![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Thurgau (Staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.765/2004 vom 22. Juni 2005 | |
Regeste |
Amtliche und notwendige Verteidigung; Art. 29 Abs. 3, Art. 31 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. c EMRK. | |
Sachverhalt | |
1 | |
Die Strafuntersuchung wurde während rund zwei Monaten geführt und mit einem Geständnis sowie einer Schlusseinvernahme vom 19. September 2003 abgeschlossen. Nach Überweisung der Strafsache an die Bezirksgerichtliche Kommission Arbon erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz Anklage.
| 2 |
Die Bezirksgerichtliche Kommission Arbon sprach A. der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 12 Monaten.
| 3 |
![]() | 4 |
Gegen dieses Urteil des Obergerichts hat A. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er macht insbesondere Verletzungen von Art. 9, 29, 31 und 32 BV sowie von Art. 6 EMRK geltend. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
Demgegenüber hält das Obergericht im angefochtenen Urteil fest, für die fragliche Zeit ergebe sich weder aus dem Gesetz über die Strafrechtspflege des Kantons Thurgau vom 30. Juni 1970/5. November 1991 (Strafprozessordnung, StPO/TG) noch aus übergeordnetem Verfassungs- und Konventionsrecht ein Anspruch auf notwendige Verteidigung. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer auf die Möglichkeit des Beizugs eines Anwalts in genügender Weise hingewiesen worden; davon habe er indessen keinen Gebrauch gemacht, sei ohne Vertretung auch zur Schlusseinvernahme angetreten und habe sich erst nach der Überweisung der Strafsache an die Bezirksgerichtliche Kommission an einen Rechtsanwalt gewandt.
| 7 |
Im Folgenden ist zu prüfen, ob für die Phase der Untersuchungshaft und der in dieser Zeit durchgeführten Untersuchung nach dem kantonalen Strafprozessrecht ein Anspruch auf eine notwendige Verteidigung bestanden habe und wie es sich damit mit Blick auf das übergeordnete Verfassungs- und Konventionsrecht verhält. Dabei wird die Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts lediglich unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots, die Anwendung des Verfassungs- und Konventionsrechts indessen frei geprüft. Lediglich der Willkürprüfung unterstehen ferner Sachverhaltsfragen.
| 8 |
2.1 Vorerst ist in terminologischer Hinsicht festzuhalten, dass notwendige bzw. obligatorische Verteidigung im strafprozessualen ![]() | 9 |
10 | |
§ 50 - Freiwillige und notwendige Verteidigung
| 11 |
1 Der Angeschuldigte hat jederzeit das Recht, einen Verteidiger frei zu wählen. (...)
| 12 |
3 Der Untersuchungsrichter und nötigenfalls die Staatsanwaltschaft haben den Angeschuldigten über das Recht auf einen Verteidiger aufzuklären und gegebenenfalls dem Präsidenten des zuständigen Gerichts die Bestimmung eines Pflichtverteidigers zu beantragen.
| 13 |
4 Der Angeklagte muss vor Gericht grundsätzlich durch einen Anwalt verteidigt sein, wenn er zur Wahrung seiner Interessen unfähig ist oder wenn eine Strafe beantragt wird, bei welcher der bedingte Strafvollzug wegen ihrer Dauer ausgeschlossen ist, die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme in Frage kommt oder in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bestehen, deren Beurteilung oder Erörterung die Fähigkeiten des Angeschuldigten übersteigt.
| 14 |
5 Von der notwendigen Verteidigung kann abgesehen werden, wenn der urteilsfähige Angeklagte ausdrücklich hierauf verzichtet. (...)
| 15 |
§ 51 - Amtliche Verteidigung
| 16 |
1 Das Gesuch um amtliche Verteidigung kann jederzeit gestellt werden. Der Untersuchungsrichter hat den Angeschuldigten rechtzeitig darauf aufmerksam zu machen.
| 17 |
18 | |
3 Der Präsident des für den Fall zuständigen Gerichts entscheidet, ob die amtliche Verteidigung gewährt werde. Wird das Gesuch auch für das Untersuchungsverfahren gestellt, so leitet es der Untersuchungsrichter mit seinem Antrag an den Gerichtspräsidenten. (...)
| 19 |
20 | |
Diese Auslegung und Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts hält ohne weiteres vor dem Willkürverbot stand. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann unter dem Gesichtswinkel von Art. 9 BV der in § 50 Abs. 4 StPO/TG enthaltene Ausdruck "vor Gericht" nicht einfach durch "im Strafverfahren" ersetzt und allein aus diesem Umstand auf eine obligatorische Verteidigung bereits im (ganzen) Untersuchungsstadium bzw. für den Fall von Untersuchungshaft geschlossen werden.
