BGE 129 I 103 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Winterthur und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.335/2002 vom 10. Dezember 2002 | |
Regeste |
Anwendbarkeit der Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die Beschlagnahme von Hanfpflanzen. |
Die angefochtene Beschlagnahme bis zum Abschluss des Strafverfahrens verhindert die Verwendung der Hanfpflanzen zum vorgesehenen Zweck, entwertet sie auf diese Weise und schränkt damit die Erwerbstätigkeit des Beschuldigten für eine unbestimmte Zeitspanne ein. Damit kommt dieser Beschlagnahme mit Blick auf die EMRK-Rechtsschutzgarantien ähnlich einer Vernichtungsanordnung der Charakter eines Eingriffs in ein "civil right" zu (E. 2.3). |
Da die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich keine richterliche Behörde ist und das Bundesgericht die Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde vorliegend nicht selbst gewährleisten kann, ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einer kantonalen gerichtlichen Instanz zu ermöglichen (E. 3). | |
Sachverhalt | |
Die Bezirksanwaltschaft Winterthur führt gegen die Verantwortlichen einer Gärtnerei eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässiger Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Mit Verfügung vom 25. März 2002 beschlagnahmte die Bezirksanwaltschaft in dieser Gärtnerei ca. 15'000 Hanfpflanzen und 41'000 Hanfstecklinge. Sie beliess die Pflanzen, welche nach der Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich einen THC-Gehalt von einem bis zweieinhalb Prozent aufwiesen, in den Gewächshäusern und ordnete unter anderem an, dass nur die Kantonspolizei Zürich Zutritt zur Hanfplantage habe. Die Bewässerung der Pflanzen habe in Absprache mit und in Anwesenheit von Polizeibeamten zu erfolgen. Gemäss Bestätigung vom 27. März 2002 erklärte die Verwaltungsratspräsidentin der Gärtnerei ihr Einverständnis zur Vernichtung eines Teils der beschlagnahmten Hanfplanzen und -stecklinge. Der gegen die Beschlagnahme erhobene Rekurs an die kantonal letztinstanzlich zuständige Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich blieb erfolglos.
| 1 |
Aus den Erwägungen: | |
2 | |
2.1 Die von der Bezirksanwaltschaft angeordnete und von der Staatsanwaltschaft geschützte Beschlagnahme stützt sich auf § 96 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (Strafprozessordnung; StPO/ZH). Gemäss dieser Bestimmung kann der Untersuchungsbeamte Gegenstände und Vermögenswerte, die als Beweismittel, zur Einziehung oder zum Verfall (Art. 58 ff. StGB) in Frage kommen, in Beschlag nehmen oder auf andere Weise der Verfügung ihres Inhabers entziehen. Die Einziehungsbeschlagnahme ist eine vorläufige strafprozessuale Zwangsmassnahme. Erst die in § 106 ff. StPO/ZH genannten Behörden haben bei Abschluss des Verfahrens über das Schicksal der beschlagnahmten Gegenstände definitiv zu entscheiden. Vorsorgliche bzw. vorläufige Massnahmen, die in Abhängigkeit eines Verfahrens in der Hauptsache getroffen werden, liegen grundsätzlich ausserhalb des Geltungsbereichs von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Entscheide der Europäischen Menschenrechtskommission vom 30. November 1994 i.S. Haser-Tavsanci gegen Schweiz, publ. in: VPB/59 1995 Nr. 123 S. 996 und vom 10. März 1981 i.S. X. gegen Belgien, DR 24, S. 198 ff.; Urteile des Bundesgerichts P.1694/87 vom 7. Juli 1988 und 6A.72/1995 vom 30. August 1995, E. 4; JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl usw. 1996, N. 52 zu Art. 6 EMRK S. 191; MARK VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Zürich 1999, N. 391 und 402; RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 71 ff.).
