![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher, Sabiha Akagündüz | |||
![]() | ![]() |
16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft sowie Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.279/2002 vom 6. November 2002 | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK; Art. 32 Abs. 2 BV; § 107 Abs. 2 StPO/AG; Anspruch auf Befragung des minderjährigen Opferzeugen. |
Dieser Anspruch kann mit Rücksicht auf den Schutz des Opfers allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden (E. 3.2). |
Die Beantwortung von Fragen der Verteidigung an den ausschlaggebenden Belastungszeugen darf nicht mittels antizipierter Beweiswürdigung für nicht notwendig erklärt werden. Schliessen es die berechtigten Interessen namentlich des minderjährigen Opfers aus, dass ihm der Angeklagte Fragen stellen lässt, darf auf die entsprechende Zeugenaussage grundsätzlich nicht abgestellt werden (E. 4). |
Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Ersatzmassnahmen für die direkte Konfrontation in Frage kommen, um die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig den Interessen des Opfers gerecht zu werden (E. 5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
![]() | 2 |
Gegen das Urteil des Obergerichts erhebt A. staatsrechtliche Beschwerde.
| 3 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
| 4 |
Aus den Erwägungen: | |
5 | |
3.1 Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des Angeschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Entsprechend sind Beschwerden wie die vorliegende unter dem Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen (Urteil des EGMR i.S. Kostovski gegen Niederlande vom 20. November 1989, Serie A, Bd. 166, Ziff. 39; BGE 127 I 73 E. 3f S. 80; BGE 125 I 127 E. 6a S. 131 f., je mit Hinweisen). Mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen (Urteil des EGMR i.S. Unterpertinger gegen Österreich vom 24. November 1986, Serie A, Bd. 110, Ziff. 33; BGE 125 I 127 E. 6c/cc S. 135; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen ![]() | 6 |
Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Demgegenüber ist das Recht, Entlastungszeugen zu laden und zu befragen, relativer Natur. Der Richter hat insoweit nur solche Beweisbegehren, Zeugenladungen und Fragen zu berücksichtigen und zuzulassen, die nach seiner Würdigung rechts- und entscheiderheblich sind (BGE 125 I 127 E. 6c/bb S. 135). Das strenge Erfordernis des Anspruchs auf Befragung von Belastungszeugen erfährt in der Praxis eine gewisse Abschwächung; es gilt uneingeschränkt nur in all jenen Fällen, bei denen dem streitigen Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt (Urteil des EGMR i.S. Delta gegen Frankreich vom 19. Dezember 1990, Serie A, Bd. 191-A, Ziff. 37; BGE 125 I 127 E. 6c/dd S. 135 f.; BGE 124 I 274 E. 5b S. 286).
| 7 |
3.2 § 107 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO; SAR 251.100) schreibt vor, dass Kinder, die an Unzuchtsdelikten Erwachsener beteiligt sind, ohne zwingende Gründe nicht mehr als einmal einvernommen werden sollen. Dies im Wissen um die Gefahr, dass Kindern durch wiederholte Einvernahmen gleich grosser, wenn nicht gar grösserer Schaden zugefügt werden kann als durch das vermeintliche Delikt selbst (BEAT BRÜHLMEIER, Aargauische Strafprozessordnung, Kommentar, 2. Aufl., Aarau 1980, § 107 N. 1). Zwingende Gründe im Sinne dieser Bestimmung können namentlich die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten sein. Damit es möglichst bei einer Einvernahme bleibt, müssen die involvierten Behörden schon sehr früh miteinander Kontakt aufnehmen, um die weitere Vorgehensweise aufeinander abzustimmen (HANS-JÖRG BART, Kinder als Zeugen im ![]() | 8 |
Gemäss Art. 5 Abs. 4 OHG (SR 312.5) vermeiden die Behörden eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten, wenn das Opfer dies verlangt. Vorbehalten bleibt der Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art. 5 Abs. 5 OHG). Nach Art. 7 Abs. 2 OHG kann das Opfer die Aussage zu Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen. Gemäss Art. 10b Abs. 1 OHG (in der Fassung des Bundesgesetzes vom 23. März 2001, in Kraft seit dem 1. Oktober 2002; AS 2002 S. 2998) dürfen die Behörden das minderjährige Opfer bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität dem Beschuldigten nicht gegenüberstellen. Damit kommt es nicht darauf an, ob die oder der Minderjährige (im Sinne von Art. 10a OHG) einen entsprechenden Antrag stellt. Auch hier gilt ein Vorbehalt für den Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art. 10b Abs. 3 OHG). Haben Kinder als Opfer über erlebte Straftaten auszusagen und werden sie dadurch erneut mit schmerzhaften Erinnerungen an erlittene Verletzungen und Übergriffe konfrontiert, kann dies zur erneuten Traumatisierung bzw. zur Sekundärviktimisierung führen (Urteil 1P.549/2001 vom 11. Januar 2002, publ. in: Pra 91/2002 Nr. 99 S. 571, E. 3.7 mit zahlreichen Literaturhinweisen). Entsprechend hält auch der Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Interessen der Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8 EMRK gegeneinander abgewogen werden müssen (Urteil des EGMR i.S. P.S. gegen Deutschland vom 20. Dezember 2001, publ. in: EuGRZ 2002 S. 37 ff., Ziff. 22 S. 38). Besonders minderjährige Opfer von Sexualdelikten sind im Strafverfahren zu schützen. Deshalb kann die Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden (Urteil des EGMR i.S. S.N. gegen Schweden vom 2. Juli 2002, Ziff. 47 und 52).