| 21 |
2.4 Im angefochtenen Entscheid stützt sich das Obergericht zusätzlich auf die materiellen Kriterien von § 50 Abs. 4 StPO/TG. Es legt die Bestimmung in Anlehnung an die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Anspruch auf amtliche Verteidigung nach Art. 29 Abs. 3 BV aus. Dabei ging es von der Unterscheidung zwischen sog. Bagatellfällen, relativ schweren Strafsachen und schwerwiegenden Fällen aus (vgl. BGE 115 Ia 103 E. 4 S. 105; BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 45; BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232). Es bezeichnete die vorliegende Strafsache als relativ schwer, weil eine unbedingte Freiheitsstrafe angesichts von Verschulden und Vorleben nicht ernsthaft ins Auge zu fassen war und besondere Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht fehlten. Vor diesem Hintergrund ![]() | 22 |
Auch insoweit kann dem Obergericht bei der Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts keine Willkür vorgeworfen werden. Der Beschwerdeführer weist zwar verständlicherweise auf die Schwierigkeiten hin, denen er angesichts seiner mangelnden Sprachkenntnisse und des Drucks der Untersuchungshaft ausgesetzt war. Das ändert indessen nichts am Umstand, dass das Obergericht die Strafsache als lediglich von relativer Schwere bezeichnen und besondere Schwierigkeiten verneinen durfte. Demnach hält das angefochtene Urteil auch insoweit, als gestützt auf die materiellen Kriterien von § 50 Abs. 4 StPO/TG ein Fall von notwendiger Verteidigung verneint wurde, vor Art. 9 BV stand.
| 23 |
24 | |
3.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, welche nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, einen Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand, soweit dies zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist. Die Rechtsprechung hat diesen bereits aus Art. 4 aBV abgeleiteten Anspruch in einer reichen Praxis konkretisiert und anhand von materiellen Kriterien umschrieben (vgl. für das Strafverfahren BGE 115 Ia 103 E. 4 S. 105; BGE 120 Ia 43 E. 2a S. 45; BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232). Ziel der unentgeltlichen Rechtspflege ist es, eine gewisse Waffengleichheit zu gewährleisten; jeder Betroffene soll grundsätzlich ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation unter den von der Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen Zugang zum Gericht und Anspruch auf Vertretung durch einen Rechtskundigen haben (BGE 119 Ia 134 E. 4 S. 135). Bei gegebenen Voraussetzungen kann daher eine amtliche Verbeiständung geboten sein (vgl. BGE 120 Ia 43; BGE 129 I 281).
| 25 |
In Anbetracht der Entstehung und der Entwicklung des Instituts der unentgeltlichen Verteidigung unter der Herrschaft von Art. 4 aBV und im Lichte des Wortlauts von Art. 29 Abs. 3 BV kann nicht angenommen werden, dass Art. 29 Abs. 3 BV unter gewissen Voraussetzungen eine obligatorische Verteidigung im oben ![]() | 26 |
Demnach kann dem Beschwerdeführer nicht gefolgt werden, wenn er aus Art. 29 Abs. 3 BV unter gegebenen Voraussetzungen einen Anspruch auf obligatorische Verbeiständung ableitet.
