BGE 132 I 42 | |||
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6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
1A.92/2005 vom 22. November 2005 | |
Regeste |
Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen zweiten Schriftenwechsel. | |
Sachverhalt | |
In einem gewässerschutzrechtlichen Verfahren wehrte sich der Be schwerdeführer gegen einen Eingriff in sein Eigentumsrecht. Er focht den Beschwerdeentscheid der Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern (BVE) beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Das Gericht holte bei der BVE eine Vernehmlassung ein und stellte sie dem Beschwerdeführer am 20. Februar 2004 zur Kenntnisnahme zu. Dieser gelangte in der Folge mit zwei Eingaben an das Gericht. Im ersten Schreiben vom 20. April 2004 äusserte er, er gehe davon aus, dass ihm zu gegebener Zeit Frist zur Stellungnahme zu der fraglichen Vernehmlassung angesetzt werde; gleichzeitig gab er eine längere Landesabwesenheit bekannt, die vom 12. Mai bis 4. Juni 2004 dauern werde. In der zweiten Eingabe vom 12. August 2004 zeigte er wiederum eine bevorstehende, längere Landesabwesenheit an. Er ersuchte darum, ihm gegenüber seien bis zu seiner Rückkehr am 11. Oktober 2004 keine fristauslösenden Zustellungen vorzunehmen, insbesondere beispielsweise für einen Weiterzug der Sache ans Bundesgericht. Mit Urteil vom 1. März 2005 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab.
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Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ebenfalls ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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3.1 Da als Vorinstanz ein Gericht entschieden hat, ist das Bundesgericht an dessen Feststellung des Sachverhalts gebunden, soweit diese nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgt ist (Art. 105 Abs. 2 OG). Immerhin hat das Bundesgericht den Sachverhalt trotz der Geltung von Art. 105 Abs. 2 OG von Amtes wegen zu überprüfen; es kann ihn aufgrund der Akten ergänzen bzw. berichtigen (BGE 125 II 105 E. 2d S. 110; BGE 123 II 49 E. 5a S. 51). Offensichtlich unrichtig ist eine Sachverhaltsermittlung nicht schon dann, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist (FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 286).
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Der Umstand, dass der Schriftenwechsel nicht geschlossen wurde, hatte zur Folge, dass es dem Beschwerdeführer gestützt auf Art. 25 VRPG/BE freistand, dem Gericht jederzeit unaufgefordert weitere Eingaben einzureichen. Nach dieser Bestimmung dürfen die Parteien neue Tatsachen und Beweismittel in das Verfahren einbringen, solange das Beweisverfahren nicht geschlossen ist. In der Praxis müssen neue rechtliche und tatsächliche Vorbringen, im Rahmen des Streitgegenstands, berücksichtigt werden, wenn eine entsprechende prozessleitende Verfügung fehlt (vgl. THOMAS MERKLI/ARTHUR AESCHLIMANN/RUTH HERZOG, Kommentar VRPG, Bern 1997, Rz. 5 und 18 zu Art. 25 VRPG/BE). Insofern ist die Bestimmung von Art. 69 Abs. 3 VRPG/BE, wonach von der Anordnung eines weiteren Schriftenwechsels gesprochen wird, relativiert (vgl. MERKLI/ AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Rz. 4 zu Art. 69 VRPG/BE). Insgesamt war der Beschwerdeführer daher zur Wahrnehmung des Replikrechts nicht auf die am 20. April 2004 begehrte Fristansetzung angewiesen. Wie sich aus seiner Beschwerde an das Bundesgericht ergibt, war er sich über diese Rechtslage im Klaren.
