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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
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11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Grüne Aargau und Mitb. gegen Regierungsrat und Grosser Rat des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.406/2004 / 1P.458/2004 vom 27. Oktober 2004 | |
Regeste |
Rechtsgleiches Verhältniswahlrecht, Wahlkreiseinteilung für die Wahl des Grossen Rates, Appellentscheid; Art. 8 Abs. 1, Art. 34, Art. 39 Abs. 1 BV; §§ 76 f. KV/AG. |
Regeln der Verfassungsauslegung (E. 4.1); § 77 KV/AG verpflichtet den Gesetzgeber, Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen, wenn dies zur Vermeidung proporzwidrig hoher Quoren erforderlich ist (E. 4.2 und 4.3). |
Die Verkleinerung des Grossen Rates von 200 auf 140 Mitglieder führt bei einem Verzicht auf einen Zusammenschluss der Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zu natürlichen Quoren von bis zu 14.29 % (E. 5.1), ohne dass dies durch von der Kantonsverfassung vorgesehene sachliche Gründe zu rechtfertigen wäre (E. 5.2). |
Die zulässige Obergrenze sowohl für direkte als auch für natürliche Quoren liegt bei 10 %. Für erstere gilt sie absolut, für letztere ist sie als Zielwert zu verstehen, der bei einer Neuordnung des Wahlsystems anzustreben ist (E. 5.3 und 5.4). |
In concreto ist die angefochtene Wahlordnung ohne Schaffung von Wahlkreisverbänden oder einer anderen Regelung, die die Verhinderung von natürlichen Quoren von mehr als 10 % anstreben, verfassungswidrig (E. 5.5). |
Da die verfassungsmässige Lage mit einer Gutheissung der Beschwerde nicht wiederhergestellt werden kann, sind die zuständigen Kantonsbehörden in einem Appellentscheid aufzufordern, im Hinblick auf die übernächsten Parlamentswahlen eine verfassungsmässige Wahlordnung zu schaffen (E. 6.1). | |
Sachverhalt | |
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"B. Der Grosse Rat
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§ 76 - 1. Stellung und Zusammensetzung
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1 Der Grosse Rat ist die gesetzgebende und die oberste Aufsicht führende Behörde des Kantons.
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2 Er besteht aus 140 Mitgliedern.
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§ 77 - 2. Wahl
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1 Das Volk bestellt den Grossen Rat nach dem Verhältniswahlverfahren.
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3 Die Sitze werden auf die Wahlkreise nach Massgabe der Wohnbevölkerung verteilt."
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Mit Botschaft vom 24. September 2003 unterbreitete der Regierungsrat dem Grossen Rat eine Vorlage zur Änderung des Grossratswahl-, des Gemeinde- und des Geschäftsverkehrsgesetzes. Kern der Vorlage bildete die Schaffung von Wahlkreisverbänden. Der Regierungsrat erachtete diese als unabdingbar, weil mit der angenommenen Volksinitiative zur Verkleinerung des Grossen Rates auch eine Ergänzung von § 77 Abs. 2 der Kantonsverfassung erfolgt sei, die die Bildung von Wahlkreisverbänden vorsehe. 8 Bezirke sollten in 4 Wahlkreisverbänden zusammengefasst und 3 Bezirke als selbständige Wahlkreise bestehen bleiben. Der Regierungsrat hielt dazu fest: "Die Wahlkreisverbände sind notwendig, um zu verhindern, dass
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- in kleinen Bezirken der erforderliche Stimmenanteil für einen Sitz im Grossen Rat die rechtlich zulässige Obergrenze (10 %) überschreitet
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- die Unterschiede der erforderlichen Stimmenanteile zwischen kleinen und grossen Bezirken sich weiter erhöhen (von bisher 2.25/9.10 % auf 3.25/12.5 %) und damit das sachlich wie politisch vertretbare Mass überschreiten" (Botschaft S. 3).
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In seiner 1. Lesung erhob der Grosse Rat die vorgeschlagenen Änderungen mit gewissen Modifikationen bei der Abänderung des Grossratswahlgesetzes zum Beschluss.
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Am 10. März 2004 gewährleistete der Bund die §§ 76 Abs. 2 und 77 Abs. 2 der Kantonsverfassung.
