BGE 81 II 627 | |||
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93. Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. November 1955 i. S. Müller gegen Hubschmid. | |
Regeste |
Art. 19 HRAG, Art. 2 ZGB. |
Kein Rechtsmissbrauch in der nachträglichen Geltendmachung von Spesenersatzansprüchen; auch nicht im Falle der Berufung auf eine nichtige Saldoquittung, die der Reisende in Kenntnis ihrer Nichtigkeit, aber während der Vertragsdauer ausgestellt hatte (Erw. 3 und 4). | |
Sachverhalt | |
A.- Adolf Müller stand seit 1. Februar 1944 als Reisevertreter zum Besuch der Privatkundschaft im Dienst des Wäschefabrikanten Walter Hubschmid. Nach dem endgültigen Vertrag vom 14. April 1944 erhielt er ein festes Monatsgehalt, ein festes Taggeld als Auslagenvergütung, eine monatliche Entschädigung für Bahnabonnement und eine Provision von 1-10% auf dem Fr. 1600.-- übersteigenden Monatsumsatz.
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Auf Begehren des Reisenden Müller änderten die Parteien durch schriftliche Vereinbarung vom 11. Juli 1946 den Vertrag dahin ab, dass an Stelle des festen Monatsgehalts und der Auslagenentschädigung ausschliesslich ein Anspruch auf Provision von 20% des Monatsumsatzes trat.
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Am 31. Mai 1952 kündigte Müller das Anstellungsverhältnis auf den 31. Juli 1952 mit der Begründung, er sei finanziell in Rückstand gekommen und habe bei einer anderen Firma eine Anstellung mit Fixum, Provision und Spesenersatz gefunden. Am 14. Juni 1952 schlossen die Parteien einen neuen Anstellungsvertrag, der Müller Anspruch auf folgende Leistungen einräumte: ein festes Monatsgehalt, eine Provision von 20% auf dem Fr. 3000.-- übersteigenden Monatsumsatz, eine feste Auslagenentschädigung pro Reisetag und die Vergütung des Bahnabonnements bzw. von monatlich Fr. 60.- für den Betrieb einer Vespa nebst Steuer und Haftpflichtversicherung. Unter den besondern Bestimmungen vereinbarten die Parteien, dass der bisherige Anstellungsvertrag ausser Kraft gesetzt und mit Ausnahme des separaten Auszuges, der ein Guthaben der Fa. Hubschmid von Fr. 2569.75 auswies, per Saldo aller Ansprüche quittiert werde.
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Am 22. August 1952 erklärte Müller, dass er die Stelle wegen anderweitiger Verpflichtung auf Ende August 1952 verlasse. Hubschmid löste darauf das Anstellungsverhältnis mit sofortiger Wirkung. Am 8. September 1952 schrieb ihm Müller, er verlange eine Schlussabrechnung und werde dann seinerseits Rechnung stellen für Vergütungen (Rapportmarken, Reisespesen, Vespaspesen), die ihm während ca. 7 Jahren zu wenig ausbezahlt worden seien. Am folgenden Tag betrieb ihn Hubschmid für Fr. 3473.80. Müller erhob Rechtsvorschlag.
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B.- Am 9. September 1953 klagte Hubschmid auf Bezahlung von Fr. 3473.80 samt 5% Zins seit 6. September 1952.
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Müller anerkannte die Klage im Betrage von Fr. 2439.25 und beantragte Abweisung im Mehrbetrag. Gleichzeitig forderte er durch Widerklage die Nachzahlung von Spesenersatz für die Zeit vom 1. Januar 1949 - 14. Juni 1952 in der Höhe von Fr. 9880.-- (760 Tage zu Fr. 13.-) nebst 5% Zins seit 14. Juni 1952.
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Hubschmid liess gelten, dass die Entgeltsabreden von 1946 dem HRAG widersprachen; er wendete aber ein, die Berufung auf die Nichtigkeit der vertraglichen Abmachungen verstosse gegen Treu und Glauben; denn es sei Müller gewesen, der die Abänderung der ursprünglich gesetzmässigen Ordnung verlangt habe, und zudem habe er am 14. Juni 1952 ausdrücklich per Saldo aller Ansprüche quittiert, also auf eine Nachforderung von Spesenersatz rechtswirksam verzichtet. Überdies habe der Bruttoverdienst ausgereicht, den Anspruch auf ein angemessenes Entgelt und auf vollen Spesenersatz zu erfüllen; ein all fälliges Ungenügen sei dem Lebenswandel und der unregelmässigen Arbeitsweise des Beklagten Müller zuzuschreiben.
