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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher | |||
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4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Amt für Migration und Personenstand des Kantons Bern und Haftgericht III Bern-Mittelland (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_823/2009 vom 19. Oktober 2010 | |
Regeste |
Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK, Art. 80 Abs. 2 AuG; Verhältnis von Art. 31 Abs. 4 BV zu Art. 80 Abs. 2 AuG; Möglichkeit, ein Gericht jederzeit anzurufen. |
Verhältnis von Art. 31 Abs. 4 BV - und auch von Art. 5 Ziff. 4 EMRK - zu Art. 80 Abs. 2 AuG (E. 2.4.1-2.4.5). |
Verpflichtung des Haftrichters, im vorliegenden Fall ein selbständiges, erstmalig gestelltes Haftüberprüfungsgesuch entgegenzunehmen und die Haftüberprüfung in die Wege zu leiten (E. 2.5). | |
Sachverhalt | |
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B. Die Haftrichterin 7 des Haftgerichts III Bern-Mittelland trat mit Entscheid vom 11. November 2009 auf das Haftentlassungsgesuch nicht ein, weil noch keine richterliche Haftprüfung gemäss Art. 80 Abs. 2 AuG stattgefunden habe und ein Haftentlassungsgesuch gemäss Art. 80 Abs. 5 AuG frühestens einen Monat nach Haftprüfung gestellt werden könne. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde mit Urteil des Einzelrichters vom 12. November 2009 ab.
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C. X., der in der Folge ausgeschafft worden war, hat am 14. Dezember 2009 beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht. Er beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben, das Verfahren zum materiellen Entscheid an das Haftgericht III Bern-Mittelland zurückzuweisen, ihm zu gestatten, sich bis zum rechtskräftigen Entscheid seines Gesuchs um Einschluss in die vorläufige Aufnahme der Ehefrau in der Schweiz aufzuhalten und in die Schweiz wieder einzureisen. (...)
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
Erwägung 1.3 | |
1.3.1 Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur legitimiert, wer u.a. ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung seiner Eingabe hat (lit. c). Dieses muss nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuell und praktisch sein (Urteil 2C_899/2008 vom 18. Juni 2009 E. 1.2 [nicht publ. in: BGE 135 II 296 ] mit Verweis auf BGE 123 II 285 E. 4 S. 286 f.; lediglich zum aktuellen Interesse vgl. BGE 136 II 101 E. 1.1 S. 103). Fällt das schutzwürdige Interesse im Laufe des Verfahrens dahin, wird die Sache als erledigt erklärt; fehlte es schon bei der Beschwerdeeinreichung, ist auf die Eingabe nicht einzutreten (Urteil 2C_899/2008 ![]() | 5 |
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(...)
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Erwägung 2 | |
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2.2 Nach Art. 80 Abs. 5 AuG kann eine inhaftierte Person erst einen Monat nach der Haftüberprüfung ein Haftentlassungsgesuch einreichen. Offensichtlich ist, dass im Zeitpunkt als der Beschwerdeführer sein Gesuch um Haftentlassung einreichte, noch keine erstmalige Haftüberprüfung im Sinne von Art. 80 Abs. 2 AuG erfolgt war. Insofern kann das Gesuch um Haftentlassung nur so verstanden werden, dass der Beschwerdeführer von sich aus eine ![]() | 9 |
Erwägung 2.3 | |
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Erwägung 2.4 | |
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2.4.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts beschränkt sich die Bestimmung von Art. 31 Abs. 4 BV nicht wie Art. 5 Ziff. 4 EMRK darauf, auf einen Antrag hin so rasch als möglich, allenfalls nach Prüfung durch eine Verwaltungsbehörde, eine gerichtliche Beurteilung des Freiheitsentzuges zu gewährleisten. Vielmehr räumt sie jeder von einem Freiheitsentzug betroffenen Person das Recht ein, ![]() | 13 |