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In der 2. Lesung vom 8. Juni 2004 kam der Grosse Rat auf seinen Entschluss zurück und beschloss, auf die Schaffung von Wahlkreisverbänden zu verzichten. Er erhob die entsprechend angepassten Entwürfe für die Änderung des Grossratswahl-, des Geschäftsverkehrs- und des Gemeindegesetzes sowie des Dekrets über die Geschäftsführung des Grossen Rates zum Beschluss und unterstellte die Gesetzesänderungen der obligatorischen Volksabstimmung. Die Volksabstimmung über die an der Redaktionslesung vom 29. Juni 2004 definitiv beschlossenen Gesetzesänderungen wurde auf den 26. September 2004 angesetzt.
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Am 26. September 2004 wurden die Änderungen des Grossratswahl-, des Geschäftsverkehrs- und des Gemeindegesetzes in der Volksabstimmung angenommen.
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Verfahren 1P.406/2004
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Mit Stimmrechtsbeschwerde vom 21. Juli 2004 beantragen die Grünen Aargau, die Schweizer Demokraten, die Eidgenössisch Demokratische Union, die Freiheitspartei, Martin Bossard, Markus Hari, Andrea Bischof, Lukas Spuhler, Stefan Keller, Rolf Urech und René Kunz im Wesentlichen, das geltende Grossratswahlgesetz als verfassungswidrig zu qualifizieren und den Regierungsrat anzuweisen, die kommenden Grossratswahlen auf der Basis von 200 Mitgliedern durchzuführen, bis ein verfassungskonformes Grossratswahlgesetz vorliege.
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Der Grosse Rat und der Regierungsrat des Kantons Aargau beantragen in ihrer gemeinsamen Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
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Verfahren 1P.458/2004
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Am 26. August 2004 erhoben die Grünen Aargau, die Schweizer Demokraten, die Eidgenössisch Demokratische Union, die Freiheitspartei, Martin Bossard, Markus Hari, Andrea Bischof, Lukas Spuhler, Stefan Keller, Rolf Urech und René Kunz eine weitere Stimmrechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrates vom 30. Juni betreffend Änderung der Verfassung des Kantons Aargau vom 18. Mai 2004. Das Bundesgericht weist sie ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
3.1 Art. 34 BV gewährleistet in Abs. 1 allgemein die politischen Rechte und schützt in Abs. 2 ausdrücklich die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Dieser Grundsatz der Wahl- und Abstimmungsfreiheit dient der Konkretisierung der politischen Gleichheit, die mit der Rechtsgleichheit von Art. 8 Abs. 1 BV eng verknüpft ist. Als Bestandteil der Wahl- und Abstimmungsfreiheit kommt dem Gleichheitsgebot für die politischen Rechte besondere Bedeutung zu. Aus der Rechtsgleichheit und der politischen ![]() | 23 |
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3.3 Ein Verhältniswahlrecht, wie es § 77 Abs. 1 KV für die Wahl des Grossen Rates vorschreibt, setzt voraus, dass der Kanton für das ![]() | 25 |
Unterschiedliche Wahlkreise bewirken, dass nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Erhält in einem Wahlkreis mit 9 Sitzen eine Parteiliste 10 % der Stimmen, fällt ihr ein Mandat zu; in einem Wahlkreis, dem bloss 2 Mandate zustehen, benötigt eine Liste einen Stimmenanteil von 33,3 %, um einen Sitz zu erringen. Je kleiner ein Wahlkreis ist, desto grösser ist das natürliche Quorum und damit die Zahl der Wähler, die im Parlament nicht vertreten werden, deren Stimmen "gewichtlos" sind. Sind kleine Wahlkreise mit wenigen Sitzen zahlreich, nähert sich das Verhältnis- oder Proporzwahlsystem dem Mehrheits- oder Majorzwahlsystem an.