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C.- Das Bezirksgericht Hinwil schützte die Klage im Betrage von Fr. 2564.25 samt 5% Zins seit 10. September 1952, die Widerklageforderung im Betrage von Fr. 3945.-- nebst 5% Zins seit 13. Februar 1953 (recte 1954). Hinsichtlich der Widerklageforderung nahm es an, der Verzicht des Beklagten vom 14. Juni 1952 auf den gesetzlichen Spesenersatzanspruch sei nichtig, weil er während der Dauer des Anstellungsverhältnisses ausgesprochen wurde; die Berufung auf Nichtigkeit der Vertragsabrede von 1946 und der Saldoquittung von 1952 erfolge nicht rechtsmissbräuchlich, denn es sei nicht erwiesen, dass der Beklagte im Zeitpunkt der Vertragsänderung von 1946 oder bei Abschluss des Vertrages vom 14. Juni 1952 von den zwingenden Bestimmungen der Art. 9 und 13 HRAG Kenntnis gehabt habe.
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E.- Der Beklagte legte Berufung an das Bundesgericht ein. Er beantragt Gutheissung der Widerklageforderung von Fr. 9880.--, Abweisung der Hauptklage, soweit sie den von den Vorinstanzen geschützten Betrag von Fr. 2564.25 übersteigt, und Zusprechung des sich aus der Verrechnung beider Forderungen ergebenden Differenzbetrages von Fr. 7315.75 nebst 5% Zins seit 13. Februar 1954.
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Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung. Streitig ist demnach nur noch die Widerklageforderung des Beklagten.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Trotz der Tatsache, dass die Vertragsabrede von 1946 auf Begehren des Beklagten erfolgte, ist dessen Berufung auf ihre Gesetzwidrigkeit nicht rechtsmissbräuchlich. Denn nach den Ausführungen der Vorinstanz (Urteil S. 9) ist es weder bewiesen noch festgestellt, dass der Beklagte jene Vereinbarung im Bewusstsein ihrer Gesetzwidrigkeit gewollt und unterzeichnet hat.
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Entgegen der Ansicht der Vorinstanz verbietet Art. 19 HRAG schlechthin, die dort genannten Vorschriften des HRAG durch Vertrag auszuschliessen oder zu Ungunsten des Reisenden abzuändern. Diese Bestimmung lässt nach ihrem Wortlaut und Zweck auch dann keine Ausnahme zu, wenn der Reisende tatsächlich nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber steht. Der Rechtfertigungsgrund für die Unabdingbarkeit zwingender Bestimmungen des HRAG liegt in der Erfahrungstatsache, dass der Reisende regelmässig die wirtschaftlich schwächere Vertragspartei ist und dass dieser Umstand immer wieder ausgenützt wird. Das Gesetz will deshalb gewisse Vertragsabreden allgemein verbieten und den Verzicht auf garantierte Ansprüche des Reisenden ausnahmslos ausschliessen.
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Der Sinn des Art. 19 HRAG kann vernünftigerweise nicht der sein, dass in jedem Einzelfall eine Auseinandersetzung darüber geführt wird, ob tatsächlich ein Abhängigkeitsverhältnis bestand, ob die Abhängigkeit des Reisenden einen höheren oder geringeren Grad aufwies und wie die Abgrenzung vorgenommen werden soll. Es kommt nur darauf an, ob die Abrede in einem Anstellungsvertrag oder während der Vertragsdauer getroffen wird.
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Der Verzicht des Beklagten vom 14. Juni 1952 erfolgte in einem Zeitpunkt, in dem die Kündigungsfrist noch nicht abgelaufen war und das Anstellungsverhältnis noch bestand; er ist deshalb nichtig.
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Der Kläger wendet ein, bei dieser Sachlage sei es rechtsmissbräuchlich, sich auf die Nichtigkeit des Verzichts zu berufen. Er übersieht, dass der Sachverhalt nicht derselbe ist wie dort, wo der Reisende selber in Kenntnis ihrer Unzulässigkeit eine Vertragsbestimmung vorschlägt, durch welche er auf besondern Auslagenersatz verzichtet (ZR 49 Nr. 197). Im vorliegenden Fall war es nicht der Reisende, der die Verzichtsklausel vorschlug, sondern der an einer solchen Abrede in erster Linie interessierte Arbeitgeber.