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3.2.2 Vor diesem Hintergrund ist die bereits erwähnte Eingabe vom 12. August 2004 zu würdigen. Darin kündigte der Beschwerdeführer wiederum eine Landesabwesenheit an, die vom 13. September bis 11. Oktober 2004 dauern werde. Er führte weiter aus, zufolge Überbeanspruchung seien ihm gegenüber bis zu seiner Rückkehr keine fristauslösenden Zustellungen vorzunehmen, insbesondere beispielsweise für einen Weiterzug der Sache ans Bundesgericht. Mit diesen Ausführungen äusserte sich der Beschwerdeführer in keiner Weise mehr zum Thema der Replik; vielmehr zeigte er an, dass er nach dem Datum seiner Rückkehr den Endentscheid in der Sache erwartete. Das Anliegen der Eingabe vom 12. August 2004 ist richtigerweise so zu verstehen, dass er darum ersuchte, mit diesem Urteil bzw. dessen Eröffnung bis dahin zuzuwarten. Damit stimmt überein, dass der Beschwerdeführer sich beim Gericht in der Folge nicht mehr schriftlich meldete.
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3.3.1 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Strassburger Organe anerkennt, dass auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung verzichtet werden kann (BGE 127 I 44 E. 2e/aa S. 48; BGE 122 V 47 E. 2d S. 52; BGE 121 I 30 E. 5f S. 37 f., je mit Hinweisen). Ebenso lässt es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) grundsätzlich zu, auf den Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren wirksam zu verzichten (Urteile i.S. Meftah gegen Frankreich vom 26. Juli 2002, Recueil CourEDH 2002-VII S. 231, Ziff. 51; Voisine gegen Frankreich vom 8. Februar 2000, Ziff. 32). Dasselbe muss mit Blick auf das Replikrecht zur Vernehmlassung einer Vorinstanz gelten (vgl. FRANK SCHÜRMANN, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. F.R.gegen die Schweiz vom 8. Juni 2001, in: Karl Spühler [Hrsg.], Internationales Zivilprozess- und Verfahrensrecht II, Zürich 2003, S. 73 ff., 80 f.). Für die Wirksamkeit des Verzichts auf ein Verfahrensrecht ist nach der Konvention neben der Unzweideutigkeit der entsprechenden Erklärung die Einhaltung von Mindestgarantien verlangt, die der Bedeutung der Sache entsprechen (Urteile i.S. Schöps gegen Deutschland vom 13. Februar 2001, Recueil CourEDH 2001-I S. 413, Ziff. 48; Poitrimol gegen Frankreich vom 23. November 1993, Serie A, Bd. 277A, Ziff. 31; Pfeifer und Plankl gegen Österreich vom 25. Februar 1992, Serie A, Bd. 227, Ziff. 37 = EuGRZ 1992 S. 99).
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Diese Anforderungen werden missachtet, wenn das Gericht eine Vernehmlassung zwar zustellt, aber einen Antrag auf Replik mit Zwischenverfügung abweist (Urteil Ziegler, a.a.O., Ziff. 34, 39). Unzulässig ist es ferner, eine unaufgefordert eingereichte Stellungnahme des Beschwerdeführers zu einer solchen Vernehmlassung im Endentscheid aus den Akten zu weisen (Urteil F.R., a.a.O., Ziff. 38, 41). Die Konventionsbestimmung wird auch dann verletzt, wenn das Gericht bei der Zustellung einer Vernehmlassung an die beschwerdeführende Partei zum Ausdruck bringt, der Schriftenwechsel sei geschlossen; damit wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme abgeschnitten (vgl. Urteile i.S. Contardi gegen Schweiz vom 12. Juli 2005, Ziff. 36, 45; Spang gegen Schweiz vom 11. Oktober 2005, Ziff. 14, 33).
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3.3.3 In zwei Fällen, bei denen das nationale Gericht der betroffenen Partei die Vernehmlassung vor der Urteilsfällung gestützt auf das innerstaatliche Recht nicht zugestellt hatte, hat sich der EGMR wie folgt geäussert: Das Gericht hätte die Partei darüber informie ren müssen, dass die fragliche Vernehmlassung eingegangen sei und sie dazu schriftliche Bemerkungen einreichen könne, wenn sie wolle (Urteile Göç gegen Türkei vom 11. Juli 2002, Recueil CourEDH 2002-V S. 221, Ziff. 57; Milatova gegen Tschechien vom 21. Juni 2005, Ziff. 61).
