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44. Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. September 1955 i. S. Brandt gegen Vormundschaftskommission Biel. | |
Regeste |
Vormundschaft gemäss Art. 369 ZGB wegen Psychopathie (angeborene Charakteranomalie): Ersetzung derselben durch eine Beiratschaft (Art. 395 Abs. 1 und 2) gestützt auf psychiatrische Feststellung, dass die Anomalie zwar nicht weggefallen, wohl aber soweit zurückgegangen ist, dass sie die Entmündigung nicht mehr rechtfertigt, jedoch eine Beiratschaft angezeigt ist. |
Verhältnis von Vormundschaft zu Beiratschaft. | |
Sachverhalt | |
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Auf ein neues Gesuch vom Januar 1952 ordnete das Amtsgericht Biel eine neue Begutachtung durch Prof. Klaesi an, der zum Schlusse gelangte, dass Brandt weder geisteskrank noch geistesschwach sei, sondern an einer angeborenen Charakteranomalie (Psychopathie) leide, die in ihrer Auswirkung u. U. einer Geisteskrankheit oder Geistesschwäche gleichkomme; es müsse noch gerichtlich abgeklärt werden, "wie weit die durch die psychiatrische Untersuchung in Rede gestellten Versagen und Verschulden Roger Brandts der Wahrheit entsprechen. Tun sie es, beweisen sie, dass R. Brandt seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, und zwar, da seine Psychopathie unheilbar ist, dauernd nicht. Vorläufig bedarf er zu seinem Schutz noch des Beistandes und der Fürsorge. Ob dauernd, und wie weit er die Sicherheit Anderer gefährdet, wird ebenfalls eine gerichtliche Untersuchung feststellen". Vom Amtsgerichte zum Ergebnis der Zeugeneinvernahme befragt, erklärte Prof. Klaesi, er bestätige sein Gutachten, immerhin seien die Aussagen des Vormundes so gewesen, dass er nicht alles aufrecht erhalten könne, was im Gutachten Nachteiliges stehe. Daraufhin hiess das Amtsgericht das Gesuch Brandts gut und ersetzte die Vormundschaft durch eine Mitwirkungs- und Verwaltungsbeiratschaft gemäss Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB.
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B.- Auf Appellation der Vormundschaftskommission ![]() | 3 |
"Der Grund zur Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit (Bevormundungsgrund) ist deshalb vom ärztlichen Gesichtspunkt aus nicht mehr genau derselbe wie vordem. Gegen eine Umwandlung der Vormundschaft in eine Beiratschaft nach Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB ist ärztlicherseits nichts einzuwenden. Eine gänzliche Wiederbemündigung ist jedoch, gestützt auf den psychiatrischen Befund, der in meinem Hauptgutachten ..... ausführlich dargestellt ist, nicht zu empfehlen."
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Die Vorinstanz zog daraus den Schluss, wenn der Bevormundungsgrund nicht mehr genau derselbe sei, so bestehe er also doch immer noch; auch scheine der Experte sich insofern über die rechtlichen Begriffe der Vormundschaft und der Beiratschaft nicht klar zu sein, als er einerseits eine gänzliche "Wiederbemündigung", also die Aufhebung der Vormundschaft ablehne und anderseits für eine Beiratschaft eintrete, die den Wegfall des Bevormundungsgrundes voraussetze. Sei mithin der Wegfall des Bevormundungsgrundes psychiatrisch nicht festgestellt, wie Art. 436 ZGB verlange, so entfalle die rechtliche Möglichkeit einer Beiratschaft.
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C.- Mit der vorliegenden Berufung hält der Gesuchsteller an semem Antrag auf Ersetzung der Vormundschaft durch eine Beiratschaft gemäss Art. 395 Abs. 1 und 2 fest.
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Die Vormundschaftskommission Biel trägt auf Abweisung der Berufung an.
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Die Einholung des Sachverständigengutachtens ist gemäss Art. 436 ZGB unerlässliche Voraussetzung der Aufhebung der Vormundschaft. Diese Vorschrift verlangt aber nicht, dass der Psychiater festgestellt habe, dass der Bevormundungsgrund nicht mehr bestehe; wie bei der Entmündigung ist der Richter nicht an das Gutachten gebunden, sondern dieses dient nur als Hilfsmittel des Richters, der die Feststellung, ob der Entmündigungsgrund weggefallen sei, frei zu treffen hat. Diese "Feststellung" nun ist nur zum Teil tatsächlicher Natur, nämlich insoweit sie den geistigen Zustand des Bevormundeten beschreibt ("Bevormundungsgrund" im engern Sinne, Art. 369) und die aus diesem Zustand für dessen künftige Verhaltensweise zu erwartenden Auswirkungen angibt (Voraussetzung der Entmündigung); ob aber jener Zustand unter die Begriffe der Geisteskrankheit oder -schwäche im Sinne des Gesetzes und diese Auswirkungen unter die Begriffe der Unfähigkeit bzw. Schutz- und Beistandsbedürftigkeit fallen, sind Rechtsfragen. Wenn sich mithin der Gutachter darüber äussern soll, ob der Bevormundungsgrund (im engern und im weitern Sinne des Art. 369) noch oder nicht mehr bestehe, so muss zufolge dieser Vermischung der Begriffsgebiete die Antwort des medizinischen Experten unvermeidlicherweise auch rechtliche Elemente enthalten; und mit Bezug auf diese und deren Interpretation durch die Vorinstanz ist dem Berufungsrichter eine Überprüfung nicht verwehrt.
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In dieser Hinsicht umschreibt die Vorinstanz die zu entscheidende Frage mit Recht dahin, ob sich die grösstenteils konstitutionell bedingten Charakteranomalien des Berufungsklägers in den letzten Jahren zurückgebildet haben oder ob sie zumindest in ihren Auswirkungen soweit zurückgedrängt wurden, dass sich eine weitere Aufrechterhaltung der Vormundschaft nicht mehr rechtfertige. Nicht gefolgt werden kann dagegen der Vorinstanz ![]() ![]() | 9 |
Diese Subsumption des tatsächlichen psychiatrischen Befundes unter Art. 395 statt Art. 369 erscheint auch durchaus einleuchtend. Auch die Vorinstanz anerkennt, "dass sich Brandt während der letzten Jahre im Beruf behauptet hat"; und zwar handelt es sich um einen Zeitraum von rund zehn Jahren. Wenn die Vorinstanz demgegenüber die "Unverträglichkeit, ja Boshaftigkeit des Gesuchstellers gegenüber seinen Arbeitskollegen" hervorhebt, so ist zwar anzunehmen, dass diese Fehler Auswirkungen der psychopathischen Veranlagung sind; aber solche Charakteranomalien sind, selbst wenn psychopathisch bedingt, kein "genügender Grund" zur Entmündigung. Die Psychopathie bildet einen solchen - und damit eine Geisteskrankheit oder -schwäche - nur, wenn der Betroffene ihretwegen seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag usw. (Art. 369). Dies ist bei Brandt heute und seit Jahren nicht mehr der Fall. Diesem Schlusse stehen auch die Befunde von Rheinau (1944) und von Dr. Escher (1934) nicht entgegen. Es ist eine konkrete Besserung im Verhalten des Gesuchstellers festzustellen, die, soweit nicht einer Regression der Psychopathie, zweifellos langjährigen Bemühungen desselben zuzuschreiben ist. Solche Anstrengungen müssen von den Behörden gewürdigt werden, soll nicht ein Bevormundeter jedes Interesse an einer Besserung verlieren, was nicht der Sinn des Gesetzes ist. Diesem entspricht der Grundsatz der persönlichen Freiheit und deren Beschränkung nur im Falle absoluter Notwendigkeit. Wenn schliesslich im Hauptgutachten die Heiratsabsichten des Gesuchstellers ![]() | 10 |
Dass die Voraussetzungen einer Beschränkung der Handlungsfähigkeit im Sinne von Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB vorliegen, anerkennt der Berufungskläger mit seinem Antrag selbst. Er rechtfertigt dieses Begehren auch durchaus vernünftig damit, dass er zur selbständigen Verwaltung eines erheblichen, ihm nach dem Tode seines Vaters zugefallenen Vermögens nicht in der Lage wäre. Die Verbindung der Mitwirkungs- mit der Verwaltungsbeiratschaft ist von der Rechtsprechung zulässig und dort angezeigt erklärt worden, wo die eine oder andere Art der Beiratschaft zum Schutze einer Person allein nicht genügen würde, eine so weitgehende Einschränkung in der persönlichen Selbständigkeit, wie sie in der Bevormundung liegt, dagegen unnötig erscheint (BGE 66 II 14). Auch bei Kombination beider Arten lässt die Beiratschaft verglichen mit der Vormundschaft der Handlungsfähigkeit ein hinreichend breites Gebiet frei, namentlich hinsichtlich der persönlichen Lebensgestaltung, bezüglich Erwerbstätigkeit, Rechtsgeschäften von minderer Tragweite usw., dass sie eme nützliche Zwischenstufe zwischen Vormundschaft und gänzlicher Freiheit bildet (BGE 78 II 336).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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