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11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Isviçre Türk Federasyon gegen Regierungs- rat des Kantons Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_586/2019 vom 3. August 2020 | |
Regeste |
Art. 22 BV, Art. 11 EMRK, Art. 21 UNO-Pakt II, § 6 Abs. 2 lit. d KV/BL; Versammlungsfreiheit im Zusammenhang mit dem Verbot einer Veranstaltung im privaten Raum; allgemeine Polizeiklausel als gesetzliche Grundlage und Verhältnismässigkeit des Verbots; Begriff des Störers. |
Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel als gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist grundsätzlich auf unvorhersehbare Notfälle beschränkt, ausser wenn es um die Abwehr einer ernsten, unmittelbaren und nicht anders abwendbaren Gefahr für fundamentale Rechtsgüter geht; Ausnahme im vorliegenden Fall bejaht (E. 5). |
Eine polizeiliche Massnahme wie ein Veranstaltungsverbot darf sich grundsätzlich nur gegen den Störer richten. Geht die Gefahr von Gegenveranstaltungen aus, kann auch der Veranstalter des ursprünglichen Anlasses als Zweckveranlasser Störer sein (E. 6). |
Im privaten Raum sind beschränkende staatliche Massnahmen nur mit grösserer Zurückhaltung zulässig als im öffentlichen Bereich. Im vorliegenden Fall wurde die Verhältnismässigkeit aufgrund der kurzen Reaktionszeit für die Behörden und wegen eingeschränkter Kapazitäten bei den Polizeikräften bejaht (E. 7). | |
Sachverhalt | |
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Gegen diese Verfügung erhob die Vereinigung Isviçre Türk Federasyon am 26. März 2017 Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft. Dieser trat darauf am 20. Juni 2017 wegen Fehlens eines aktuellen Rechtsschutzinteresses nicht ein. Mit Urteil vom 7. Februar 2018 hiess das Kantonsgericht, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, des Kantons Basel-Landschaft eine dagegen erhobene Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, und wies die Streitsache zur materiellen Beurteilung an den Regierungsrat zurück. Am 16. Oktober 2018 wies dieser die Beschwerde ab, soweit er darauf eintrat. Im Wesentlichen führte er dazu aus, die Situation habe sich innert weniger Tage zugespitzt und ein unverzügliches polizeiliches Handeln erfordert. Wegen des am selben Abend angesetzten und als Hochrisikospiel eingestuften Fussballmatches zwischen dem FC Basel und dem Grasshopper Club Zürich seien starke Einsatzkräfte gebunden gewesen, so dass die Polizei kurzfristig nicht genügend personelle Ressourcen habe mobilisieren können, um die Veranstaltung in Reinach adäquat zu schützen. Aufgrund der unvorhersehbaren, plötzlich entstandenen unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie für Leib und Leben der Veranstaltungsteilnehmer lasse sich das Veranstaltungsverbot auf die polizeiliche Generalklausel stützen. ![]() ![]() | 2 |
B. Mit Urteil vom 26. Juni 2019 wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsgericht, eine dagegen erhobene Beschwerde der Vereinigung Isviçre Türk Federasyon ab, soweit es darauf eintrat. (...)
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (...) vom 7. November 2019 an das Bundesgericht beantragt die Vereinigung Isviçre Türk Federasyon, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben; eventuell sei die Streitsache an dieses zurückzuweisen. (...) In der Sache wird (...) ein Verstoss gegen die Versammlungsfreiheit gerügt; weder lasse sich das Veranstaltungsverbot auf die polizeiliche Generalklausel stützen noch sei es verhältnismässig.