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Der Beklagte nahm sie als Teil des auf Weiterführung des Anstellungsverhältnisses gehenden neuen Vertrages hin, wenn auch in Kenntnis ihrer Nichtigkeit, aber doch infolge seiner tatsächlichen Abhängigkeit vom Kläger, dem er einen Betrag von mindestens Fr. 2500.-- aus Vorschüssen etc. schuldete, den er nicht oder höchstens ratenweise abzahlen konnte. Auch wenn der Beklagte keine Aktiven besass und Konkursverlustscheine aus dem Jahre 1942 gegen ihn bestanden, so hatte er gleichwohl aus einer allfälligen Geltendmachung des Guthabens Unannehmlichkeiten zu befürchten. Wenn sich ein Reisender unter solchen Umständen und während der Vertragsdauer zu einer Verzichtserklärung herbeilässt, so verstösst die spätere Berufung auf deren Unzulässigkeit nicht gegen Treu und Glauben. Ein gegenteiliger Entscheid hätte zur Folge, dass der Schutzzweck des HRAG auf dem Wege des Art. 2 ZGB weitgehend vereitelt würde.
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a) Dafür wird angeführt, die Provisionsabrede von 1946 hätte offenbar genügt, den gesetzlichen Anspruch auf ein angemessenes Entgelt und vollen Spesenersatz zu decken, wenn der Beklagte pflichtgemäss und in zumutbarer Weise gearbeitet hätte. Ohne Abklärung der vom Beklagten von 1949 bis Juni 1952 tatsächlich gemachten Bezüge an Provisionen und Reisespesenersatz, der Anzahl Reisetage und der Höhe des hier anzuwendenden Spesenansatzes kann indessen nicht beurteilt werden, ob dem Gesetz Genüge getan wurde. Folglich kann auch die Spesennachforderung nicht zum vorneherein als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden.
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b) Die Spesenforderung soll ferner Treu und Glauben widersprechen, weil der Beklagte nach der von ihm selber beantragten Vertragsbestimmung von 1946 keine Arbeitsrapporte abzuliefern hatte und dadurch den Kläger der Möglichkeit zur Kontrolle der tatsächlich ausgegebenen Spesen beraubt habe. Die Verantwortung für das Fehlen von Arbeitsrapporten hat der Beklagte jedoch nicht allein zu tragen, sondern ebenso sehr der Kläger, welcher auch für den Ausschluss des Spesenersatzes mitverantwortlich ist. Dass die Vertragsbestimmung vom Beklagten beantragt wurde, kann ihm, wie schon dargelegt, nicht als Verstoss gegen Treu und Glauben zur Last gelegt werden.
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Trotz Fehlens zuverlässiger Unterlagen kann die Zahl der Reisetage auf Grund der vorliegenden Umstände annährend festgestellt und nötigenfalls geschätzt werden. Gleiches gilt mit Bezug auf die Bestimmung der Höhe der Tagesspesen.
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c) Ein Rechtsmissbrauch soll schliesslich darin liegen, dass der Beklagte nach der endgültigen Aufhebung des Anstellungsverhältnisses (Ende August 1952) keine Spesenersatzforderung gerichtlich geltend gemacht habe, sondern sie erst 1 1/2 Jahr später im vorliegenden Prozess erhob.
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Es ist richtig, dass der Beklagte seine Spesenersatzforderung erst mit der Klageantwort vom 6. Februar 1954 "gerichtlich" geltend machte. Aber er hat nach der endgültigen Vertragsauflösung nicht bis zur Einreichung der Widerklage geschwiegen, sondern seine Forderung mit Brief vom 8. September 1952 ohne Verzug angemeldet und damit dem Kläger unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass er sich auf die Bestimmungen des HRAG berufe. Es könnte sich höchstens die Frage stellen, ob das Schweigen des Beklagten in der Folgezeit ungebührlich lang war und vom Kläger nach Treu und Glauben als Verzicht auf die Spesennachforderung aufgefasst werden durfte. Das ist zu verneinen. Die Stellungnahme des Beklagten vom 8. September 1952 zeigte eindeutig, dass er seine Forderung einer allfälligen Geltendmachung des klägerischen Guthabens entgegenstellen wollte. Darin lag die für den Kläger leicht erkennbare Erklärung, der Beklagte werde seine Gegenforderung als Verteidigungsmittel benützen für den Fall, dass der Kläger auf die Eintreibung seines Guthabens nicht verzichte. Dass der Beklagte zuwartete und nicht selbständig auf Bezahlung seiner "Gegenforderung" klagte, ist verständlich; denn er hoffte, der Kläger werde es bei dieser Sachlage als aussichtslos betrachten, sein Guthaben von ca. Fr. 2500.-- jemals ausbezahlt zu erhalten.
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Die Einrede des Rechtsmissbrauchs kann somit auch aus den von der Vorinstanz angeführten Gründen nicht zugelassen werden.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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