| 9 |
Erwägung 4 | |
10 | |
![]() | 11 |
Auch vor Obergericht hat der Angeschuldigte den Antrag gestellt, es sei das Opfer in geeigneter Form durch das Gericht einzuvernehmen und es sei der Verteidigung anschliessend Gelegenheit zu geben, weitere Beweisanträge zu stellen. Mit Beschluss vom 13. November 2001 hat das Obergericht dem Angeklagten eine Frist angesetzt, um schriftliche Ergänzungsfragen an das Opfer einzureichen. Zu diesem Zwecke hat sich der Verteidiger die Videoaufzeichnung der Einvernahme vom 10. Juni 1999 ansehen können. Daraufhin hat er dem Obergericht beantragt, einige Fragenkomplexe klären zu lassen. Die vorgeschlagenen Fragen seien als Einstieg zu verstehen und es sei naturgemäss nötig, anhand von geeigneten Anschlussfragen die Unklarheiten auszuräumen. Dies insbesondere in Bezug auf die behaupteten Vorfälle im Europapark Rust und in der Wohnung des Angeklagten, welche dieser bestreite. Es sei beispielsweise denkbar, dass der Angeklagte allfällige Berührungen des Kindes auf einer "wilden" Bahn nicht als sexuelle Handlungen aufgefasst habe. Zudem sei die Frage zu klären, ob und inwieweit das Kind in seinem Aussageverhalten von seiner Mutter beeinflusst worden sein könnte.
| 12 |
Das Obergericht hat auf die erneute Einvernahme des Opfers verzichtet und im angefochtenen Entscheid auf die Videoeinvernahme vom 10. Juni 1999 abgestellt. Es hat festgehalten, das Kind vermöge in zeitlicher Hinsicht die einzelnen Vorkommnisse mit einem äusseren Ereignis (Computer-Spiele, Übernachten, [Europapark] Rust u.a.) in Verbindung zu bringen. Dies sei massgebend dafür, dass sich die geschilderten Ereignisse tatsächlich so abgespielt haben. Die vorinstanzliche Annahme von mindestens sechs Fällen sei durch die Videoaussagen belegt. Es stehe fest, dass es auch am Wohnort des Angeklagten zu sexuellen Berührungen am Penis gekommen sei. Das Obergericht hat die Aussagen des Kindes gewürdigt und festgehalten, die beantragten Ergänzungsfragen seien völlig irrelevant, ![]() | 13 |
4.2 Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert auf die Probe und in Frage stellen zu können (Urteil des EGMR i.S. Lüdi gegen die Schweiz, Serie A, Bd. 238, Ziff. 49; Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar 2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 93 S. 545, E. 3b; BGE 125 I 127 E. 6c/ff S. 137). Dabei kann es unter Umständen genügen, dass ein speziell ausgebildeter Polizeibeamter dem minderjährigen Opferzeugen im Verlaufe der Strafuntersuchung im Einvernehmen mit dem Verteidiger Ergänzungsfragen stellt (Urteil des EGMR i.S. S.N. gegen Schweden, a.a.O., Ziff. 50). Die Fragen der Verteidigung sind nur zuzulassen, wenn sie irgendwie erheblich sind; die Abweisung offensichtlich untauglicher Beweisanträge verletzt die verfassungsmässigen Rechte des Angeklagten nicht (BGE 124 I 274 E. 5b S. 285; BGE 105 Ia 396 E. 3b S. 398). Um ein faires Verfahren sicherzustellen, sind Schwierigkeiten, die der Verteidigung durch eine Einschränkung ihrer Rechte während der Untersuchung entstehen, durch die von den Gerichten durchgeführten Verfahrensschritte hinreichend auszugleichen (Urteile des EGMR i.S. van Mechelen gegen Niederlande vom 23. April 1997, Recueil CourEDH 1997-III S. 711, Ziff. 54, sowie i.S. P.S. gegen Deutschland, a.a.O., Ziff. 23).
| 14 |
15 | |
![]() | 16 |
5. Nach dem Gesagten könnte offen bleiben, ob der Umstand, dass dem Angeklagten lediglich Gelegenheit gegeben worden ist, schriftlich Ergänzungsfragen zu stellen, als solcher bereits Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verletzt. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich jedoch, diesen Punkt zu erörtern. Gemäss dem am 1. Oktober 2002 in Kraft getretenen Art. 10c Abs. 2 OHG ist die erste Einvernahme im Beisein eines Spezialisten von einem zu diesem Zweck ausgebildeten Ermittlungsbeamten durchzuführen. Die Parteien üben ihre Rechte durch die befragende Person aus, wobei sich der Angeschuldigte in einem anderen Raum aufhalten muss. Die Einvernahme wird auf Video aufgenommen. Nach Art. 10c Abs. 3 OHG findet eine zweite Einvernahme unter anderem statt, wenn der Angeschuldigte bei der ersten Einvernahme seine Rechte ![]() | 17 |
Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Vorgehensweisen und Ersatzmassnahmen in Frage kommen, um die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig den Interessen des Opfers gerecht zu werden (vgl. Urteil des EGMR i.S. van Mechelen, a.a.O., Ziff. 58; EVA WEISHAUPT, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Diss. Zürich 1998, S. 160). Die Wahl der Ersatzmassnahme ist daher gegebenenfalls gesondert zu begründen.
| 18 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |