt mit der Aussenwelt, welcher zu den Freiheiten der Persönlichkeitsentfaltung gehört, die durch Art. 10 Abs. 2 BV geschützt sind (Urteil des Bundesgerichts 1P.188/2000 vom 21. Juni 2000, E. 2b; vgl. auch § 30 Ziff. 6 des Zürcher Straf- und Vollzugsgesetzes), sondern insbesondere auch Auswirkungen auf die Gewährung weiterer Vollzugslockerungen bis hin zur probeweisen oder definitiven Entlassung und damit letztlich auf die Dauer der Verwahrung. Aus dieser ![]() | 27 |
Der Umstand, dass das St. Galler Justiz- und Polizeidepartement die Frage der Urlaubsgewährung im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Massnahme gemäss Art. 45 Ziff. 1 StGB vornehmen will, bei welcher die Behörde von Amtes wegen zu prüfen hat, ob und wann die probeweise Entlassung anzuordnen sei und bei welcher in allen Fällen der Verwahrte oder dessen Vertreter anzuhören ist, schliesst die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht aus (vgl. BGE 117 Ia 277 E. 5a S. 282). Im Gegenteil kann sie gerade zur Wahrnehmung des auch gesetzlich vorgesehenen Anspruchs auf rechtliches Gehör geboten sein. Bei der Frage der Urlaubsgewährung hat die Behörde namentlich zu prüfen, ob sich der psychisch-geistige Zustand sowie eine allfällige Persönlichkeitsstörung des Verwahrten, welche die Anordnung der Verwahrung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erforderlich machten, insoweit verändert haben, dass eine Urlaubsgewährung unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung der Öffentlichkeit vertretbar ist. Diese tatsächlichen Fragen sind nicht leicht zu beurteilen und erfordern in aller Regel, zumal bei einer erstmaligen Urlaubsgewährung, den Beizug medizinischer Sachverständiger. Im vorliegenden Fall diagnostizierte der Gutachter der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich beim Beschwerdeführer eine unter Behandlung remittierte schizophren-psychotische Störung und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung. Hinsichtlich der Legalprognose kam der Gutachter zum Schluss, dass - bei konsequenter Fortführung der psychopharmakologischen Behandlung - zur Zeit ein gegenüber dem Zeitpunkt der Tatbegehung oder auch des Massnahmenbeginns deutlich vermindertes Risiko bestehe, dass der Verwahrte erneut Gewalthandlungen begehe. Aufgrund seiner Persönlichkeitsmerkmale - unter anderem Impulshaftigkeit und beschränkte Fähigkeit, Belastungen in sozial angemessener Weise zu bewältigen - könne das Risiko der Begehung weiterer Gewalthandlungen indessen nicht ![]() | 28 |
Nach dem Gesagten erweist sich die unentgeltliche Verbeiständung als notwendig. Dass auch das Departement einen Rechsbeistand, zumindest für das Verfahren um Urlaubsgewährung, als erforderlich erachtet, geht daraus hervor, dass es dem Rechtsvertreter das Gutachten wie auch die Stellungnahme der Fachkommission zustellte und ihn aufforderte, dazu Stellung zu nehmen. Auch vormundschaftliche Massnahmen vermöchten für das Verfahren der Urlaubsgewährung eine Rechtsverbeiständung nicht zu ersetzen.
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Der Beschwerdeführer hatte das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung am 26. August 2001 gestellt. Nachdem das St. Galler Justiz- und Polizeidepartement vorerst darauf nicht reagierte, ersuchte er mit Schreiben vom 29. Oktober und 6. November nochmals darum. Zur Zeit der Gesuchseinreichung lag das psychiatrische Gutachten vor, welches die Gewährung begleiteter Tagesurlaube als vertretbar erachtet. Zur Zeit der Gesuchseinreichung erschien das Verfahren nicht zum vornherein aussichtslos. Daran ändert nichts, dass nun die Fachkommission zu einer anderen Einschätzung gekommen ist. Der Entscheid über die erstmalige Bewilligung eines begleiteten Urlaubs seit dem Beginn des Verwahrungsvollzugs im Jahre 1994 ist für den Beschwerdeführer - wie dargelegt (E. 2.5.2) - von einiger Tragweite.
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3. Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid insoweit den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV), als der Präsident des Verwaltungsgerichts darin die unentgeltliche Bestellung eines Rechtsbeistandes für das Verfahren um Urlaubsgewährung verweigert hat. In diesem Umfang ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Im Übrigen ist die staatsrechtliche Beschwerde unbegründet und daher abzuweisen. (...)
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