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15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und Mitb. gegen Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, Generalsekretariat (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_37/2019 vom 5. Mai 2020 | |
Regeste |
Art. 25a VwVG; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Gesuch um Erlass einer Verfügung über Realakte im Zusammenhang mit dem Klimaschutz; Zulässigkeit des Nichteintretens der Gesuchsadressaten. |
Das Berührtsein in Rechten gemäss Art. 25a VwVG setzt voraus, dass die gesuchstellende Person mit einer gewissen Intensität in der persönlichen Rechtssphäre betroffen ist (E. 4.1 und 4.4). Die Beschwerdeführerinnen sind - wie die restliche Bevölkerung auch - durch die gerügten Unterlassungen nicht mit hinreichender Intensität in den angerufenen (Grund-)Rechten betroffen. Ihr Begehren ist als Popularbeschwerde zu beurteilen und nach Art. 25a VwVG, der einzig den Individualrechtsschutz gewährleistet, unzulässig (E. 5). |
Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK muss die Rechtsauffassung, dass der strittige Anspruch nach innerstaatlichem Recht besteht, zumindest vertretbar ("arguable") sein (E. 6.1). Dies ist vorliegend nicht der Fall (E. 6.2). | |
Sachverhalt | |
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B. Gegen diesen Entscheid gelangten die Gesuchstellenden an das Bundesverwaltungsgericht. Mit Urteil vom 27. November 2018 wies dieses ihr Rechtsmittel ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 21. Januar 2019 an das Bundesgericht beantragen die Gesuchstellenden, den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an das Departement, eventuell zur Neubeurteilung an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuweisen. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
4.1 Nach Art. 25a VwVG (SR 172.021) kann, wer ein schutzwürdiges Interesse hat, von der Behörde, die für Handlungen zuständig ist, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und Rechte oder Pflichten berühren, verlangen, dass sie widerrechtliche Handlungen unterlässt, einstellt oder widerruft, die Folgen widerrechtlicher Handlungen beseitigt, oder die Widerrechtlichkeit von Handlungen feststellt (Abs. 1). Die Behörde entscheidet durch Verfügung (Abs. 2). Über den Gesetzeswortlaut hinaus kann auch behördliches Unterlassen gerügt und namentlich die Vornahme von Handlungen verlangt werden. Staatliches Unterlassen kann allerdings nur widerrechtlich ![]() ![]() | 7 |
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Anträge auf eine bestimmte Gestaltung aktueller Politikbereiche können nach dem schweizerischen Verfassungsrecht grundsätzlich auf dem Weg der demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten eingebracht werden. Zu diesem Zweck stehen namentlich die politischen Rechte, die auch die Wahl der Eidgenössischen Räte umfassen, nach Massgabe der Art. 34 und 136 BV zur Verfügung. Dazu gehören insbesondere das Recht auf Ergreifung einer Volksinitiative zur Total- oder Teilrevision der Bundesverfassung (Art. 138 f. BV). Ausserdem bietet sich mit dem Petitionsrecht nach Art. 33 BV eine Möglichkeit, nahezu formlos und nachteilsfrei an die Behörden zu gelangen und von ihnen wahrgenommen zu werden (PIERRE TSCHANNEN, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 3 zu Art. 33 BV). Hinzuweisen ist ferner auf das Initiativ- und Antragsrecht der Mitglieder der Eidgenössischen Räte, der Fraktionen, parlamentarischen Kommissionen und Kantone nach Art. 160 Abs. 1 BV sowie das Antragsrecht der Ratsmitglieder und des Bundesrats zu einem in Beratung stehenden Geschäft (Art. 160 Abs. 2 BV). Schliesslich können sich die Beschwerdeführenden zum Schutz ihrer Interessen auch auf die Grundrechte stützen, namentlich die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV), die Medienfreiheit (Art. 17 BV) sowie die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit (Art. 22 und 23 BV).
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Im Hinblick auf die nachfolgenden Erwägungen und den Ausgang des vorliegenden Verfahrens sind die hier erwähnten Gesichtspunkte nicht weiter zu vertiefen.
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4.4 Art. 25a VwVG definiert das streitlagenspezifische Rechtsschutzinteresse über ein akt- und ein subjektbezogenes Kriterium. Zum einen muss der Realakt "Rechte oder Pflichten berühren", zum ![]() ![]() | 13 |
Das Erfordernis des Berührtseins in Rechten und Pflichten setzt nach herrschender Auffassung einen Eingriff in die persönliche Rechtssphäre der betroffenen Person voraus (vgl. BGE 144 II 233 E. 7.3.1 S. 238; BGE 140 II 315 E. 4.3 S. 325 und E. 4.5 S. 326 f.; je mit Hinweisen). In diesem Sinne schützenswerte Rechtspositionen ergeben sich vor allem aus Grundrechten; einzubeziehen sind aber auch rechtlich geschützte Interessen aus anderen Rechtstiteln (BGE 144 II 233 E. 7.3.1 S. 238; BGE 140 II 315 E. 4.3 S. 325). Ein eigentlicher Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts ist nicht erforderlich. Es reicht aus, wenn die gesuchstellende Person darzulegen vermag, dass ein von einem Realakt ausgehender Reflex grundrechtsrelevant ist, mithin den Grad eines Eingriffs annehmen könnte (vgl. BGE 140 II 315 E. 4.8 S. 329 ff.; MÜLLER, Rechtsschutz, a.a.O., S. 354; ähnlich ISABELLE HÄNER, in: Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 28 zu Art. 25a VwVG). Dazu ist eine gewisse Intensität der Betroffenheit des Privaten, "un certain degré de gravité", erforderlich (vgl. MÜLLER, Rechtsschutz, a.a.O., S. 354; MOOR/POLTIER, Droit administratif, Bd. II, 3. Aufl. 2011, S. 44; BGE 133 I 49 E. 3.2 S. 57). Ob die Eingriffswirkung ausreicht, um eine Betroffenheit anzunehmen, hängt vom Geltungsbereich des Grundrechts ab (HÄNER, a.a.O., N. 28 zu Art. 25a VwVG). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der fragliche Realakt auch geeignet sein muss, in dieses einzugreifen (vgl. BGE 144 II 233 E. 7.3.2 S. 239 mit Hinweisen).
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Erwägung 5 | |
5.1 Die Beschwerdeführerinnen bringen vor, als Folge des Klimawandels würden namentlich markante Änderungen bei den Temperaturen und Niederschlägen im Sommer sowie häufigere, intensivere und länger andauernde Wärmeperioden und Hitzewellen erwartet. Gemäss wissenschaftlichen Studien hätten Frauen ab 75 Jahren in Hitzesommern ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko und seien deutlich stärker in ihrer Gesundheit betroffen als die Allgemeinheit; ausserdem würden sie verstärkt in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt. ![]() ![]() | 15 |
Unter diesen Umständen ergäben sich aus dem Recht auf Leben nach Art. 10 Abs. 1 BV und Art. 2 EMRK sowie dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK jedenfalls gegenüber Frauen ab 75 Jahren staatliche Schutzpflichten. Es sei zumindest sicherzustellen, dass die Schweiz ihren Beitrag an das im Pariser Klimaübereinkommen vereinbarte Ziel leiste, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten. Das Departement und die von diesem im vorliegenden Verfahren vertretenen Behörden seien demzufolge verpflichtet, in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen auf die Erreichung dieses Ziels hinzuarbeiten und alle Handlungen zu veranlassen, die - bis zum Jahr 2030 - dafür erforderlich seien, insbesondere diejenigen, die in den Rechtsbegehren 1-4 ihres Gesuchs um Erlass einer Verfügung über Realakte (vorne Sachverhalt Bst. A) konkret aufgeführt seien. Indem das Departement und die weiteren Behörden dies unterlassen hätten, obschon die bislang ergriffenen Klimaschutzmassnahmen nicht genügten, seien sie als über 75-jährige Frauen - die Beschwerdeführerinnen sind 87, 81, 77 und 76 Jahre alt - in den erwähnten Rechten verletzt worden und würden es weiterhin. Damit sei auch das Erfordernis des Berührtseins in Rechten gemäss Art. 25a VwVG erfüllt.
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5.3 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass eine Überschreitung des Werts von "deutlich unter 2 Grad Celsius" gemäss dem Pariser Klimaübereinkommen (vgl. dessen Art. 2 Abs. 1 Bst. a) nicht ![]() ![]() | 18 |
5.4 Nach den genannten wissenschaftlichen Erkenntnissen kann die Erderwärmung durch geeignete Massnahmen verlangsamt werden. Dies ist zum Schutz des Lebens auf der Erde dringend geboten, auch wenn der - von den Beschwerdeführerinnen thematisierte - Wert von "deutlich unter 2 Grad Celsius" erst in mittlerer bis fernerer Zukunft eintreten wird (vgl. IPCC-Sonderbericht, wonach [selbst] eine Erderwärmung von mehr als 1,5 Grad Celsius grundsätzlich noch verhindert werden könnte [insb. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger, C. S. 12 ff.]). Diese Erkenntnis liegt auch dem Pariser Klimaübereinkommen zugrunde. Dessen Umsetzung ist Gegenstand von internationalen und nationalen Beratungen und ![]() ![]() | 19 |
Unter den genannten Umständen erscheint das Recht auf Leben der Beschwerdeführerinnen gemäss Art. 10 Abs. 1 BV und Art. 2 EMRK durch die gerügten Unterlassungen im heutigen Zeitpunkt nicht in einem Ausmass bedroht, dass von einem hinreichenden Berührtsein in eigenen Rechten im Sinne von Art. 25a VwVG gesprochen werden könnte (vgl. E. 4. hiervor). Dasselbe gilt für ihr Privat- und Familienleben sowie ihre Wohnung nach Art. 8 EMRK und Art. 13 Abs. 1 BV. Die von den Beschwerdeführerinnen beanstandeten innerstaatlichen Unterlassungen erreichen nicht die nach Art. 25a VwVG zur Gewährleistung des Individualrechtsschutzes erforderliche Grundrechtsrelevanz. Es fehlt an einem hinreichenden Berührtsein der Beschwerdeführerinnen in Bezug auf ihr Recht auf Leben gemäss Art. 10 Abs. 1 BV und Art. 2 EMRK (vgl. zu diesem Schutzobjekt AXEL TSCHENTSCHER, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 9 f zu Art. 10 BV; MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 53; Urteil des EGMR Kolyadenko und andere gegen Russland vom 28. Februar 2012 §§ 151 ff. mit Hinweisen). Ebenso wenig wird ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK und Art. 13 Abs. 1 BV mit der für eine Berufung auf Art. 25a VwVG erforderlichen Intensität berührt (vgl. zu diesen Schutzobjekten MEYER-LADEWIG/NETTESHEIM, Handkommentar EMRK, N. 7 ff., 54 ff. und 89 ff. zu Art. 8 EMRK; KÄLIN/KÜNZLI, Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl. 2018, Rz. 12.45 ff.; Urteil 1C_437/2007 vom 3. März 2009 E. 2.6 mit Hinweisen; Urteile des EGMR Di Sarno und andere gegen Italien vom 10. Januar 2012 §§ 80 f.; Hardy und Maile gegen Vereinigtes Königreich vom 14. Februar 2012 § 187 ff.; je mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerinnen erscheinen auch nicht als Opfer einer Beeinträchtigung der genannten Konventionsrechte im Sinne von Art. 34 EMRK (vgl. MEYER-LADEWIG/KULICK, in: Handkommentar EMRK, N. 26-28 zu Art. 34 EMRK; Urteil des EGMR Ouardiri gegen Schweiz vom 28. Juni 2011 § 1 mit Hinweisen). Für ein Berührtsein in den genannten Rechten wie für eine Opferstellung im Sinne von Art. 34 EMRK sind sie nicht im erforderlichen Mass in diesen Rechten betroffen. Daran ändert nichts, dass - wie sie vorbringen - in ![]() ![]() | 20 |
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Erwägung 6 | |
6.1 Die Beschwerdeführerinnen stützen ihren geltend gemachten Anspruch auf materielle Behandlung ihres Gesuchs um Erlass einer Verfügung über Realakte nicht nur auf Art. 25a VwVG, sondern auch auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche ("civil rights") und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und ![]() ![]() | 22 |
6.2 Vorliegend mangelt es jedenfalls an letzterer Voraussetzung. Die Beschwerdeführerinnen leiten den geltend gemachten subjektiven Anspruch auf Beendigung der gerügten Unterlassungen und auf Veranlassung der geforderten Handlungen innerstaatlich aus dem Recht auf Leben gemäss Art. 10 Abs. 1 BV ab. Durch die behaupteten Unterlassungen werden sie aber, wie ausgeführt, in diesem Grundrecht nicht in rechtlich relevanter Weise betroffen. Sie können aus diesem daher auch nicht die erwähnten Forderungen ableiten und haben entsprechend auch keinen subjektiven Anspruch auf die eventualiter beantragte Feststellung der (Grund-)Rechtswidrigkeit der geltend gemachten Unterlassungen. Die Vorinstanz hat demnach den Nichteintretensentscheid des Departements auch in dieser Hinsicht im Ergebnis zu Recht bestätigt. Auf die weiteren Voraussetzungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführerinnen und der Vorinstanz ist deshalb nicht einzugehen. ![]() | 23 |
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