| 3 |
4 | |
Nach dem Gesagten lässt sich die umstrittene Beschlagnahmeverfügung auf § 96 Abs. 1 StPO/ZH abstützen. Damit ist auch die Zuständigkeit der Bezirksanwaltschaft - aus der Sicht des kantonalen Rechts - zu bejahen, wobei offen gelassen werden kann, mit welcher Kognition das Bundesgericht im vorliegenden Zusammenhang über Auslegung und Anwendung des kantonalen Prozessrechts zu befinden hat.
| 5 |
6 | |
7 | |
2.3.2 Es ist einzuräumen, dass der umstrittenen Beschlagnahme faktisch nicht bloss konservatorische Bedeutung zukommt. Es können Auswirkungen eintreten, die an die Substanz des beschlagnahmten Gutes gehen. Ob und in welchem Ausmass damit zu rechnen ist, hängt von der Dauer der Beschlagnahme ab. Vorliegend ist von einer eher langen Prozessdauer auszugehen, d.h. es dürfte verhältnismässig lange dauern, bis ein definitiver Entscheid über das Schicksal der sichergestellten Pflanzen vorliegt. Die Beschlagnahmeverfügung der Bezirksanwaltschaft ist unbefristet. Sie ist darauf angelegt, bis zum Abschluss des Strafverfahrens eine allfällige Einziehung sicherzustellen. Damit aber musste schon im Zeitpunkt der Anordnung mit dem Eintritt der genannten Folgen gerechnet werden. Im Übrigen beeinträchtigt die Beschlagnahme, weil die sichergestellten Pflanzen an Ort und Stelle belassen worden sind, die Beschwerdeführerin im Betrieb ihrer Gärtnerei und dies unter Umständen für eine längere Zeitspanne. Angesichts dieser Auswirkungen fragt sich, ob sich ein Dispens von den Rechtsschutzgarantien gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK rechtfertigen lässt.
| 8 |
9 | |
3. Aus den dargelegten Gründen ergibt sich, dass die Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die angeordnete Beschlagnahme anzuwenden sind. Des Weiteren handelt es sich weder bei den Bezirksanwaltschaften noch bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich um richterliche Behörden im Sinne von der angerufenen Konventionsbestimmung. Damit genügt das kantonale Verfahren den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht.
| 10 |
Nach der so genannten "Oberschrot-Praxis" (BGE 117 Ia 497 E. 2c-3 S. 501 ff.) kann die staatsrechtliche Beschwerde unter bestimmten Voraussetzungen den Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerecht werden (Entscheide der Menschenrechtskommission vom 11. April 1996 i.S. Fondation Croix-Etoile gegen Schweiz, publ. in: VPB 60/1996 Nr. 113 S. 899, und vom 30. November 1994 i.S. Augustin S.A. gegen Schweiz, publ. in: VPB 59/1995 Nr. 121 S. 993; BGE 122 I 294 E. 2b S. 296 f.). Diesen Rechtsschutz kann das Bundesgericht indessen nur dann gewährleisten, wenn der rechtserhebliche Sachverhalt nicht bestritten ist. Im vorliegenden Fall macht die Beschwerdeführerin unter anderem geltend, die Beschlagnahme sei ohne hinreichenden Tatverdacht angeordnet worden. Die beschlagnahmten Pflanzen seien nie in der Absicht angebaut worden, daraus Betäubungsmittel zu gewinnen; die Stecklinge seien mit dem Ziel angebaut worden, sie als Zierpflanzen zu verwenden. Im Hinblick auf diese Rüge kann das Bundesgericht die Rechtsschutzgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK im vorliegenden Verfahren nicht in ausreichendem Masse gewährleisten. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben. Es ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einer kantonalen gerichtlichen Instanz zu ermöglichen, welcher obliegt, die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Beschlagnahmeverfügung der Bezirksanwaltschaft umfassend zu überprüfen. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich, auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin einzugehen.
| 11 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |