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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb. gegen Regierungsrat des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_43/2020 vom 1. April 2021 | |
Regeste |
Art. 87 Abs. 1 und Art. 89 Abs. 1 lit. b BGG, Art. 78 Abs. 1 BV, Übereinkommen vom 3. Oktober 1985 zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa (sog. Granada-Übereinkommen); Rechtmässigkeit von kantonalen Bestimmungen über den Denkmalschutz (abstrakte Normenkontrolle). |
Kognition des Bundesgerichts bei der abstrakten Normenkontrolle (E. 3). |
Tragweite der Kompetenzbestimmung der Bundesverfassung im Bereich des Heimatschutzes (E. 4). |
Rechtsnatur des Granada-Übereinkommens und Bedeutung der darin an den Gesetzgeber gerichteten Handlungspflichten im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle (E. 5 und 6). |
Vereinbarkeit der konkret angefochtenen kantonalen Bestimmungen über die Denkmalpflege mit dem Granada-Übereinkommen (E. 7). | |
Sachverhalt | |
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"§ 2 Abs. 1
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Denkmäler nach diesem Gesetz sind Siedlungsteile, Gebäudegruppen, gestaltete Freiräume, Verkehrsanlagen, Einzelbauten, archäologische ![]() ![]() | 3 |
kumulativ erfüllt sein).
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§ 4 Abs. 1
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Objekte, an deren Erhaltung ein äusserst hohes öffentliches Interesse besteht, werden unter kantonalen Schutz gestellt und in das Verzeichnis der geschützten Denkmäler eingetragen.
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§ 25 Abs. 1
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Soweit der Schutz des Denkmals mittels öffentlich-rechtlichem Vertrag mit der Eigentümerschaft nicht sichergestellt werden kann, entscheidet der Regierungsrat über die Unterschutzstellung und den Schutzumfang. Er beschliesst sie, wenn
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a) das Denkmal von äusserst hohem wissenschaftlichen, kulturellen oder heimatkundlichen Wert ist (zwei von drei Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein);
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b) das öffentliche Interesse an dessen Erhaltung allfällige entgegenstehende Privatinteressen oder anderweitige öffentliche Interessen überwiegt;
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c) die Massnahme verhältnismässig ist und eine langfristige Nutzung ermöglicht wird;
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d) die dem Gemeinwesen entstehenden Kosten auch auf Dauer tragbar erscheinen.
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§ 25 Abs. 4
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Objekte, die jünger als 70 Jahre alt sind, können nicht gegen den Willen der Eigentümerschaft unter Schutz gestellt werden, sofern sie nicht von regionaler oder nationaler Bedeutung sind. Bei Bauten bezieht sich das Alter auf das Datum der rechtskräftigen Baubewilligung. Massgebend ist das Alter zum Beginn des Unterschutzstellungsverfahrens oder zum Zeitpunkt der Einreichung eines Bau- oder Abbruchgesuchs durch die Eigentümerschaft."
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Nachdem gegen die Teilrevision des Denkmalpflegegesetzes vom 31. Januar 2019 das Referendum ergriffen worden war, wurde die Gesetzesänderung in der Volksabstimmung vom 24. November 2019 mit einem Ja-Anteil von 65.53 % angenommen. In der Folge wurde die Gesetzesrevision am 13. Dezember 2019 im Amtsblatt des Kantons Zug publiziert.
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B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als Erlassbeschwerde vom 27. Januar 2020 stellen A., B., C., D. und E. den folgenden Antrag in der Sache: ![]() | 16 |
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- in § 2 Abs. 1 die Teile "äusserst" und "(zwei von drei Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein)"
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- in § 4 Abs. 1 das Wort "äusserst"
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- in § 25 Abs. 1 lit. a die Teile "äusserst" und "(zwei von drei Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein)"
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- und § 25 Abs. 4 als Ganzes."
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Zur Begründung wird im Wesentlichen geltend gemacht, die angefochtenen Bestimmungen verstiessen gegen die Bundesverfassung sowie völkerrechtliche Schutzpflichten der Schweiz im Bereich des Denkmalschutzes.
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Der Kanton Zug, vertreten durch die Direktion des Innern, sowie der Kantonsrat Zug, unter Verweis auf die umfassende Stellungnahme des Kantons Zug, schliessen auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
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A., B., C., D. und E. äusserten sich am 1. April 2020 nochmals zur Sache.
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C. Mit verfahrensleitender Verfügung vom 2. März 2020 wies der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ein Gesuch der Beschwerdeführer um aufschiebende Wirkung ab.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut, hebt § 25 Abs. 4 DMSG auf und weist die Beschwerde im Übrigen ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist nach Art. 89 Abs. 1 lit. b BGG vom angefochtenen Erlass besonders berührt, wen die angefochtene Bestimmung unmittelbar oder zumindest virtuell betrifft. Virtuelle Betroffenheit setzt voraus, dass die beschwerdeführende Person von der angefochtenen Regelung mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit früher oder später einmal unmittelbar betroffen ![]() ![]() | 28 |
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2.4 Zwar ist umstritten, wie sich das neue Recht auf altrechtlich anerkannte Schutzobjekte auswirkt. Nach der Übergangsbestimmung von § 44 Abs. 1 DMSG werden aber Verfahren betreffend die Unterschutzstellung bzw. Inventarentlassung von Denkmälern, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts hängig sind, nach neuem Recht abgeschlossen. Das trifft für die Beschwerdeführer 2 und 3 zu. Gemäss § 44 Abs. 2 DMSG werden hingegen Verfahren betreffend Beiträge an geschützte Denkmäler, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts rechtskräftig zugesichert sind, nach ![]() ![]() | 30 |
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Erwägung 4 | |
4.1 Nach Art. 78 Abs. 1 BV sind die Kantone für den Natur- und Heimatschutz zuständig. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um ![]() ![]() | 33 |
4.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann Art. 78 Abs. 1 BV auch als Aufforderung zum Handeln verstanden werden bzw. soll im Sinne eines Appells die Kantone zu Leistungen im Bereich des Natur- und Heimatschutzes anspornen (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1A.115/2001 und 1P.441/2001 vom 8. Oktober 2001 E. 2d mit Literaturhinweisen; Botschaft vom 19. Mai 1961 über die Ergänzung der Bundesverfassung durch einen Artikel 24 sexies betreffend den Natur- und Heimatschutz, BBl 1961 I 1109 f.). Gemäss der herrschenden Auffassung kann dem geltenden Verfassungsrecht jedoch im Wesentlichen nur entnommen werden, dass die Kantone mit Blick auf Art. 49 Abs. 1 BV das auf Art. 78 Abs. 2-5 BV gestützte Bundesrecht über den Natur- und Heimatschutz beachten müssen, in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich jedoch keinen verfassungsrechtlichen Verpflichtungen unterstehen (vgl. GIOVANNI BIAGGINI, BV, Kommentar, 2. Aufl. 2017, N. 3 zu Art. 78 BV; AURÉLIEN WIEDLER, La protection du patrimoine bâti, 2019, S. 50 f.). Allerdings ist es die Aufgabe der Kantone, die zur Erhaltung schutzwürdiger Objekte notwendigen Rechtsgrundlagen zu schaffen und über die Unterschutzstellung im Einzelfall zu befinden (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1A.115/2001 und 1P.441/2001 vom 8. Oktober 2001 E. 2d mit Verweis auf BGE 121 II 8 E. 3a S. 15 und BGE 120 Ib 27 ![]() ![]() | 34 |
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Erwägung 5 | |
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Das baugeschichtliche Erbe im Sinne dieses Übereinkommens umfasst folgende unbewegliche Kulturgüter:
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1. Baudenkmäler: Alle Bauwerke von herausragendem geschichtlichem, archäologischem, künstlerischem, wissenschaftlichem, sozialem oder technischem Interesse, mit Einschluss zugehöriger Einrichtungen und Ausstattungen;
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...
