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21. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. R. gegen Einwohnergemeinde Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_962/2012 vom 29. Juli 2013 | |
Regeste |
Sozialhilfe; Recht auf Existenzsicherung (Art. 12 BV; Art. 29 Abs. 1 KV/BE). |
Diese Massnahme ist weder unverhältnismässig noch stellt sie eine Verletzung der persönlichen Freiheit dar (E. 4.3). |
Der Einsatz am Testarbeitsplatz ist als zumutbare Arbeit zu betrachten (E. 4.4). |
Hat die betroffene Person die Möglichkeit, die Stelle jederzeit anzutreten und ermöglicht ihr die Teilnahme ein existenzsicherndes Erwerbseinkommen, können die finanziellen Unterstützungsleistungen für die vorgesehene Dauer des Einsatzes vollständig eingestellt werden (E. 5). | |
Sachverhalt | |
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A.a Der 1969 geborene R. wird seit Oktober 2009 vom Sozialdienst der Einwohnergemeinde Bern finanziell unterstützt. (...) Mit Schreiben vom 28. Februar 2011 wies ihn die Einwohnergemeinde an, sich am 1. März bei der Citypflege der Stiftung Contact Netz in Bern zur Arbeitsaufnahme zu melden (...). Gleichzeitig wurde R. darauf hingewiesen, dass die Sozialhilfeleistungen im Widersetzungsfall eingestellt würden. Dieser nahm die Arbeit nicht auf, worauf ihn der Sozialdienst am 8. März 2011 ermahnte, die Weisung zu befolgen und die nach wie vor offene Arbeitsstelle anzutreten. Da R. dieser Aufforderung keine Folge leistete, verfügte die Einwohnergemeinde am 21. März 2011 androhungsgemäss die Einstellung der wirtschaftlichen Hilfe per 31. März 2011. Gleichzeitig entzog sie einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.
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A.b Eine Beschwerde gegen diese Verfügung wies das Regierungsstatthalteramt Bern-Mittelland am 4. Oktober 2011 ab, nachdem dieses zuvor mit Zwischenverfügung vom 20. April 2011 die Beschwerde gegen den von der Sozialhilfebehörde verfügten Entzug der aufschiebenden Wirkung gutgeheissen hatte.
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B. R. erhob gegen den Entscheid des Regierungsstatthalteramtes vom 4. Oktober 2011 Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Mit Einzelrichterentscheid vom 20. Januar 2012 wurde unter anderem der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gutgeheissen, soweit der Beschwerde nicht ohnehin von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukam. Mit Entscheid vom 18. Oktober 2012 hiess das kantonale Gericht die Beschwerde, soweit es darauf eintrat, dahin gehend gut, dass es den angefochtenen Entscheid des Regierungsstatthalteramtes insoweit aufhob, als damit eine den angeordneten zweimonatigen Einsatz am Testarbeitsplatz (TAP) überschreitende Leistungseinstellung bestätigt wurde. Da die Widersetzlichkeit des Sozialhilfeempfängers nach Ablauf der befristeten Erwerbstätigkeit laut Verwaltungsgericht grundsätzlich lediglich eine Leistungskürzung rechtfertigt, wies es die Sache im ![]() | 4 |
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt R. beantragen, es sei der Entscheid des Verwaltungsgerichts insoweit aufzuheben, als damit eine Leistungseinstellung für zwei Monate angeordnet worden sei, und es sei ihm für die zwei Monate wirtschaftliche Sozialhilfe zu gewähren. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an das kantonale Gericht, subeventualiter an das Sozialamt zurückzuweisen. Zudem wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
