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12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Departement für Sicherheit des Kantons Wallis, Dienststelle für Straf- und Massnahmenvollzug und Straf- und Massnahmenvollzugsgericht Wallis (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_111/2020 vom 31. März 2020 | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 1 EMRK; Art. 5 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 1 BV; Art. 221, Art. 229-233 und Art. 363 f. StPO. Ausreichende gesetzliche Grundlage für Sicherheitshaft im massnahmenrechtlichen gerichtlichen Nachverfahren. | |
Sachverhalt | |
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B. Am 2. Dezember 2019 beantragte die kantonale Dienststelle für Straf- und Massnahmenvollzug, Amt für Sanktionen und Begleitmassnahmen (nachfolgend: Vollzugsdienst), beim Vollzugsgericht die ![]() ![]() | 2 |
C. Mit Verfügung vom 20. Dezember 2019 ordnete das ZMG die Versetzung des Verurteilten in Sicherheitshaft an (ab dem 1. Januar 2020 bis zum hängigen Entscheid im gerichtlichen Nachverfahren, vorläufig bis längstens zum 31. März 2020). Eine vom Verurteilten am 6. Januar 2020 dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht des Kantons Wallis, Strafkammer, mit Verfügung vom 30. Januar 2020 ab.
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D. Gegen die Verfügung des Kantonsgerichts vom 30. Januar 2020 gelangte der Verurteilte mit Beschwerde vom 2. März 2020 an das Bundesgericht. Er beantragt (in der Hauptsache) die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, die Feststellung, dass die gegen ihn angeordnete Sicherheitshaft ungesetzlich und verfassungswidrig sei, sowie seine unverzügliche Haftentlassung. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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Im Hinblick auf eine allfällige Lockerung des Massnahmenvollzugsregimes (Arbeitsexternat) im Jahr 2020 habe der Beschwerdeführer die Zusammenarbeit mit dem zuständigen psychiatrischen Sachverständigen verweigert. In seinem Gutachten vom 18. Oktober 2019 gehe dieser von einer hohen Rückfallgefahr für erneute pädosexuelle Delinquenz aus. Da "kein nennenswerter Therapieerfolg" eingetreten ![]() ![]() | 8 |
Nach Ansicht des Kantonsgerichtes bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine weitere Verlängerung der bisherigen stationären therapeutischen Massnahme im hängigen massnahmerechtlichen Nachverfahren.
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2.5 Dem erwähnten Urteil des EGMR I.L. gegen Schweiz lag - wie im vorliegenden Fall - ein selbstständiges nachträgliches Verfahren ![]() ![]() | 15 |
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Zunächst ist zu beachten, dass massgeblich der Stand der Rechtsprechung und Gesetzgebung am 20. Dezember 2019 ist, als das kantonale Zwangsmassnahmengericht die Sicherheitshaft (per 1. Januar 2020) anordnete (Urteile des EGMR Weber gegen Schweiz vom 26. Juli 2007, Nr. 3688/04, § 42; Wloch gegen Polen vom 19. Oktober 2000, Nr. 27785/95, § 114). Im Verfahren I.L. gegen Schweiz war es dagegen der 13. Juni 2016, als das in jenem Fall zuständige Zwangsmassnahmengericht die Sicherheitshaft anordnete (vgl. die Sachverhaltsangaben im zit. Urteil 6B_834/2016; s. auch zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2).
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Wesentlich ist sodann, dass das Bundesgericht nebst den in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheiden seit dem 1. Januar 2000 einen grossen Teil seiner Urteile und seit dem 1. Januar 2007 sämtliche Endentscheide auf dem Internet publiziert (www.bger.ch unter "Rechtsprechung"). Diese Rechtsprechung ist ebenfalls zu berücksichtigen. Aus dem Hinweis im Urteil I.L. gegen Schweiz, es gebe lediglich einen Grundsatzentscheid, der dieselbe Situation betreffe, ist nicht auf das Fehlen einer lang andauernden und konstanten Rechtsprechung zu schliessen. Soweit dieselbe Situation bzw. Rechtsfrage betroffen ist, steht definitionsgemäss am Anfang einer konstanten Rechtsprechung ein einziger Grundsatzentscheid, während die nachfolgenden Entscheide diesen bestätigen und deshalb ![]() ![]() | 18 |
Schliesslich stellt sich die Frage, welche Entscheide zum Nachweis des Bestehens einer lang andauernden und konstanten Rechtsprechung beizuziehen sind. Der EGMR unterschied im Urteil I.L. gege n Schweiz insbesondere zwischen der nachträglichen Anordnung einer Verwahrung einerseits und der (damals wie hier zur Diskussion stehenden) Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme (Urteil I.L., § 50 f.). Diese nicht weiter begründete Kategorisierung vermag indessen aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen:
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Vergleichbar bzw. "identisch" sind Entscheide, wenn sie in den rechtserheblichen Aspekten übereinstimmen. Soweit es um die Sicherheitshaft im Hinblick auf einen selbstständigen nachträglichen Entscheid des Gerichts geht, muss insofern massgebend sein, ob ernsthaft zu erwarten ist, gegen die betroffene Person werde der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion angeordnet. Dies entspricht im Übrigen der Formulierung des Gesetzesentwurfs, den der Bundesrat mit seiner Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung veröffentlichte (BBl 2019 6697, 6799 f.; s. dazu E. 2.8 hiernach). Insofern nach der in Aussicht stehenden Sanktionsform zu unterscheiden, entbehrt ebenso der inhaltlichen Rechtfertigung wie eine Unterscheidung nach den speziellen Haftgründen (vgl. zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2).
