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15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersu-chungsamt Gossau sowie Kantonsgericht St. Gallen (Staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.61/2006 vom 25. April 2006 | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK; Zulassung anonymer Zeugen, Wahrung der Verteidigungsrechte. |
Der Einsatz anonymer Zeugen ist in concreto - Fall eines ungewöhnlich gewaltbereiten Einzeltäters, dem schwere SVG-Delikte und Nötigung vorgeworfen werden - zulässig (E. 4.1 und 4.2). |
Die Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte wurde ungenügend kompensiert, indem weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger die Gelegenheit erhielten, den Zeugen in wenigstens indirekter Konfrontation zu befragen (E. 4.3). | |
Sachverhalt | |
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 30. Januar 2006 wegen Verletzung von Art. 9 und Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK beantragt X., diesen kantonsgerichtlichen Entscheid aufzuheben.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Beweiswürdigung sei willkürlich und der Einsatz anonymer Zeugen im Strafverfahren gegen ihn sei unzulässig gewesen. Selbst wenn aber dieser ![]() | 3 |
Nach den Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Beschuldigte ein Recht darauf, den Belastungszeugen zu befragen. Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen, in denen eine Konfrontation aus objektiven, von den Strafverfolgungsbehörden nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich war, ist eine belastende Zeugenaussage grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte den Belastungszeugen wenigstens einmal während des Verfahrens in direkter Konfrontation befragen konnte. Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen. Ersteres kann der Beschuldigte nur, wenn er die Identität des Zeugen kennt; diese ist ihm daher grundsätzlich offen zu legen.
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Dies schliesst allerdings nicht aus, die Identität des Zeugen ausnahmsweise geheimzuhalten und von einer direkten Konfrontation des Zeugen mit dem Beschuldigten abzusehen, wenn dies zur Wahrung schutzwürdiger Interessen erforderlich ist. Als solche anerkannt sind namentlich die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit des Zeugen und, im Falle von verdeckten Ermittlern, die Wahrung ihrer beruflichen Integrität, um ihnen die Fortführung ihrer Tätigkeit im Dienst der Polizei zu ermöglichen. Lässt das Gericht zu, dass ein Zeuge anonym bleibt und bei seiner Befragung sichergestellt wird, dass er weder optisch noch an seiner Stimme erkannt werden kann (indirekte Konfrontation), muss es die dadurch bewirkte Einschränkung der Verteidigungsrechte möglichst kompensieren (Urteil i.S. Kok gegen Niederlande vom 4. Juli 2000, Recueil CourEDH 2000-VI S. 629). Es hat sich namentlich davon zu überzeugen, dass die Identität des Zeugen feststeht und ausgeschlossen werden kann, dass ein anderer an seiner Stelle Zeugnis ablegt (BGE 125 I 127 E. 6c/ff und d S. 137 ff.; BGE 121 I 306 E. 2b S. 309).
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Nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes ist die Zulassung anonymer Belastungszeugen mit der Folge, dass dadurch das Recht des Beschuldigten beschnitten wird, ihm in direkter Konfrontation Fragen zu stellen, ausgeschlossen, wenn dem streitigen ![]() | 6 |
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3.1 "x1" wurde am 26. August 2002 von Untersuchungsrichter Hangartner in Anwesenheit von Untersuchungsrichter Gemperli als Zeuge einvernommen. Auf seine Ankündigung hin, aus Angst vor Racheakten nur anonym aussagen zu wollen, sicherte ihm der Untersuchungsrichter Hangartner die Wahrung seiner Anonymität zu. Dabei sagte der Zeuge u.a. aus, dass er zum fraglichen Zeitpunkt auf der A1 in Richtung St. Gallen gefahren sei. Bei der mittleren Ausfahrt Winterthur sei links vor ihm ein grauer BMW gefahren. Der violette Jaguar des Beschwerdeführers habe bis auf zwei Meter zum grauen BMW aufgeschlossen, habe diesen rechts überholt, sei vor dem BMW wieder eingebogen und habe fast eine Vollbremsung gemacht. Nach dem Abbremsen auf ca. 60-70 km/h hätten beide Fahrzeuge wieder beschleunigt. Als der BMW fast die gleiche Höhe des Jaguars erreicht habe, habe der Jaguarfahrer das Beifahrerfenster hinuntergelassen, eine PET-Flasche auf den Kühler des BMWs geworfen und anschliessend stark beschleunigt. Auf der ![]() | 8 |
Gemäss Aktennotiz des Untersuchungsrichters Hangartner vom 23. Dezember 2002 wurde er von "x1" wegen der bevorstehenden Konfrontationseinvernahme mit dem Beschwerdeführer angerufen. "x1" habe ihn inständig darum gebeten, von einer Konfrontation abzusehen. Er habe Angst vor dem Beschwerdeführer und glaube nicht daran, dass bei einer Konfrontation seine Anonymität gewahrt werden könnte. Daraufhin habe er auf eine direkte Konfrontation verzichtet.