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(...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen:
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4. | |
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4.2 Die Versammlungsfreiheit wird durch § 6 Abs. 2 lit. d der Verfassung des Kantons Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984 (KV/BL; SR 131.222.2), Art. 22 BV sowie Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO- Pakt II (SR 0.103.2) gewährleistet. Massgebend ist dabei vorab Art. 22 BV bzw. die Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu, da die entsprechenden übrigen grund- und menschenrechtlichen Garantien hinsichtlich Inhalt und Umfang des Schutzes nicht über die Gewährleistung der Bundesverfassung hinausgehen. Nach Art. 22 Abs. 2 BV hat jede Person das Recht, Versammlungen zu organisieren, daran teilzunehmen oder davon fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation zu einem weit verstandenen gemeinsamen Zweck, wobei hier offenbleiben ![]() ![]() | 10 |
Erwägung 5 | |
5.1 Mit Blick auf die erforderliche gesetzliche Grundlage stützen sich die kantonalen Instanzen auf die polizeiliche Generalklausel. Diese kann nach Art. 36 Abs. 1 BV eine fehlende gesetzliche Grundlage ersetzen und selbst schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte legitimieren, wenn und soweit die öffentliche Ordnung und fundamentale Rechtsgüter des Staates oder Privater gegen schwere und zeitlich unmittelbar drohende Gefahren zu schützen sind, die unter den konkreten Umständen nicht anders abgewendet werden können als mit gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehenen Mitteln; diese müssen allerdings mit den allgemeinen Prinzipien des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, vereinbar sein (BGE 126 I 112 E. 4b S. 118; BGE 121 I 22 E. 4b/aa S. 27 f.; BGE 111 Ia 246 E. 2 und 3a mit Hinweisen). Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel ist grundsätzlich auf unvorhersehbare Notfälle beschränkt. Geht es indessen um die Abwehr einer ernsten, unmittelbaren und nicht anders abwendbaren Gefahr für fundamentale Rechtsgüter im Sinn von Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV, darf der Staat nicht untätig bleiben und seine Schutzpflichten verletzen, nur weil der Gesetzgeber es unterlassen hat, über die erforderlichen Massnahmen rechtzeitig zu legiferieren, ![]() ![]() | 11 |
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5.3 Der Kanton Basel-Landschaft hat die polizeiliche Generalklausel ausdrücklich im Gesetz verankert. Nach § 16 des basellandschaftlichen Polizeigesetzes vom 28. November 1996 (PolG; SGS 700) mit der entsprechenden Marginalie trifft die Polizei Basel-Landschaft, wenn besondere Bestimmungen fehlen, jene Massnahmen, die zur Beseitigung einer erheblichen Störung oder zur Abwehr einer unmittelbar drohenden, erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie für Mensch, Tier und Umwelt notwendig sind. Der Gesetzgeber trug damit dem Umstand Rechnung, dass es ausgeschlossen erscheint, für die Bekämpfung aller möglichen Gefährdungen der Polizeigüter eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage zu schaffen. Gemäss dem angefochtenen Entscheid "sind die kumulativ zu verstehenden Anwendungsvoraussetzungen von § 16 PolG zwar grundsätzlich eng und dem Ausnahmecharakter der Norm Rechnung tragend, aber immer mit Blick auf den Sinn und Zweck der Bestimmung, welche die effektive Abwehr von ernsten Gefahren ermöglichen soll, auszulegen". Tatbestandsvoraussetzung ist dabei die unmittelbar drohende, erhebliche Gefährdung der ![]() ![]() | 13 |
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5.5 Die tatsächlichen Feststellungen des Kantonsgerichts sind nachvollziehbar und weder aktenwidrig noch widersprüchlich. Sie erweisen sich als nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich sind (...). Die am 17. März 2017 durch die Polizei Basel-Landschaft erstellte Prognose einer massgeblichen Gefahrenlage ist demnach nicht in Frage zu stellen. Die Vorinstanzen durften von einer unmittelbar drohenden, erheblichen ![]() ![]() | 15 |
Erwägung 6 | |
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6.3 Nach dem basellandschaftlichen Recht richtet sich polizeiliches Handeln gemäss § 17 Abs. 1 PolG gegen diejenige Person, die unmittelbar die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stört, gefährdet oder die für das Verhalten einer dritten Person verantwortlich ist, welches zu einer Störung oder Gefährdung führt. Nach den ![]() ![]() | 18 |