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Art. 3
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Jede Vertragspartei verpflichtet sich:
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1. gesetzliche Massnahmen zum Schutze ihres baugeschichtlichen Erbes zu treffen;
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2. geeignete Vorschriften zu erlassen, um den Schutz der Baudenkmäler, Baugruppen und Stätten zu gewährleisten.
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Art. 4
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Jede Vertragspartei verpflichtet sich:
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1. wirksame Kontroll- und Genehmigungsverfahren einzuführen;
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2. zu verhindern, dass geschützte Kulturgüter verunstaltet, beeinträchtigt oder zerstört werden. In diesem Sinne verpflichten sich die Vertragsparteien, falls dies noch nicht geschehen ist, gesetzlich vorzuschreiben,
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a) dass jede beabsichtigte Zerstörung oder Veränderung von Baudenkmälern, die bereits geschützt sind oder für die Schutzmassnahmen eingeleitet worden sind, wie auch jede Beeinträchtigung ihrer Umgebung der zuständigen Behörde unterbreitet wird; ...
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c) dass die Behörden vom Eigentümer eines geschützten Objektes verlangen können, gewisse Arbeiten durchzuführen, oder dass sie selber diese Arbeiten durchführen können, wenn der Eigentümer säumig ist;
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d) dass ein geschütztes Objekt enteignet werden kann."
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5.2 Nach der Rechtsprechung und der Lehre richten sich die Bestimmungen des Granada-Übereinkommens nicht an die rechtsanwendenden Behörden, weshalb eine kantonale Verfügung im Einzelfall nicht unmittelbar wegen Verletzung des Granada-Übereinkommens angefochten werden kann (Urteil des Bundesgerichts 1A.115/2001 und 1P.441/2001 vom 8. Oktober 2001 E. 2g; EPINEY/KERN, Drittes Kapitel: Internationales und europäisches Natur- und Heimatschutzrecht, in: Kommentar NHG, Keller und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2019, S. 154; BEATRICE WAGNER PFEIFER, Umweltrecht, Besondere Regelungsbereiche, 2013, Rz. 1199; Botschaft vom 26. April 1995 betreffend die Konventionen des Europarats zum Schutz des archäologischen und des baugeschichtlichen Erbes, BBl 1995 III 451 Ziff. 23). ![]() ![]() | 52 |
5.3 Das Bundesgericht hatte sich auch schon mit der Frage der Handlungspflicht des kantonalen Gesetzgebers auseinanderzusetzen. Es entschied, es handle sich dabei um eine solche ausserhalb der üblichen Kategorien der unmittelbaren bzw. mittelbaren Anwendbarkeit von Normen. Auch wo der Gesetzgeber einen Spielraum hat und eine direkte Anwendung einschlägiger höherrangiger Normen im Einzelfall ausgeschlossen ist, kann er zum damit vereinbarten Handeln verpflichtet sein. Selbst wo keine justiziablen Individualrechte bestehen, sind in diesem Sinne Bestimmungen eines völkerrechtlichen Abkommens nicht bloss politische Absichtserklärungen, sondern sie bilden Teil der objektiven Rechtsordnung und sind als solche im Rahmen der Rechtsetzung durchsetzungsfähig (vgl. BGE 137 I 305 E. 3.2 und 3.3 S. 318 ff. sowie E. 6.5 und 6.6 S. 325 ff.; BGE 147 I 103 E. 11.4; ASTRID EPINEY, a.a.O., N. 79 zu Art. 5 BV; ANDREAS ZÜND, Grundrechtsverwirklichung ohne Verfassungsgerichtsbarkeit, AJP 2013 S. 1355 f.; ZÜND/ERRASS, Pandemie - Justiz - Menschenrechte, in: Pandemie und