2.4.3 Den Zeitpunkt der Anrufung des Richters selber zu bestimmen, heisst allerdings noch nicht, dass damit auch die Überprüfung der Haft durch den Verhafteten unmittelbar bestimmt wird. Nach Art. 31 Abs. 4 Satz 2 BV entscheidet das Gericht "so rasch wie möglich" und nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK "innerhalb kurzer Frist" (dazu auch Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 ff., 186 zu Art. 27). Welche Zeitdauer als so rasch als möglich bzw. als innerhalb kurzer Frist gilt, innerhalb derer ein Haftüberprüfungsverfahren durchgeführt werden muss, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab, insbesondere der Art der Haft und ihrer Gründe sowie der Komplexität des Verfahrens (vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 109). Durch die Möglichkeit, eine Haft früher ihrer Überprüfung zuführen zu können, folgt deshalb nicht notwendigerweise, dass auch der Richter früher zu einem Entscheid kommen muss. Allerdings darf durch das Verhalten des Richters der grundrechtliche Anspruch auf jederzeitige Anrufung eines Gerichts zur Überprüfung der Haft nicht ausgehöhlt werden (siehe dazu auch KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2007, S. 66), indem der Richter etwa so lange zuwartet, bis die Angelegenheit gegenstandslos wird: Grundrechte sind - worauf Art. 35 BV verweist - in der Rechtsordnung zu ![]() | 14 |
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Im Hinblick auf die vorliegende Streitsache stellt sich nunmehr die Frage, ob diese Regelung auch den Anforderungen von Art. 31 Abs. 4 BV und auch von Art. 5 Ziff. 4 EMRK, sofern der Gesuchsteller selbst ein Gesuch auf Haftprüfung stellt, entspricht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das AuG ein Bundesgesetz ist, welches - im Sinne eines Anwendungsgebots und keines Prüfungsverbots (BGE 135 II 384 E. 3.1 S. 391) - für das Bundesgericht massgebend ist (Art. 190 BV).
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2.4.5 Art. 80 Abs. 2 AuG hat die ausländerrechtlich zuständige Behörde und nicht den verhafteten Ausländer im Blick. Er verpflichtet jene, innert 96 Stunden die Haftprüfung zu veranlassen. Adressat sind die ausländerrechtlichen Vollzugsorgane. Insofern handelt es sich um eine obligatorische - gesetzlich angeordnete - richterliche Haftüberprüfung (vgl. dazu HUGI YAR, a.a.O., N. 10.19). Zur Sicherung der Grundrechte der in der Regel rechtsunkundigen Ausländer sollen diese von Amtes wegen in den Genuss der Ansprüche ![]() | 17 |
2.5 In der hier strittigen Angelegenheit hat der Beschwerdeführer kurz nach seiner Festnahme beim Haftgericht III Bern-Mittelland ein Gesuch um Haftüberprüfung gestellt. Entsprechend den Ausführungen (oben E. 2.4) wäre der Richter verpflichtet gewesen, das Gesuch entgegenzunehmen und die Haftüberprüfung in die Wege zu leiten, indem die zuständige kantonale Behörde unter Fristansetzung aufgefordert worden wäre, die notwendigen Unterlagen dem Gericht einzureichen. Durch die Nichtanhandnahme des Gesuchs hat der Haftrichter dem Beschwerdeführer das Recht aus Art. 31 Abs. 4 BV und aus Art. 5 Ziff. 4 EMRK verweigert (siehe auch Art. 29 Abs. 1 BV). Die Argumentation sowohl des Haftgerichts III Bern-Mittelland als auch des Verwaltungsgerichts verkennt den grundrechtlichen Gehalt des Gesuchs des Beschwerdeführers. Wie bereits ausgeführt, wollen Art. 31 Abs. 4 BV und Art. 80 Abs. 2 AuG zwei unterschiedliche Konstellationen regeln: hier die Überprüfung von Amtes wegen, dort die durch den Beschwerdeführer ausgelöste Haftüberprüfung. Was in diesem Zusammenhang schliesslich "so rasch als möglich" (Art. 31 Abs. 4 BV) heisst, braucht nicht abschliessend beurteilt zu werden. In jedem Fall war es unzulässig, auf das Gesuch um Haftentlassung nicht einzutreten. Unzulässig wäre es auch gewesen, das Gesuch in der Annahme, die Ausschaffung könne innert 96 Stunden erfolgen, ruhen zu lassen. Vielmehr hätte es entgegengenommen und beförderlich der Entscheidung zugeführt werden sollen.
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