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4.2 § 77 Abs. 1 KV legt als Wahlsystem für den Grossen Rat das Verhältniswahlrecht fest. § 77 Abs. 2 Satz 1 KV bestimmt, dass die unterschiedlich grossen Bezirke die Wahlkreise bilden, wobei der Gesetzgeber die Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenschliessen kann (Satz 2). Eine Kann-Vorschrift stellt nach der Rechtsprechung die Entscheidung ins pflichtgemässe Ermessen der zuständigen Instanz (BGE 123 II 106 E. 2b; BGE 115 Ib 517 E. 7h S. 541). Unter der Prämisse von Abs. 1 - Durchführung einer Proporzwahl - kann Abs. 2 nur so verstanden werden, dass diese in diesem Sinne gehalten ist, Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen, wenn und soweit dies zur Vermeidung proporzwidriger Quoren notwendig ist. Dies entspricht auch, was gerade bei der Auslegung von jungem - hier einjährigem - Recht von besonderer Bedeutung ist (BGE 112 Ia 97 E. 6c S. 104), dem Sinn und Zweck, den der historische Verfassungsgeber der Regelung beimass: Wie sich aus der Begründung der 2003 vom Volk angenommenen Volksinitiative zur Revision der §§ 76 und 77 KV ergibt, sollten durch die Schaffung von Wahlkreisverbänden die bisherigen Proporzverhältnisse erhalten werden können (Botschaft des Regierungsrates vom 24. September 2003, S. 3 unten und S. 7 oben). Die §§ 76 und 77 KV wurden vom Bund zudem ausdrücklich in diesem Sinne genehmigt (Botschaft des Bundesrates in BBl 2003 S. 8087 ff., insbesondere 8095; Genehmigungsbeschluss in BBl 2004 S. 1393).
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Die von Regierungs- und Grossem Rat unter Verweis auf das Gutachten Auer (Ziff. 61) vorgebrachte These, der aargauische Bezirk ![]() | 31 |
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Für die unter der Herrschaft der neuen §§ 76 und 77 KV im Frühjahr 2005 durchzuführende Grossratswahl kommen nach der Mitteilung des kantonalen Wahlbüros auf der offiziellen Webseite des Kantons Aargau (www.ag.ch) den 11 Bezirken bzw. Wahlkreisen für die kommende Grossratswahl zwischen 30 (Baden) und 6 (Laufenburg) Mandate zu. Baden ist dabei mit Abstand der grösste Bezirk, es folgen mit grossem Abstand Aarau und Bremgarten (je 16 Sitze) sowie Zofingen mit 15 Sitzen. Weitere kleine Bezirke mit natürlichen Quoren von 10 % und mehr sind Muri (7 Sitze), Zurzach (8 Sitze) sowie Kulm (9 Sitze). Die natürlichen Quoren liegen zwischen 3.23 % (Baden) und 14.29 % (Laufenburg) und damit erheblich weiter auseinander als unter dem bisherigen Recht.
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5.2 Hohe natürliche Quoren laufen, grundsätzlich gleich wie hohe direkte Quoren in Form von Sperrklauseln, Sinn und Zweck des Verhältniswahlrechts, nämlich die Beteiligung aller massgeblichen politischen Kräfte an der Verteilung der Parlamentssitze, zuwider. Sie bedürfen daher einer besonderen Rechtfertigung, beispielsweise als Schutz einer regionalen sprachlichen Minderheit. Gewichtet der kantonale Verfassungs- oder Gesetzgeber regionale, sprachliche, religiöse oder andere gleichgewichtige Gründe in sachlicher ![]() | 35 |
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5.4 Direkte Quoren, die eine zu grosse Zersplitterung der im Parlament einsitzenden politischen Kräfte verhindern sollen, und natürliche Quoren, die sich aus der Einteilung der Wahlkreise ergeben und deren Vertretung im Parlament sicherstellen, dienen zwar unterschiedlichen Zwecken, haben indessen die gleichen Wirkungen, indem sie, je nach ihrer Höhe, mehr oder weniger Wähler von einer Vertretung im Parlament ausschliessen. Um der Rechtssicherheit Willen ist, gestützt auf die angeführte Rechtsprechung, festzulegen, dass die Überschreitung einer Limite von 10 % in beiden Fällen mit einem Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht zu vereinbaren ist. Für natürliche Quoren, die Folge der bestehenden Gebietseinteilung sind und vielfach aus beachtlichen (historischen) Gründen (vgl. vorn E. 3.2) erheblich davon abweichen, ist dieser Wert nicht als eine absolute Grenze, sondern als ein Zielwert zu verstehen, der jedenfalls bei einer Neuordnung des Wahlsystems möglichst angestrebt werden muss, auch wenn er, soweit nach wie vor ein ausgewiesenes Bedürfnis an der Beibehaltung ![]() | 37 |
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Erwägung 6 | |
6.1 Die revidierten §§ 76 und 77 KV wurden vom Volk angenommen und sind in Kraft, was ausschliesst, die anstehende Parlamentswahl nach alter Ordnung durchzuführen. Anderseits ist es dem Kanton Aargau offensichtlich zeitlich nicht möglich, eine den vorangehenden bundesgerichtlichen Erwägungen entsprechende Gesetzgebung zu erlassen und die bereits in vier Monaten anstehende ![]() | 39 |
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