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40. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.A. und B.A. gegen Amt für Migration des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_1052/2016 / 2C_1053/2016 vom 26. April 2017 | |
Regeste |
Art. 3, Art. 5 Ziff. 1 lit. f, Art. 8 EMRK; Art. 10 Abs. 3, Art. 25 Abs. 3 BV; Art. 76a, Art. 80a Abs. 5 AuG; Art. 1 Abs. 3, Art. 4 Dublin-Assoziierungsabkommen; Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung. | |
Sachverhalt | |
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Am 4. Oktober 2016, 10.45 Uhr, verhaftete die Polizei des Kantons Zug A.A. und B.A. Die per 5. Oktober 2016 durch einen unbegleiteten Flug nach Oslo organisierte Rückführung wurde jedoch abgebrochen, worauf das kantonale Migrationsamt eine begleitete Rückführung in die Wege leitete. A.A. wurde mit ihrer Familie nach Zug zurückgebracht und mit ihrer vier Monate alten Tochter im Flughafengefängnis Zürich untergebracht. B.A. verblieb in der Abteilung Ausschaffungshaft der Strafanstalt Zug, und die drei grösseren Kinder wurden von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB mit Entscheid vom 5. Oktober 2016 unter Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Eltern in einem Kinderheim untergebracht. Mit Verfügung desselben Datums ordnete das kantonale Amt für Migration gegenüber A.A. und B.A. zwecks Sicherstellung des Vollzugs der Überstellung an den zuständigen Dublin-Staat gestützt auf Art. 76a Abs. 3 lit. b AuG eine Administrativhaft (so genannte "Dublin-Haft", vgl. Botschaft vom 7. März 2014 über die Genehmigung und die Umsetzung der Notenaustausche zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnungen [EU] Nr. 603/2013 und [EU] Nr. 604/2013 [Weiterentwicklungen des Dublin/Eurodac-Besitzstands], [nachfolgend: Botschaft Dublin 2014] BBl 2014 2694) von sechs Wochen an.
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B. In ihren Eingaben vom 11. Oktober 2016 liessen A.A. und B.A. beim Verwaltungsgericht des Kantons Zug einen Antrag auf Haftüberprüfung einreichen und beantragen, es seien die Haftanordnungen des kantonalen Amtes für Migration des Kantons Zug vom 5. Oktober 2016 aufzuheben, und sie seien umgehend aus der Haft zu entlassen. Mit zwei separaten Verfügungen vom 16. Oktober 2016 bestätigte die Haftrichterin am Verwaltungsgericht des Kantons Zug die angeordnete Haft für sechs Wochen (bis zum 15. November 2016). Am 25. Oktober 2016 wurden A.A. und B.A. zusammen mit ihren Kindern in Begleitung von Polizistinnen und Polizisten, medizinischem Fachpersonal und einer Vertretung der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter in einem eigens dafür gecharterten Sonderflug nach Norwegen zurückgeführt.
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C. Mit (in einer Eingabe eingereichten) Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 17. November 2016 beantragen ![]() | 4 |
(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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2.2 Gemäss Art. 3 EMRK, Art. 10 Abs. 3 und Art. 25 Abs. 3 BV darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden (BGE 141 I 141 E. 6.3.1 S. 144; BGE 140 I 246 E. 2.4.1 S. 249; BGE 139 II 65 E. 6.4 S. 76), wofür konkrete und auf den Einzelfall bezogene Anhaltspunkte einer gewissen Schwere geltend gemacht werden müssen. Art. 3 in Verbindung mit Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, aktiv darauf hinzuwirken, dass sämtliche ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen keine durch Art. 3 EMRK verbotene Behandlung erfahren. Unter diesem Titel haben die Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass schutzbedürftige Personen wie Familien mit Minderjährigen oder ![]() | 8 |
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2.4 In der vorliegenden Konstellation wurde die Beschwerdeführerin nach Abbruch des auf den 4. Oktober 2016 angesetzten Vollzugs ![]() | 10 |
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3.1 Die Haftgründe der Dublin-Haft sind in Art. 76a AuG geregelt. Art. 76a AuG wurde zur Erfüllung der in Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 des ![]() | 12 |
3.2 Eine Person kann nicht einzig deswegen inhaftiert werden, weil sie sich in einem Dublin-Verfahren befindet (Art. 28 Abs. 1 der Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [Neufassung] [ABl. L 180 vom 29. Juni 2013 S. 31-53] [nachfolgend: Dublin-Verordnung]; Botschaft Dublin 2014, BBl 2014 2689). Gemäss Art. 76a AuG kann, zur Sicherstellung der Wegweisung in den für das Asylverfahren zuständigen Staat, die betroffene Person inhaftiert werden, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass die Person sich der Durchführung der Wegweisung entziehen will, die Haft verhältnismässig ist, und sich weniger einschneidende Massnahmen nicht wirksam anwenden lassen (Art. 76a AuG; unter Verweis auf Art. 28 Abs. 2 der Dublin-Verordnung); die Anzeichen für eine Vereitelung müssen erheblich sein (HRUSCHKA/MAIANI, EU Immigration and Asylum Law, A Commentary, 2. Aufl. 2016, N. 6 zu Art. 28 Dublin III Verordnung [EU] Nr. 604/2013; BUSSLINGER/SEGESSENMANN, Ausschaffungshaft in Dublin-Verfahren, 2013, S. 223). Art. 28 Abs. 2 der Dublin-Verordnung enthält, von im Dublin-Verfahren selbst gründenden Abweichungen abgesehen, inhaltlich denselben Standard wie andere sekundärrechtliche Normen zur ausländerrechtlichen Haft, wie insbesondere Art. 8 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013 S. 96-116; HRUSCHKA/MAIANI, a.a.O., N. 4 zu Art. 28 Dublin III Verordnung [EU] Nr. 604/2013; für eine Übersicht über ![]() | 13 |
Erwägung 3.3 | |
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3.3.2 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezieht jedoch die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in die Würdigung mit ein und hat eine spezifische Rechtsprechung zur ausländerrechtlichen Inhaftierung von Erwachsenen entwickelt, die auf ihrer Flucht von ihren Kindern begleitet werden. Ob im vorliegenden Fall den Beschwerdeführenden rechtmässig die Freiheit entzogen wurde bzw. der in der Heimeinweisung zu erblickende rechtliche Freiheitsentzug der Kinder (BGE 121 III 306 E. 2 S. 307 ff.; bestätigt in Urteil 5A_215/2012 vom 7. Mai 2012 E. 3; im Gegensatz dazu der faktische Freiheitsentzug [Art. 80a Abs. 5 AuG] beim Verbleib der Kinder bei den inhaftierten Eltern vgl. zit. Urteil A.B., § 122 ff.; ![]() | 15 |
Erwägung 4 | |
4.1 Gemäss den angefochtenen Verfügungen war im vorinstanzlichen Verfahren unbestritten, dass die Beschwerdeführenden und ihre Kinder ein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK pflegen, weshalb der Schutzbereich dieser konventionsrechtlichen Garantie eröffnet ist. Diese Garantie hindert die Konventionsstaaten grundsätzlich nicht daran, die Anwesenheit ausländischer Staatsangehöriger auf ihrem Staatsgebiet zu regeln und deren Aufenthalt unter Beachtung überwiegender Interessen des Familien- und Privatlebens gegebenenfalls auch wieder zu beenden (BGE 139 I 330 E. 2.1 S. 335; BGE 138 I 246 E. 3.2.1 S. 250 f. mit Hinweisen). Ebenso wenig steht diese Garantie als solche einer ausländerrechtlichen Inhaftierung von Familien mit Kindern absolut entgegen (vgl. GELBLAT, a.a.O., N. 26). Dessen ungeachtet kann sich ein Staat zur Durchsetzung eines hängigen Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens nicht sämtlicher konventionsrechtlicher Garantien entledigen, und dies insbesondere nicht mit Blick auf besonders schutzbedürftige Personen (zit. Urteil Mubilanzila Mayeka, § 81).
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4.2 Werden Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren, die nach innerstaatlichem Recht nicht in ausländerrechtliche Dublin-Haft genommen werden können (Art. 80a Abs. 5 AuG), im Zusammenhang der Inhaftierung ihrer Eltern in ein Heim eingewiesen, führt die Behörde selbst deren Status als unbegleitete Minderjährige herbei und verunmöglicht eine Zusammenführung mit nahen Familienangehörigen, wozu sie unter Art. 8 EMRK geradezu verpflichtet wäre (zit. Urteil Mubilanzila Mayeka, §§ 82, 85; Urteil des EGMR Johansen versus Norway vom 27. Juni 1996 [Nr. 530/616], § 78). Ein solcher Eingriff in die konventionsrechtliche Garantie von Art. 8 Ziff. 1 EMRK ist nur zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und im überwiegenden öffentlichen Interesse erfolgt (Art. 8 Ziff. 2 EMRK). In dieser Interessenabwägung kommt dem ![]() | 17 |
4.3 Aus den angefochtenen Verfügungen geht nicht hervor, wo die Beschwerdeführenden und ihre Kinder zwischen ihrer Einreise in die Schweiz am 30. Mai 2016 und ihrer Inhaftierung am 5. Oktober 2016 untergebracht waren. Die separate Inhaftierung der Familienmitglieder lässt sich jedoch, entgegen den angefochtenen Verfügungen, nicht mit Art. 8 EMRK vereinbaren. Anlässlich der Überprüfung der angeordneten ausländerrechtlichen Dublin-Haft hat sich die Vorinstanz nicht mit dem im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachten Argument, sie hätten die auf den 4. Oktober 2016 angesetzte Ausreise nur wegen der fehlenden Identitätspapiere der Kinder nicht angetreten, auseinandergesetzt, sondern sich darauf beschränkt festzuhalten, die Beschwerdeführenden hätten ihre Inhaftierung durch ihr renitentes Verhalten verursacht. Unter dem Gesichtspunkt, ob ein milderes Mittel als die Inhaftierung zur Verfügung gestanden hätte, machte die Vorinstanz geltend, ein solches - wie etwa der gescheiterte unbegleitete Flug - sei nicht ersichtlich; eine Evaluation anderer Möglichkeiten als die Inhaftierung der Eltern, den Entzug deren Obhutsrechts und die Fremdplatzierung der Kinder in einem Kinderheim (wie etwa die Unterbringung in kantonseigenen Liegenschaften oder Unterkünften, die vom Kanton gemietet worden sind, in einem Durchgangsheim oder allenfalls sogar in einem Jugendheim für unbegleitete Minderjährige) fand nicht statt. Die separate Inhaftierung des Beschwerdeführers bzw. der Beschwerdeführerin mit ihrem vier Monate alten Baby im Flughafengefängnis in Zürich unter Trennung von ihren älteren drei Kindern wurde somit nicht als ultima ratio und nach einer gründlichen Prüfung weniger einschneidender Massnahme angeordnet, weshalb sich der Eingriff in ihr ![]() | 18 |
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