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Informationen zum Dokument  BGE 132 I 86  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
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10. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH gegen Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. und Kantonsgericht Appenzell I.Rh. sowie Y. AG (Staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
2P.294/2005 vom 14. März 2006
 
 
Regeste
 
Art. 9 BV, Art. 9 Abs. 3 BGBM, Art. 18 IVöB, Submissionsgesetz des Kantons Appenzell I.Rh.; Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Zuschlags.  
 
Sachverhalt
 
BGE 132 I, 86 (87)Der Kanton Appenzell Innerrhoden holte im Einladungsverfahren bei zwölf Firmen Offerten für ein elektronisches Archivsystem ein. In die Schlussevaluation kamen vier Anbieter, darunter die Y. AG, St. Gallen, und die X. GmbH, Zürich.
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Im Auftrag von Landammann und Standeskommission erteilte der Ratschreiber den Zuschlag für das elektronische Archivsystem am 25. Februar 2005 zum Preis von Fr. 243'396.- an die Y. AG. Die X. GmbH, deren Offerte unberücksichtigt blieb, erhob hiegegen am 6. März 2005 Beschwerde beim Kantonsgericht (Abteilung Verwaltungsgericht). Das Gericht befand, die Beschwerde genüge den gesetzlichen Anforderungen nicht und räumte der X. GmbH Frist ein, um die Rechtsschrift zu verbessern. Dies tat die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 22. März 2005, worauf der Kantonsgerichtspräsident der Beschwerde mit Verfügung vom 24. März 2005 zunächst aufschiebende Wirkung gewährte. Diese Verfügung hob er am 12. April 2005 wieder auf und entzog der Beschwerde die aufschiebende Wirkung, wogegen sich die X. GmbH bis vor Bundesgericht zur Wehr setzte. Die am 25. April 2005 gegen diesen Zwischenentscheid des Kantonsgerichtspräsidenten erhobene staatsrechtliche Beschwerde blieb jedoch ohne Erfolg; sie wurde vom Geschäftsverzeichnis abgeschrieben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Vertrag mit der berücksichtigten Konkurrentin, der Y. AG, bereits am 15./22. April 2005 abgeschlossen worden war (vgl. Beschluss 2P.116/2005 vom 24. Mai 2005, insbesondere E. 1).
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Inzwischen hatte die X. GmbH ihre Beschwerde beim Kantonsgericht noch einmal ergänzt und erneut um aufschiebende Wirkung nachgesucht (Eingabe vom 19. April 2005 [Postaufgabe]), welches Begehren vom Gericht am 22. April 2005 mangels Rechtsschutzinteresse als hinfällig erklärt wurde. Auch in der Hauptsache blieb die Beschwerde der X. GmbH ohne Erfolg: Mit Urteil vom 6. September 2005 trat das Kantonsgericht des Kantons Appenzell Innerrhoden (Abteilung Verwaltungsgericht) darauf nicht ein.
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Das Bundesgericht heisst die von der X. GmbH gegen diesen Nichteintretensentscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt, und hebt den angefochtenen Entscheid auf.
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Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 3
 