6.4 Das strittige Veranstaltungsverbot traf nicht nur die Beschwerdeführerin, sondern richtete sich vor allem gegen die möglichen Gegenaktionen. Folgerichtig untersagte die Polizei Basel-Landschaft nebst der Veranstaltung der Beschwerdeführerin und deren Verlegung an eine andere Örtlichkeit alle sonstigen mit der Versammlung der Beschwerdeführerin zusammenhängenden Veranstaltungen am 18. März 2017 auf dem Gebiet der Gemeinde Reinach. Die Beschwerdeführerin ist zwar, wie bereits dargelegt, nicht Verhaltensstörerin. Es erscheint aber auch fraglich, ob sie als unbeteiligte Dritte angesehen werden kann, wovon das Kantonsgericht ausging. Da die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung indirekt von ihrer Veranstaltung ausgelöst wurde, ist die Beschwerdeführerin Zweckveranlasserin und hat damit eher als Zustandsstörerin zu gelten. Dafür genügt, dass sie durch die geplante Veranstaltung die Gefährdung der Polizeigüter durch andere bewirkte (vgl. BGE 143 I 147 E. 5.1 S. 154), und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob sie selbst eine Verantwortung für die Gefährdungslage trifft. Als unbeteiligte Dritte hätten im vorliegenden Fall andere Personen oder Organisationen zu gelten, die am gleichen Tag vor Ort eine rein friedliche Veranstaltung vorgesehen hätten und die ebenfalls vom Verbot betroffen worden wären, oder ganz allgemein typischerweise der unbeteiligte Passant, der durch eine polizeiliche Absperrung am Benutzen von öffentlichem Grund im Gemeingebrauch gehindert wird. Das Verbot vermochte sich demnach gemäss § 17 Abs. 1 PolG gegen die Beschwerdeführerin als Zustandsstörerin zu richten. Subsidiär war es mit dem Kantonsgericht auch nicht ausgeschlossen, das Verbot auf der Grundlage von § 17 Abs. 3 PolG mit Wirkung gegenüber möglichen betroffenen unbeteiligten Dritten anzuordnen. Selbst wenn die Beschwerdeführerin mit dem Kantonsgericht als solche unbeteiligte Dritte eingestuft würde, erwiese sich der angefochtene ![]() ![]() | 19 |
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Erwägung 7 | |
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7.3 War im vorliegenden Fall von einer erheblichen Gefährdungslage für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, bestand ausreichend Anlass für polizeiliche Massnahmen. Das ausgesprochene Verbot war überdies geeignet, der Gefahr zu begegnen (vgl. ERRASS, a.a.O., N. 66 zu Art. 22 BV). Die Beschwerdeführerin beanstandet hauptsächlich als unverhältnismässig, dass die Massnahme auch gegen sie und nicht nur gegen die Gegenaktionen ![]() ![]() | 23 |
7.4 Grundsätzlich haben sich die einschränkenden Massnahmen in erster Linie gegen die Gegenveranstaltungen als Verhaltensstörungen zu richten. Das ist im vorliegenden Fall insofern geschehen, als nicht nur die Veranstaltung der Beschwerdeführerin, sondern auch alle anderen Veranstaltungen im Zusammenhang mit derjenigen der Beschwerdeführerin am gleichen Tag in derselben Gemeinde untersagt wurden. Nach Lehre und Rechtsprechung ist ferner anerkannt, dass sich die Versammlungsfreiheit nicht in reinen Abwehrrechten erschöpft, sondern in gewissen Grenzen auch Leistungselemente enthält, etwa die Überlassung von öffentlichem Grund oder die Gewährung eines ausreichenden Polizeischutzes (BGE 132 I 256 E. 3; BGE 127 I 164 E. 3b; Urteil des Bundesgerichts 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 mit weiteren Hinweisen; ERRASS, a.a.O., N. 43 zu Art. 22 BV; HERTIG, a.a.O., N. 12 zu Art. 22 BV). Der Staat ist dabei verpflichtet, die Durchführung einer Versammlung, die selbst nicht direkt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, auch dann zu gewährleisten, wenn eine solche Gefahr von daran anknüpfenden Gegenveranstaltungen ausgeht (vgl. etwa PETER UEBERSAX, La liberté de manifestation, RDAF 62/2006 I S. 25 ff., insb. S. 45 f.). Auch gegenüber der Veranstaltung der Beschwerdeführerin bestand eine solche Schutzpflicht.
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7.5 Die Schutzpflicht des Staates ist jedoch an den Kapazitäten und konkreten tatsächlichen Möglichkeiten der Behörden, namentlich der Polizeikräfte, zu messen. Wie das Kantonsgericht zu Recht festhält, wäre im vorliegenden Fall die direkte physische Präsenz der Polizei mit entsprechenden Interventionsmöglichkeiten grundsätzlich geeignet gewesen, der Gefährdungslage wirksam zu begegnen. Ein erfolgversprechender Einsatz hätte jedoch aufgrund des erkannten Eskalationspotenzials ein umfangreiches Sicherheitsdispositiv mit starken Polizeikräften vor Ort erfordert. Aufgrund des am fraglichen Abend angesetzten Fussballmatches, der als Hochrisikopartie eingestuft war, sah sich die Polizei ausser Stande, innerhalb eines Tages die erforderlichen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Das ist nachvollziehbar. Was die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, ist spekulativ und beruht auf reinen Behauptungen. Es ist nicht ersichtlich, wie ihre Argumentation, es wäre möglich gewesen, innert der ausgesprochen kurzen Frist genügend zusätzliche Polizeikräfte ![]() ![]() | 25 |
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