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Das Sozialamt beantragt Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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3.2 Gemäss Art. 23 des Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2001 über die öffentliche Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG; BSG 860.1) hat jede bedürftige Person Anspruch auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe (Abs. 1). Als bedürftig gilt, wer für seinen Lebensunterhalt nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann (Abs. 2). Dabei gilt es, den Grundsatz der Subsidiarität zu beachten (Art. 9 Abs. 1 SHG). ![]() | 11 |
3.3 Bundes- und Kantonsverfassung sowie Gesetz knüpfen den grundsätzlichen Anspruch auf Hilfe in Notlagen somit an bestimmte Voraussetzungen, indem sie klarstellen, dass die in Not geratene Person nur Anspruch auf entsprechende Leistungen des Staates hat, wenn sie sich ausserstande sieht - d.h. wenn es ihr rechtlich verwehrt oder faktisch unmöglich ist -, selber für sich zu sorgen. Keinen Anspruch hat somit, wer solche Leistungen beansprucht, obwohl er objektiv in der Lage wäre, sich, insbesondere durch die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, aus eigener Kraft die für das Überleben erforderlichen Mittel selber zu verschaffen; denn solche Personen stehen nicht in jener Notsituation, auf die das Grundrecht auf Hilfe in Notlagen zugeschnitten ist. Bei ihnen fehlt es bereits an den Anspruchsvoraussetzungen, weshalb sich in solchen Fällen die Prüfung erübrigt, ob die Voraussetzungen für einen Eingriff in das Grundrecht erfüllt sind, namentlich, ob ein Eingriff in dessen Kerngehalt vorliegt, denn dies setzt einen rechtmässigen Anspruch voraus. Ebenso wenig ist in derartigen Konstellationen zu untersuchen, ob ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der unterstützungsbedürftigen Person vorliegt, welches allenfalls eine vollständige Verweigerung der Unterstützungsleistungen rechtfertigen könnte (BGE 130 I 71 E. 4.3 S. 75 f. mit Hinweisen; Urteil 8C_787/2011 vom 28. Februar 2012 E. 3.2.1).
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3.4 Art. 36 SHG sieht Kürzungen der wirtschaftlichen Hilfe bei Pflichtverletzungen oder bei selbstverschuldeter Bedürftigkeit vor (Abs. 1). Die Leistungskürzung muss dem Fehlverhalten der bedürftigen Person angemessen sein und darf den absolut nötigen Existenzbedarf nicht berühren (Abs. 2). Im Unterschied zu Art. 23 SHG, der einen Anspruch auf Sozialhilfe unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt erst entstehen lässt, bezweckt Art. 36 SHG, weisungswidriges Verhalten ("Pflichtverletzungen") zu sanktionieren, das nicht die Ebene der Anspruchsvoraussetzungen als solche in Frage stellt (Urteil 2P.147/2002 vom 4. März 2003 E. 3.4). Die Auffassung, bei Ablehnung zumutbarer Arbeit fehlten nicht die Anspruchsvoraussetzungen, sondern seien - gestützt auf eine gesetzliche Grundlage sowie nach Massgabe des Verhältnismässigkeitsprinzips - lediglich Sanktionen, beispielsweise in Form (befristeter) ![]() | 13 |
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Erwägung 4 | |
4.1 Das Verwaltungsgericht hat unter Verweisung auf die massgebenden Bestimmungen des SHG geschlossen, die Verpflichtung zur Annahme einer zumutbaren Arbeit ergebe sich unmittelbar aus dem Sozialhilfegesetz. Der TAP-Einsatz sei angeordnet worden, um ![]() | 15 |
4.2 Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht vor, es habe willkürlich festgehalten, dass die Gemeinde legitimiert gewesen sei, gestützt auf Art. 27 Abs. 2 SHG die Weisung zum TAP-Antritt zu erteilen. Die zu diesem Ergebnis führende vorinstanzliche Annahme, seine Bereitschaft zur Aufnahme von bezahlter Arbeit erscheine fraglich, beruhe auf einer qualifiziert unrichtigen Feststellung des Sachverhalts. Er habe vielmehr alles Erforderliche unternommen, um sich aus eigenem Antrieb aus der Situation der Erwerbslosigkeit zu befreien. Dass der Beschwerdeführer sich regelmässig um Arbeit bemüht hat, ist aktenkundig und wird weder ![]() | 16 |