| 27 |
28 | |
Die Ansprüche nach Art. 6 Ziff. 3 EMRK bilden für das Strafverfahren Teil des in Art. 6 Ziff. 1 EMRK allgemein garantierten fairen Verfahrens. Diese Bestimmungen kommen schon vor dem eigentlichen gerichtlichen Strafverfahren im Stadium der Untersuchung zur Anwendung, wenn das Vorverfahren die Fairness des ganzen Verfahrens zu beeinträchtigen droht (vgl. BGE 111 Ia 341 E. 3d S. 347 ff. und Urteil des EGMR i.S. S. gegen Schweiz vom 28. November 1991, Serie A, Bd. 220 [= VPB 55/1991 Nr. 51, EuGRZ 1992 S. 298]; Urteil i.S. Brennan gegen Grossbritannien vom 16. Oktober 2001, Recueil CourEDH 2001-X S. 239, Ziff. 45; ARTHUR HAEFLIGER/FRANK SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 218 f.). Insbesondere wenn dem Verhalten und den Aussagen des Beschuldigten anlässlich von polizeilichen Befragungen für die Verteidigungsmöglichkeit und den Ausgang des Verfahrens wesentliche Bedeutung zukommt, verlangen das Fairnessgebot und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, dass der Beschuldigte bereits im anfänglichen Stadium des Verfahrens einen Rechtsvertreter beiziehen kann. Jedoch kann dieses Recht, das nicht ausdrücklich in der Konvention enthalten ist, Gegenstand von wohlbegründeten Ausnahmen sein. Dabei ist in jedem Einzelfall zu beurteilen, ob bei ![]() | 29 |
Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass der Beschuldigte schon in einem sehr frühen Stadium einen Rechtsvertreter soll beiziehen können. Im genannten Urteil Murray erkannte der Gerichtshof unter ausserordentlichen Voraussetzungen in tatsächlicher und verfahrensmässiger Hinsicht, dass die Verweigerung der gewünschten Verbeiständung während 48 Stunden und insbesondere anlässlich der ersten polizeilichen Befragungen gegen Art. 6 EMRK verstossen habe (a.a.O., Ziff. 64 ff.). Keine Verletzung von Art. 6 EMRK erblickte er in der Angelegenheit Brennan, in der dem Beschuldigten die gewünschte Vertretung während 24 Stunden seit der Verhaftung verweigert worden ist und in der Folge zwar gewährt wurde, davon aber während mehrerer Tage und anlässlich verschiedener polizeilicher Befragungen kein Gebrauch gemacht worden ist (a.a.O., Ziff. 46 ff.). Im Fall Imbrioscia schliesslich wurde anlässlich der ersten polizeilichen Einvernahme um Beizug eines Rechtsanwalts ersucht und ein solcher schliesslich bestellt; dessen Inaktivität war indessen nicht den Behörden anzulasten, sodass der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 6 EMRK verneinte (a.a.O., Ziff. 39 ff.). Schliesslich hat es das Bundesgericht als mit Art. 6 EMRK vereinbar erklärt, dass in einer Genfer Angelegenheit der gewillkürte Rechtsvertreter erst nach rund 24 Stunden zugelassen wurde (BGE 126 I 153).
| 30 |
Aus dem Anspruch auf einen Beizug eines Rechtsverteters in einem sehr frühen Stadium kann indessen nicht geschlossen werden, dass Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK unter gegebenen Umständen eine obligatorische Verbeiständung auch ohne entsprechendes Ersuchen oder gar entgegen dem Willen des Betroffenen erfordern würde. Der Gerichtshof geht davon aus, dass dem Beschuldigten in frühestem Stadium der Beizug eines Rechtsvertreters erlaubt wird. Weiter hält er fest, dass dieser Anspruch eingeschränkt werden kann. Schliesslich spricht Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK der beschuldigten Person das Recht zu, sich selbst zu verteidigen oder ![]() | 31 |
Daraus ergibt sich, dass Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK grundsätzlich keine obligatorische Vertretung verlangt. Der Strassburger Rechtsprechung kann eine solche auch für den blossen Umstand des Vorliegens von Untersuchungshaft und den damit verbundenen Schwierigkeiten nicht entnommen werden. Der Gerichtshof verlangt vielmehr ein gewisses Tätigwerden des Beschuldigten in dem Sinne, dass tatsächlich um Beizug eines Rechtsvertreters ersucht wird oder eine Verweigerung und allfällige Passivität von Seiten des Anwalts beanstandet wird (vgl. BGE 118 Ia 462 E. 2b/bb S. 466; Urteil Imbrioscia, a.a.O., Ziff. 40; Urteil Brennan, a.a.O., Ziff. 47; vgl. auch das Urteil i.S. P. und Mitbeteiligte gegen Grossbritannien vom 16. Juli 2002, Recueil CourEDH 2002-VI S. 247). Soweit ersichtlich hat der Gerichtshof denn in Fällen, in denen ein Rechtsvertreter gar nicht verlangt worden ist, auch keine Konventionsverletzungen festgestellt; davon wurde lediglich in einem Verfahren nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK betreffend eine aus psychischen Gründen verwahrte Person abgewichen (Urteil i.S. Megyeri gegen Deutschland vom 12. Mai 1992, Serie A, Bd. 237-A [= EuGRZ 1992 S. 347]).
| 32 |
Die Frage, ob Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK unter gegebenen Umständen zu einer obligatorischen Verteidigung führt, wird in der Doktrin nur am Rande gestreift. FROWEIN/PEUKERT führen aus, der Angeklagte habe stets das Recht, sich selbst zu verteidigen, soweit er ![]() | 33 |
Demnach kann Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nicht entnommen werden, dass der Beschwerdeführer während seiner Untersuchungshaft und schon in frühem Untersuchungsstadium obligatorisch und ohne entsprechendes Begehren hätte vertreten sein müssen.