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Bei den in E. 3.3.2 dargelegten Fällen F.R., Ziegler, Contardi und Spang bestand in dem Sinne eine andere Ausgangslage, als dem Beschwerdeführer jeweils die Vernehmlassung zugestellt worden war. Die gebotene Fairness lässt es nicht zu, die Partei zwar vom Aktenzuwachs in Kenntnis zu setzen, ihr aber die Äusserungsmöglichkeit dazu gänzlich abzuschneiden. Wenn das Verfahrensrecht allerdings einen einfachen Schriftenwechsel als Regelfall vorsieht, muss es einem Gericht weiterhin gestattet sein, sich bei der Zustellung der Vernehmlassungen in einem ersten Schritt auf die entsprechende Information, ohne förmliche Aufforderung zur Stellungnahme, zu beschränken. Dadurch wird der Beschwerdeführer hinreichend in die Lage versetzt, die Notwendigkeit einer Stellungnahme von seiner Seite zu prüfen und ein derartiges Anliegen wahrzunehmen; andernfalls ist davon auszugehen, dass er darauf verzichtet (vgl. SCHÜRMANN, a.a.O., S. 80 f.). Ein derartiges Vorgehen, wie es das Bundesgericht in seiner heutigen Praxis handhabt, setzt Art. 6 Ziff. 1 EMRK pragmatisch um.
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Im Übrigen genügt es auch nicht, das Replikrecht beim Bundesgericht vorsorglich zu beantragen; vielmehr muss der Beschwerdeführer nach Zustellung der Vernehmlassung entsprechend reagieren (Urteil 4P.207/2002 vom 10. Dezember 2002, E. 1.1; erwähntes Urteil 1A.276/2004, E. 2). Denn eine Beschwerdeergänzung auf dem Weg der Replik erweist sich hier nur insoweit als statthaft, als die Ausführungen in der Vernehmlassung dazu Anlass geben. Mit Anträgen und Rügen, die er bereits in der Beschwerde hätte erheben können, ist er nach Ablauf der Beschwerdefrist ausgeschlossen (BGE 131 I 291 E. 3.5 S. 311; BGE 125 I 71 E. 1d/aa S. 77, je mit Hinweisen).
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3.4 Für den vorliegenden Fall ist daran zu erinnern, dass das Verwaltungsgericht den Schriftenwechsel mit der Zustellung der umstrittenen Vernehmlassung am 20. Februar 2004 nicht förmlich geschlossen hatte (E. 3.2.1). Immerhin beanstandet der Beschwerdeführer zu Recht, das Gericht habe nicht auf seine Eingabe vom 20. April 2004 reagiert, mit der er die Einräumung eines Replikrechts verlangt hatte. Im Ergebnis hat aber das kritisierte Verhalten des Gerichts ihn nicht von einer weiteren Eingabe abgehalten; dabei wusste er genau, dass er sich jederzeit äussern durfte (E. 3.2.1). In dieser Eingabe vom 12. August 2004 hielt der Beschwerdeführer an seinem Anliegen nach einer Replik nicht mehr fest, sondern brachte zum Ausdruck, dass er nach Ablauf der von ihm beantragten Sistierungsfrist den Endentscheid erwartete (E. 3.2.2). Seit der Zustellung der Vernehmlassung war mittlerweile ein knappes halbes Jahr verstrichen. Selbst wenn der Beschwerdeführer, wie er behauptet, stark anderweitig beansprucht und teilweise landesabwesend war, wäre es ihm binnen eines derartigen Zeitraums zuzumuten gewesen, seine Stellungnahme abzugeben, wenn er eine solche wünschte. Unter diesen Rahmenbedingungen steht nichts entgegen, den mit der Eingabe vom 12. August 2004 zum Ausdruck gebrachten Verzicht auf Replik (E. 3.2.3) als rechtswirksam zu betrachten. Gestützt auf diese Eingabe durfte das Gericht ohne Weiterungen direkt über die Streitsache entscheiden.
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