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Nach Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. Das Recht auf persönliche Freiheit ist nicht absolut geschützt, sondern kann eingeschränkt werden, wenn der Eingriff verhältnismässig ist (Art. 36 Abs. 3 BV). Das Verhältnismässigkeitsprinzip besagt, dass die Grundrechtseinschränkung zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich sein muss und dem Betroffenen zumutbar ist (vgl. BGE 134 I 140 E. 6.2 S. 151). Durch die Kompetenz der Sozialhilfebehörde, die betroffene Person zu einer bestimmten, mit Sinn und Zweck der Sozialhilfe in Zusammenhang stehenden Handlung anzuweisen, kann zwar das Grundrecht der persönlichen Freiheit tangiert werden. Die ![]() | 18 |
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Das kantonale Gericht beurteilte die Zumutbarkeit der Aufnahme einer Tätigkeit im Testarbeitsplatz der Citypflege anhand der Begriffsumschreibung in Art. 28 Abs. 2 lit. c SHG in Verbindung mit Art. 8g Abs. 2 SHV, was nicht zu beanstanden ist. Danach gilt die Teilnahme an von Kanton und Gemeinden organisierten Qualifikations-, Beschäftigungs- und Integrationsmassnahmen grundsätzlich als zumutbar, sofern nicht gesundheitliche Hinderungsgründe vorliegen, was beim Beschwerdeführer jedoch unbestrittenermassen nicht der Fall ist. Beim TAP handelt es sich um ein Angebot aus ![]() | 20 |
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Erwägung 5 | |
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5.3 Eine Person, welche eine konkret zur Verfügung stehende Erwerbsmöglichkeit ausschlägt, steht somit nicht in jener spezifischen Notlage, auf die Art. 12 BV zugeschnitten ist, weshalb der Schutzbereich des Grundrechts durch die Einstellung von Hilfeleistungen in einem solchen Fall gar nicht betroffen ist. Wem es faktisch und rechtlich möglich ist, die erforderlichen Mittel für ein menschenwürdiges Dasein selbst zu beschaffen, ist nicht bedürftig und ist ![]() | 24 |
5.4 Das Verwaltungsgericht hat erwogen, mit der Weigerung zur Teilnahme am TAP widersetze sich der Beschwerdeführer einer Abklärungsmassnahme und schlage gleichzeitig ein konkretes, befristetes Arbeitsangebot aus. Unter Hinweis auf die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung hat es geprüft, ob es sich dabei um eine Pflichtverletzung handelt, auf die mit einer Sanktion zu reagieren ist oder ob ein Sachverhalt vorliegt, welcher die Voraussetzungen zum Bezug von Hilfeleistungen betrifft. Ausgehend von der Feststellung, dass die TAP-Einsätze bei vollem Pensum mit einem den Sozialhilfeansatz übersteigenden Lohn entschädigt werden und bei Antritt der Stelle die Sozialhilfe so lange ausgerichtet wird, bis ![]() | 25 |
5.5 War es dem Beschwerdeführer somit zumutbar, die angewiesene Stelle beim TAP anzutreten, folgt daraus, dass er weder nach dem kantonalen Sozialhilfe- oder Verfassungsrecht noch aufgrund von Art. 12 BV während der vorgesehenen Dauer von zwei Monaten einen Anspruch auf wirtschaftliche Unterstützung hat. Die befristete vollständige Einstellung der Unterstützungsleistungen ist damit weder willkürlich noch sonst wie verfassungswidrig. Die Frage, ob die Voraussetzungen für den Eingriff in das Grundrecht auf Existenzsicherung erfüllt wären, namentlich, ob ein Eingriff in den Kerngehalt dieses Grundrechts vorläge (vgl. Art. 36 BV), stellt sich bei dieser Rechtslage nicht. Ebenso wenig muss geprüft werden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein rechtsmissbräuchliches Verhalten - welches dem Beschwerdeführer im Übrigen nicht vorgeworfen wird - allenfalls eine vollständige Verweigerung der Unterstützungsleistungen rechtfertigen könnte.
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