Recht, ZSR-Sondernummer, 2020, S. 80 f.). Zwar beruht Rechtsetzung auf einem politischen Prozess, der sowohl eine gewisse Zeit beansprucht als auch über eine inhaltliche Spannbreite verfügt. Ein gerichtliches Eingreifen kann sich daher nur rechtfertigen, wenn eine völker- oder verfassungsrechtliche Handlungspflicht des kantonalen Gesetzgebers inhaltlich und zeitlich zureichend bestimmt und messbar erscheint. Ist das der Fall, kann deren Einhaltung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle geltend gemacht werden. Das trifft nicht nur zu, wenn der kantonale Gesetzgeber überhaupt nicht zeitgerecht handelt (wie das in BGE 137 I 305 zu beurteilen war; zustimmend insoweit beispielsweise REGULA KÄGI-DIENER, AJP 2012 S. 402 f.; eingehend und im Wesentlichen ebenfalls zustimmend EVELYNE SCHMID, Völkerrechtliche ![]() ![]() | 53 |
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Erwägung 6 | |
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6.2 Die Beschwerdeführer berufen sich auf Art. 3 Ziff. 2 und Art. 4 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 1 des ![]() ![]() | 56 |
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7.3 Strittig ist zunächst die wiederholte Verwendung des Wortes "äusserst" in der Gesetzesnovelle. Nach Art. 1 Ziff. 1 der Granada-Konvention in der deutschsprachigen Fassung sind Baudenkmäler von "herausragendem ... Interesse" zu schützen. Gemäss der Schlussbemerkung des Abkommens sind allerdings gleichermassen die ![]() ![]() | 60 |
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Gemäss Art. 1 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 3 Ziff. 2 und Art. 4 Ziff. 2 der Granada-Konvention sind allerdings alle Bauwerke von herausragendem geschichtlichem, archäologischem, künstlerischem, wissenschaftlichem, sozialem oder technischem Interesse zu schützen. Dies wird erhärtet durch den Explanatory Report to the ![]() ![]() | 62 |
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7.5.1 Die Beschwerdeführer rügen zunächst, es widerspreche nur schon der Schutzpflicht, die gesetzliche Möglichkeit zu schaffen, jüngere Objekte vom Schutz auszuschliessen. Dabei seien sowohl die Frist von 70 Jahren als auch die Anknüpfung an das Datum der rechtskräftigen Baubewilligung willkürlich und unverhältnismässig. Zwar trifft es zu, dass es aus heutiger Sicht vor 70 Jahren noch keine eigentlichen Baubewilligungen gab und die entsprechende Anknüpfung für gewisse Objekte aus der damaligen Zeit nicht möglich ist. Dieses Problem ist aber lediglich technischer Natur und lässt sich auslegungsmethodisch durch analoge Kriterien durchaus lösen. Fragwürdiger erscheint hingegen die gesetzliche Möglichkeit, jüngere Objekte ganz vom Denkmalschutz auszuschliessen. Obwohl sich eine Schutzwürdigkeit häufig erst durch Zeitablauf ergibt, ist das nicht zwingend. Mitunter kann eine Baute schon nach kurzer Zeit schutzwürdig sein, was ausnahmsweise auch für lokale und nicht nur nationale oder regionale Denkmäler zutreffen mag. Die Regelung, in solchen Fällen die Unterschutzstellung immer von der Zustimmung der Eigentümerschaft abhängen zu lassen, erscheint nicht mit dem Granada-Übereinkommen vereinbar, weil es der Staat diesfalls nicht mehr in der Hand hat, die öffentlichen Schutzinteressen ![]() ![]() | 64 |
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7.6 Zusammenfassend ergibt sich, dass sich die von den Beschwerdeführern beanstandeten Bestimmungen von § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 ![]() ![]() ![]() | 67 |
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