3.1 Das Kantonsgericht trat mit dem angefochtenen Urteil auf die bei ihm gegen den Vergebungsentscheid erhobene Beschwerde nicht BGE 132 I, 86 (88)ein mit der Begründung, gemäss Art. 18 Abs. 1 der Interkantonalen Vereinbarung vom 25. November 1994 über das öffentliche Beschaffungswesen [IVöB] sei eine Aufhebung der Zuschlagsverfügung oder eine Neuverfügung durch das Gericht nur möglich, solange der streitige Vertrag noch nicht abgeschlossen sei. Damit sei vorliegend das Rechtsschutzinteresse bezüglich der Anträge auf Aufhebung der Zuschlagsverfügung bzw. auf gerichtliche Neuverfügung oder Rückweisung dahingefallen, weshalb auf die Beschwerde insoweit nicht einzutreten sei. Für die in Art. 18 Abs. 2 IVöB für diesen Fall vorgesehene Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zuschlagsverfügung bestehe kein Raum: Gemäss dem kantonalen Gesetz vom 29. April 2001 über das öffentliche Beschaffungswesen (Art. 5 Abs. 2) sei das Konkordat nur sinngemäss anwendbar. Massgebend bleibe die kantonale Praxis, wonach Feststellungsklagen subsidiärer Natur seien, wenn das schutzwürdige Interesse ebenso gut mit einer Leistungsklage gewahrt werden könne. Für die Geltendmachung eines Schadens, wie Art. 4 des kantonalen Beschaffungsgesetzes dies vorsehe (Ersatz der dem Anbieter im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren entstandenen Aufwendungen), reichten die Vorbringen in der Beschwerdeschrift vom 6. März 2005 nicht aus. Die Beschwerdeführerin habe in dieser Eingabe nicht geltend gemacht, dass ihr die im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren entstandenen Aufwendungen zu ersetzen seien bzw. dass über die Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Gegenpartei zu entscheiden sei. Sie habe es damit unterlassen, innert der - in Submissionssachen nicht erstreckbaren - Rechtsmittelfrist ihr Begehren mittels Leistungsklage geltend zu machen. Damit entfalle auch das schutzwürdige Interesse an einer "Feststellungsklage" im Sinne von Art. 18 Abs. 2 IVöB.
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3.2 Diese Argumentation ist nicht haltbar. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Anbieter aus Mängeln eines öffentlichrechtlich geordneten Vergebungsverfahrens Schadenersatzansprüche herleiten kann, bestimmt sich (unter Vorbehalt der Verpflichtungen aus dem hier mangels Erreichung der Betragsschwelle nicht anwendbaren Übereinkommen vom 15. April 1994 über das öffentliche Beschaffungswesen (GATT/WTO-Übereinkommen; SR 0.632.231.422 [vgl. Art. XX Ziff. 7 lit. c]) nach dem einschlägigen kantonalen Recht (Urteil 2P.218/2001 vom 31. Januar 2002, publ. in: SJ 2002 I S. 421, E. 2.3, mit Hinweisen; MANFRED WAGNER, Das Bundesgesetz über den Binnenmarkt, in: Schweizerisches BGE 132 I, 86 (89)Aussenwirtschafts- und Binnenmarktrecht, Basel 1999, S. 27 Rz. 73). Die Kantone können in ihren Submissionserlassen hierüber eine spezielle Regelung treffen oder aber in dieser Frage das allgemeine (Staats-)Haftungsrecht zum Zuge kommen lassen (vgl. MARTIN BEYELER, Öffentliche Beschaffung, Vergaberecht und Schadenersatz, Diss. Freiburg 2004, Rz. 566). Nach Art. 4 des innerrhodischen Gesetzes vom 29. April 2001 über das öffentliche Beschaffungswesen haftet der Auftraggeber dem Anbieter für Schaden, den er durch eine rechtswidrige Verfügung verursacht hat, wobei sich die Haftung auf Aufwendungen beschränkt, die dem Anbieter "im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren erwachsen sind". Wie diese Bestimmung auszulegen ist und in welchem kantonalen Verfahren die entsprechenden Ansprüche geltend zu machen sind, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Die Kantone sind aufgrund von Art. 9 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über den Binnenmarkt (BGBM; SR 943.02) verpflichtet, für die Anfechtung von Vergebungsentscheiden eine Beschwerdemöglichkeit vorzusehen; sie sind dabei auch der Vorgabe unterworfen, dass das Beschwerdeverfahren durch den allfälligen Abschluss des streitigen Vertrages nicht gegenstandslos wird, sondern dass in diesem Falle die angerufene Rechtsmittelinstanz - anstelle der Aufhebung des angefochtenen Zuschlages - feststellt, inwiefern der Vergebungsentscheid Bundesrecht verletzt. Eine entsprechende prozessuale Vorschrift findet sich nicht nur in Art. 9 Abs. 3 BGBM, sondern auch in Art. 18 IVöB, deren Vollzug das kantonale Beschaffungsgesetz bezweckt (Art. 1 lit. b) und welche gemäss Art. 5 des Gesetzes im kantonalen Rechtsmittelverfahren "sinngemäss" anwendbar ist. Diese sowohl bundesrechtlich wie auch konkordatsrechtlich verankerte prozessuale Regel ist auf die besondere Interessenlage bei Submissionsstreitigkeiten zugeschnitten. Sie will sicherstellen, dass die Rechtmässigkeit von angefochtenen Vergebungsentscheiden auch dann noch überprüft werden kann, wenn der betreffende Vertrag bereits abgeschlossen worden ist und damit das Verfahren, soweit die Beschwerdebegehren auf die Erwirkung des Zuschlages abzielten, an sich als gegenstandslos zu betrachten wäre. Der Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Zuschlages ist zwar auf die Möglichkeit der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen ausgerichtet und will dem übergangenen Bewerber die Durchsetzung solcher Ansprüche erleichtern (vgl. BGE 125 II 86 E. 5b S. 97 f.). Er besteht aber nach Wortlaut und Sinn von Art. 9 BGBM unabhängig davon, ob bzw. BGE 132 I, 86 (90)auf welcher Rechtsgrundlage und in welchem Verfahren nach dem betreffenden kantonalen Recht Haftungsansprüche gegen den öffentlichen Auftraggeber geltend gemacht werden können. Wer legitimiert gewesen ist, den Zuschlagsentscheid anzufechten, behält den Anspruch auf Überprüfung der Rechtmässigkeit des Zuschlages auch dann, wenn dieser infolge Vertragsabschluss nicht mehr aufgehoben werden kann. Ein dahingehendes Eventualbegehren braucht nicht notwendigerweise bereits in der Beschwerde gegen den (noch nicht vollzogenen) Zuschlag gestellt zu werden; der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gilt als im Begehren um Aufhebung des Zuschlages sinngemäss mitenthalten.
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3.3 Die Auffassung des Kantonsgerichtes, es habe die gegen den streitigen Vergebungsentscheid erhobene Beschwerde der X. GmbH mangels Rechtsschutzinteresses nicht mehr zu behandeln, da der Vertrag mit der Konkurrenzfirma bereits abgeschlossen worden sei und die Beschwerdeführerin nicht schon in ihrer (vor Abschluss des Vertrages eingereichten) Beschwerdeeingabe ihre Schadenersatzansprüche geltend gemacht und beziffert habe, steht nach dem Gesagten in klarem Widerspruch zu Art. 9 BGBM wie auch zur entsprechenden Regelung des Konkordates, auf welche im angefochtenen Entscheid einzig Bezug genommen wird. Das Kantonsgericht hätte sich richtigerweise mit den gegen den Vergebungsentscheid erhobenen Einwendungen auseinandersetzen und in Form eines Feststellungsentscheides über diese Rügen befinden müssen, unabhängig davon, ob die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeeingabe bereits Schadenersatzansprüche geltend gemacht und begründet hatte.
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