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Untersuchungsrichter Hangartner führte am 14. Februar 2003 auf Verlangen des Verteidigers des Beschwerdeführers eine Konfrontationseinvernahme mit dem Zeugen "x2" durch, zu welcher der Beschwerdeführer nicht erschien. Dessen Verteidiger konnte dem Zeugen Ergänzungsfragen stellen.
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Erwägung 4 | |
4.1 Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid (E. 3a S. 4 f.) erwogen, der Untersuchungsrichter könne nach Art. 83 Abs. 1 der St. Galler Strafprozessordnung vom 1. Juli 1999 (StPO) einem Zeugen Anonymität zusichern, "wenn wichtige Interessen, insbesondere die körperliche oder psychische Integrität des Zeugen" es erforderten. Mit dieser Regelung sollten nach den Materialien Zeugen in Verfahren im Bereich der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels oder der Milieukriminalität vor Repressalien aus dem Umfeld des Beschuldigten geschützt werden. Nach dem Gesetzeswortlaut könne Art. 83 Abs. 1 StPO indessen auch bei weniger schweren Delikten angewendet werden. Dem Beschwerdeführer seien mehrfache grobe Verkehrsregelverletzungen und Nötigung, mithin keine Bagatelldelikte, vorgeworfen worden. Es erscheine daher keineswegs von vornherein unverhältnismässig, den Zeugen Anonymität zuzusichern. Im Weiteren falle in Betracht, dass beide Zeugen erklärt hätten, der Beschwerdeführer habe sich beim umstrittenen Vorfall derart aggressiv verhalten, dass sie Angst vor ihm hätten. Dieser habe sich denn auch bei der polizeilichen Anhaltung sehr aggressiv verhalten und sei laut Strafregister seit 1993 insgesamt siebenmal verurteilt worden, unter anderem wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens, Nötigung, mehrfacher Gewalt und ![]() | 13 |
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Auch wenn der Gesetzgeber den Einsatz anonymer Zeugen nach den Materialien in erster Linie für Verfahren gegen Mitglieder krimineller Organisationen und Terroristen vorgesehen haben mag, aus deren Umfeld regelmässig eine Gefahr für Leib und Leben der Belastungszeugen ausgeht, so schliesst dies nicht aus, ihn auch in anderen Strafverfahren zuzulassen, in denen die im Wesentlichen gleiche konkrete Gefahr besteht, dass die Belastungszeugen Racheakten des Angeschuldigten ausgesetzt sein könnten. Dies konnten die Strafverfolgungsbehörden im vorliegenden Fall ohne Verfassungsverletzung annehmen. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen ungewöhnlich gewaltbereiten Einzeltäter, bei dem auf Grund seiner Vorstrafen und des Therapieberichtes damit gerechnet werden muss, dass er sich an den beiden Belastungszeugen, die ihn bei der Polizei "verpfiffen" haben, rächen könnte. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass ihnen Anonymität zugesichert wurde.
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4.3 Wird in einem Strafverfahren den Zeugen um ihrer Sicherheit Willen Anonymität zugesichert, so muss die dadurch bewirkte Einschränkung der Verteidigungsrechte so weit wie möglich kompensiert werden (oben E. 2). Dies kann etwa durch eine indirekte Konfrontation geschehen, wie sie in Bezug auf "x2" hätte durchgeführt werden sollen. Der Beschwerdeführer erschien nicht zum Termin ![]() | 16 |
Dem Zeugen "x1" hat der Untersuchungsrichter auf dessen Bitte hin eine (auch indirekte) Konfrontation mit dem Beschwerdeführer von vornherein erspart. Der Verteidiger konnte "x1" zwar durch den Gerichtspräsidenten vorher eingereichte Fragen stellen lassen, und das Gericht vergewisserte sich in Bezug auf beide Zeugen, dass diese über einen einwandfreien allgemeinen und automobilistischen Leumund verfügen und den Beschwerdeführer nicht kennen. Indessen hatten weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger Gelegenheit, "x1" in einer wenigstens indirekten Konfrontation zu befragen, obwohl der Beschwerdeführer bzw. sein Verteidiger dies in rechtsgültiger Weise verlangten. Die Verwertung dieser Aussage ist mit den Garantien von Art. 32 Abs. 2 BV i.V.m. Art. 6 Ziff. 1 und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK nicht vereinbar, die Rüge ist begründet.
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4.4 Das Kantonsgericht stützt die Verurteilung des Beschwerdeführers auf beide Zeugenaussagen und damit auch auf die unverwertbare von "x1". Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Das Kantonsgericht wird bei seinem neuen Entscheid zu prüfen haben, ob es die Verurteilung gestützt auf die Aussagen von "x2" allein aufrechterhalten kann, ob es "x1" unter Wahrung seiner Anonymität mit dem Beschwerdeführer konfrontieren will oder letzteren, sofern dies nicht möglich sein sollte, ganz oder teilweise freisprechen muss.
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