| 34 |
35 | |
3.4 Im Sinne eines Zwischenergebnisses kann vorderhand festgehalten werden, dass aus Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK keine eigentliche Pflicht fliesst, unter bestimmten Voraussetzungen eine obligatorische Verteidigung im oben umschriebenen Sinne vorzusehen. Nachfolgend ist indes zu prüfen, ob andere ![]() | 36 |
Erwägung 4 | |
37 | |
Entsprechendes gilt nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe unter dem Gesichtswinkel der Garantie des fair trial gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Der Gerichtshof betont in stereotyper Weise, dass die Konvention nicht bloss theoretische und illusorische, sondern vielmehr konkrete und wirksame Rechte einräume (vgl. Urteil i.S. Czekalla gegen Portugal vom 10. Oktober 2002, Recueil CourEDH 2002-VIII S. 43, Ziff. 60; Urteil i.S. Daud gegen Portugal vom 21. April 1998, Recueil CourEDH 1998-II S. 739, Ziff. 38; Urteil Imbrioscia, a.a.O., Ziff. 38; Urteil i.S. Artico gegen Italien vom 13. Mai 1980, Serie A, Bd. 37, Ziff. 32 [= EuGRZ 1980 S. 662], Urteil i.S. Goddi gegen Italien vom 9. April 1984, Serie A, Bd. 76, Ziff. 30 [= EuGRZ 1985 S. 234]). Dies bedeutet, dass die Behörde den Beschuldigten in wirksamer Weise auf seine Verteidigungsrechte hinweisen und bei krasser Vernachlässigung der Verteidigung einschreiten muss. Im Falle von schwerwiegenden Unzulänglichkeiten von amtlichen Verteidigern hat der ![]() | 38 |
4.2 Unter der neuen Bundesverfassung ergibt sich eine entsprechende richterliche Fürsorge- und Aufklärungspflicht nunmehr aus Art. 31 und 32 BV. In allgemeiner Weise garantiert Art. 32 BV einen Anspruch auf ein faires Strafverfahren und verpflichtet die Behörde zu entsprechendem Verhalten (vgl. Botschaft des Bundesrates zur neuen Bundesverfassung, BBl 1997 I 1, S. 186; HANS VEST, St. Galler BV-Kommentar, Zürich 2002, Rz. 18 zu Art. 32 BV). Gemäss Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV muss die angeklagte Person insbesondere die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte tatsächlich, d.h. konkret und wirksam wahrzunehmen (vgl. Botschaft des Bundesrates, a.a.O., S. 187). Nach Art. 31 Abs. 2 BV sind Beschuldigte im Falle von Freiheitsentzug in wirksamer Weise über ihre Rechte zu unterrichten. Diese müssen die Möglichkeit haben, ihre Rechte effektiv geltend zu machen. Hierzu zählt nach der neuesten Rechtsprechung unter anderem auch der Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht des Angeschuldigten (BGE 130 I 126 E. 2.3-2.5 S. 129). In diesem Sinne haben die mit der Strafverfolgung betrauten Behörden aufgrund ihrer Fürsorge- und Aufklärungspflicht nach Art. 32 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 2 BV für die Voraussetzungen eines fairen Strafverfahrens zu sorgen und allenfalls auch ohne entsprechendes Zutun des Betroffenen für eine hinreichende Rechtsvertretung zu sorgen. Dies kann es gebieten, dass einem Beschuldigten aufgrund der Verfassung auch ohne entsprechendes Ersuchen von Amtes wegen ein Rechtsvertreter beigegeben wird (vgl. HANS VEST, St. Galler BV-Kommentar, Zürich 2002, Rz. 19 ff. zu Art. 32 BV).
