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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.396/2002 vom 13. November 2002 | |
Regeste |
Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 EMRK; verfassungsrechtliche Anforderungen an die gerichtliche Verwertung der Überwachung fremdsprachiger Telefongespräche. |
Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör als Teilaspekt des Grundsatzes des fairen Verfahrens folgenden Verteidigungsrechte erheischen, dass aktenmässig belegt ist, wie Beweismittel produziert wurden (hier deutsche Protokolle von abgehörten fremdsprachigen Telefongesprächen; E. 4.1-4.3). |
Der Angeklagte kann sich darauf beschränken, die Verwertbarkeit von Beweismitteln zu bestreiten, ohne im Voraus die Verbesserung der geltend gemachten Mängel verlangt zu haben (hier namentlich die Bekanntgabe der Verfasser der Telefonabhörprotokolle; E. 4.4). | |
Sachverhalt | |
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 und 29 Abs. 1 BV beantragt X., das obergerichtliche Urteil aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt den angefochtenen Entscheid auf.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Die Verurteilung des Beschwerdeführers stützt sich massgeblich auf die Protokolle der von der Bundesanwaltschaft angeordneten Überwachung verschiedener Telefonanschlüsse (z.B. angefochtenes Urteil S. 33 Ziff. 3b, S. 34 Ziff. 4, S. 35 Ziff. 5 und 6). Der Beschwerdeführer macht - wie schon vor Bezirks- und vor Obergericht - geltend, die Verwertung dieser Telefonprotokolle zu ![]() | 3 |
Erwägung 3 | |
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3.2 Die Aargauer Strafprozessordnung vom 11. November 1958 (StPO/AG) enthält keine speziellen Vorschriften darüber, in welcher Form die in einer fremden Sprache abgehörten Telefongespräche in den Prozess eingeführt werden müssen. Nach § 104 kann hingegen von einem Beamten, Arzt oder Anwalt, der über eigene Wahrnehmungen in seiner amtlichen oder beruflichen Stellung Auskunft gegeben hat, ein schriftlicher Bericht einverlangt werden. Hat eine solche Person einen Bericht erstattet oder rapportiert, ist sie nur dann als Zeuge einzuvernehmen, "wenn ihrer Aussage für die Feststellung einer bestrittenen erheblichen Tatsache wesentliche Bedeutung zukommt". Nach § 108 StPO/AG sind Sachverständige beizuziehen, wenn "die Feststellung oder die tatsächliche Würdigung des Sachverhaltes besondere Fachkenntnisse oder Fertigkeiten erfordert". Die Ernennung von Sachverständigen ist den Parteien bekannt zu machen und es ist ihnen Gelegenheit zu geben, sachliche oder persönliche Einwände zu erheben (§ 109 Abs. 1 StPO/AG). Die ![]() | 5 |
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Erwägung 4 | |
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Aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV bzw. Art. 6 Ziff. 3 EMRK verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör, welcher einen wichtigen und deshalb eigens aufgeführten Teilaspekt des allgemeineren Grundsatzes des fairen Verfahrens von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt (so für die EMRK ausdrücklich JACQUES VELU/RUSEN ERGEC, La convention européenne des droits de l'homme, Bruxelles 1990, N. 591; MARK VILLIGER, Handbuch der EMRK, 2. Aufl., Zürich 1999, N. 470 f.) ergibt sich für den Angeklagten das grundsätzlich uneingeschränkte Recht, in alle für das Verfahren wesentlichen Akten Einsicht zu nehmen (BGE 121 I 225 E. 2a mit Hinweisen). Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass der Angeklagte als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigen ![]() | 8 |
Für die Rechtslage unter dem BÜPF hält THOMAS HANSJAKOB (Kommentar zum BÜPF/VÜPF, St. Gallen 2002, N. 23 zu Art. 13 BÜPF) denn auch fest, dass die Transkription von Telefonüberwachungen für die anordnende Behörde und das Gericht nachvollziehbar sein muss und empfiehlt den Gerichten daher, die Bänder mit den Aufzeichnungen herauszuverlangen. In seiner "Checkliste für die anordnende Behörde" (a.a.O., Anhang B. Ziff. 3, S. 365 f.) sieht er überdies den Erlass einer Auswertungsverfügung an die auswertende Behörde vor, welche u.a. die Bezeichnung der auswertenden Personen und der Dolmetscher bzw. die Anordnung zur Meldung dieser Personen und deren Unterrichtung über die einschlägigen Geheimhaltungspflichten und die Straffolgen nach Art. 307 StGB enthalten soll.
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4.2 Zu Recht bringt der Beschwerdeführer daher vor, es sei unhaltbar, die erwähnten, übersetzten Telefonabhörungsprotokolle zu seinen Lasten zu verwerten, da den Strafakten nicht zu entnehmen ist, wer sie wie produziert hat. Diese Protokolle der erfassten, in albanischer Sprache geführten Gespräche liegen in maschinenschriftlicher Form in deutscher Übersetzung bei den Akten. Es ist weder ersichtlich, wer sie erstellt hat noch ob diese Personen Beamte sind oder auf die Straffolgen von Art. 307 StGB für falsches Gutachten oder falsche Übersetzung hingewiesen wurden. Ebenso wenig ist bekannt, wie sie zustande gekommen sind, ob die Tonkassetten direkt übersetzt wurden oder ob zunächst Niederschriften in albanischer Sprache erstellt und diese dann übersetzt wurden. Damit ist die Erhebung dieser Beweismittel weder für das Gericht noch den ![]() | 10 |
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Das Obergericht hätte daher Anlass gehabt, den (begründeten) Einwänden gegen die Verwertbarkeit der Telefonprotokolle in der Berufung vom 11. Juni 2001 Rechnung zu tragen und vor der Berufungsverhandlung abklären können und müssen, wer an der Erstellung der umstrittenen Protokolle beteiligt war und wie diese Personen instruiert waren; da es nicht um Protokolle von Zeugeneinvernahmen geht, für die die strengen Formvorschriften von § 100 Abs. 2 StPO/AG gelten, hätte es genügt, den Angeklagten über das Ergebnis der Abklärungen zu informieren, und ihm Gelegenheit zu geben, allfällige Einwände zu erheben, um die Protokolle (unter dem Vorbehalt begründeter Einwände) verwertbar zu machen. Es hätte diese entscheidenden Beweise allenfalls auch nach § 27 StPO/AG durch Anhörung der Tonträger und deren unmittelbare Übersetzung an der Berufungsverhandlung selber erheben können.
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4.4 Unhaltbar ist die Auffassung des Obergerichts, die erstmals vor Bezirksgericht erhobene Rüge sei verspätet, da der Beschwerdeführer bereits im Untersuchungsverfahren Gelegenheit gehabt habe, die Bekanntgabe des polizeilichen Sachbearbeiters und des Übersetzers zu verlangen und deren richtige Instruktion überprüfen zu lassen. Wie der Beschwerdeführer zu Recht darlegt, war es Sache der Untersuchungsbehörden, seine Schuld nach den einschlägigen verfassungs- und strafprozessrechtlichen Regeln nachzuweisen. Er konnte sich darauf beschränken, die Verwertbarkeit der Beweismittel zu bestreiten, was er in Bezug auf die Abhörungsprotokolle auch ausdrücklich tat. Einen solchen Einwand hätte er grundsätzlich auch im Berufungsverfahren neu vorbringen können, sind doch darin neben rechtlichen nach § 220 StPO/AG auch tatsächliche Noven zulässig.
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