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Der EGMR übersieht auch, dass im Zeitpunkt der Haftanordnung oftmals noch nicht feststeht, welche freiheitsentziehende Sanktion letztlich angeordnet wird. Auch im vorliegenden Verfahren hatte der psychiatrische Sachverständige (in seinem Gutachten vom 18. Oktober 2019) "entweder die Verwahrung des Beschwerdeführers oder einen neuen Therapieanlauf in einer anderen Institution" empfohlen. ![]() ![]() | 21 |
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Es ist somit festzuhalten, dass sich die analoge Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Sicherheitshaft im selbstständigen gerichtlichen Nachverfahren betreffend Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme auf eine lang andauernde und konstante Rechtsprechung stützt.
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Schon der bundesrätliche Vorentwurf zur Teilrevision der StPO vom Dezember 2017 (VE/StPO, www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/ gesetzgebung/aenderungstpo.html [zuletzt besucht am 31. März 2020]) sah den Erlass von spezifischen haftrechtlichen Bestimmungen für das massnahmenrechtliche gerichtliche Nachverfahren vor (Art. 364a und Art. 364b VE/StPO). Die vorgeschlagene spezifische Regelung der materiellen Haftgründe im Nachverfahren lehnt sich an die konstante einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtes an (Art. 364a Abs. 1 VE/StPO; zit. Urteile 1B_41/2019 E. 2.3; 1B_569/2018 E. 3; 1B_486/2018 E. 7; 1B_204/2018 E. 3.1; zu Art. 364a und Art. 364b ![]() ![]() | 26 |
Mit Botschaft vom 28. August 2019 hat der Bundesrat dem Parlament einen - inhaltlich praktisch identischen - Entwurf vorgelegt. Dieser sieht vor, das Kapitel zum Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts (Art. 363 ff. StPO) unter anderem durch folgende Bestimmungen zu ergänzen (BBl 2019 6697, 6799 f.):
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Art. 364a Sicherheitshaft im Hinblick auf einen selbstständigen nachträglichen Entscheid des Gerichts
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1 Die Behörde, die für die Einleitung des Verfahrens auf Erlass eines selbstständigen nachträglichen Entscheids des Gerichts zuständig ist, kann die verurteilte Person festnehmen lassen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass:
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a. gegen die Person der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion angeordnet wird; und
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b. die Person:
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1. sich dem Vollzug entzieht; oder
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2. erneut ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begeht.
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2 Sie führt in sinngemässer Anwendung von Artikel 224 ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung der Sicherheitshaft. Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 225 und 226.
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3 Die zuständige Behörde reicht dem für den selbstständigen nachträglichen Entscheid zuständigen Gericht so rasch als möglich die entsprechenden Akten und ihren Antrag ein.
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Art. 364b Sicherheitshaft während des Gerichtsverfahrens
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1 Die Verfahrensleitung des für den selbstständigen nachträglichen Entscheid zuständigen Gerichts kann die verurteilte Person unter den Voraussetzungen von Artikel 364a Absatz 1 festnehmen lassen.
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2 Sie führt in sinngemässer Anwendung von Artikel 224 ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht beziehungsweise der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Anordnung der Sicherheitshaft. Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 225 und 226.
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3 Bei vorbestehender Sicherheitshaft richtet sich das Verfahren sinngemäss nach Artikel 227.
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4 Im Übrigen gelten die Artikel 230-233 sinngemäss.
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2.9 Vor dem Hintergrund der dargelegten konstanten langjährigen ![]() ![]() | 41 |
Nach der erwähnten bundesgerichtlichen Praxis ergeben sich auch aus der Bundesverfassung (und dem übrigen Bundesrecht) in diesem Zusammenhang keine über das bereits Dargelegte hinausgehenden Ansprüche. Die Rüge der Verletzung des haftrechtlichen Legalitätsprinzips (Art. 5 Ziff. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 1 BV) erweist sich als unbegründet.
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Abschliessend weist das Bundesgericht den kantonalen Vollzugsdienst darauf hin, dass Gesuche um Anordnung, Verlängerung oder Änderung von freiheitsentziehenden Massnahmen zeitgerecht zu stellen sind, um ein Wegfallen des bisherigen (vollzugsrechtlichen) Hafttitels im gerichtlichen Nachverfahren möglichst zu vermeiden. Im vorliegenden Fall hat der Vollzugsdienst sein Gesuch um Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme erst wenige Wochen vor Ablauf der bewilligten Vollzugsdauer eingereicht. ![]() | 43 |
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