| 39 |
40 | |
![]() | 41 |
Darüber hinaus ist der Beschwerdeführer gemäss Protokollen mehrmals mit den folgenden Worten auf die Möglichkeit des Beizugs eines Rechtsvertreters hingewiesen worden: "Sie können jederzeit einen Anwalt nach freier Wahl und auf Ihre Kosten beiziehen. Ein Gesuch um amtliche Verteidigung ist schriftlich zu stellen und zu begründen". Gemäss den Protokollen blieb es nicht bei diesem blossen Hinweis auf Recht und Möglichkeit, einen Anwalt beizuziehen. Vielmehr ist der Beschwerdeführer danach gefragt worden, ob er den Hinweis auch tatsächlich verstanden habe; auch in anderem Zusammenhang ist er bisweilen gefragt worden, ob er den Dolmetscher verstehe. Daran kann nach den Protokollen kaum gezweifelt werden. Zum einen hat der Beschwerdeführer im Allgemeinen auf die polizeilichen und untersuchungsrichterlichen Fragen sachgerecht geantwortet. Zum andern entgegnete er auf die genannten Hinweise, er wisse noch nicht, ob dies (ein Beizug eines Rechtsvertreters) nötig sei oder warum er einen Anwalt nehmen sollte. Insoweit kann den Behörden daher nicht vorgeworfen werden, ihren gesetzlichen bzw. verfassungs- und konventionsrechtlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflichten nicht nachgekommen zu sein.
| 42 |
4.3.2 Gemäss angefochtenem Urteil und der Beschwerdeschrift äusserte der Beschwerdeführer ein einziges Mal einen Wunsch nach einem Rechtsvertreter und sagte anlässlich der polizeilichen Befragung vom 15. Januar 2002: "Ich bin gesund. Ich möchte einen Anwalt haben". Im Protokoll finden sich danach keine weiteren Äusserungen dazu. Das Obergericht ging davon aus, der Beschwerdeführer und der Polizeibeamte hätten sich ausserhalb des Protokolls darüber unterhalten. Es könne ausgeschlossen werden, dass der Beizug eines Rechtsvertreters hintertrieben werden sollte, ansonsten die Äusserung des Beschwerdeführers gar nicht ![]() | 43 |
Schliesslich verweist der Beschwerdeführer auf eine Aussage anlässlich der Befragung vom 29. Januar 2002. Auf den Hinweis, wonach der Beschwerdeführer Bedenken hatte, weitere Angaben zu machen, wurde er gefragt, warum er Angst habe. Er antwortete: "Ich bin zur Zeit total überfordert mit der Situation, wie sie jetzt für mich ist. Ich weiss, dass die Polizei sehr nett ist zu mir, und ich möchte mich dafür revanchieren, aber verstehen Sie bitte, dass die ganze Sache mich im Moment total überfordert. ... Nein, ich habe diesbezüglich (nämlich hinsichtlich von Befürchtungen, der Polizei die ganze Wahrheit über die Drogentätigkeiten zu sagen) keine Bedenken. Ich muss vor niemandem Angst haben". Diese Aussagen bringen tatsächlich eine gewisse Überforderung des Beschwerdeführers zum Ausdruck. Diese dürfte indessen mehr momentaner psychischer Natur gewesen sein und sich kaum auf die rechtliche Situation und das Fehlen einer Rechtsverbeiständung bezogen haben. Aus dem Zusammenhang kann nicht gefolgert werden, dass der Beschwerdeführer tatsächlich den Wunsch nach einer anwaltlichen Vertretung hätte zum Ausdruck bringen wollen.
| 44 |
4.3.3 Der Beschwerdeführer beanstandet ferner, dass das Recht, einen amtlichen Rechtsvertreter bestellen zu lassen, von einem schriftlichen Gesuch und einer entsprechenden Begründung abhängig gemacht worden sei. § 51 Abs. 1 StPO/TG hält fest, dass ![]() | 45 |
46 | |
4.4 In Anbetracht der konkreten Strafsache konnte von den Strafverfolgungsbehörden nicht verlangt werden, über die wiederholte Information hinaus ein Mehreres zu tun und den Beschwerdeführer ausdrücklich auf seinen Verzicht auf einen Rechtsvertreter zu behaften. In Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse waren sie nach Verfassung und Konvention insbesondere nicht verpflichtet, dem Beschwerdeführer von Amtes wegen einen (obligatorischen) Verteidiger zu bestellen. Die Strafsache hat sich als wenig komplex erwiesen, und schon in einem frühen Stadium ist eine lediglich bedingt auszusprechende Freiheitsstrafe in Betracht gezogen worden. Dem Umstand, dass nach der Strafprozessordnung schon erste Befragungen bei der materiellen Beurteilung der Strafsache verwertbar sind, kommt für sich alleine genommen keine entscheidende Bedeutung zu (vgl. die Urteile des Gerichtshofes i.S. Brennan und Imbrioscia, a.a.O.). Die Sprachschwierigkeiten sind durch den Beizug eines Dolmetschers behoben worden, und der ![]() | 47 |
48 | |
49 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |