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Informationen zum Dokument  BGE 83 II 409  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Die Vorinstanz ist auf Grund der im kantonalen Verfahren durch ...
2. Bei der Beurteilung dieser Frage fällt hier in Betracht,  ...
3. Von ihrer somit grundsätzlich gegebenen Haftung vermö ...
4. Die Berufung ist deshalb dahin gutzuheissen, dass das angefoch ...
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55. Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. November 1957 i.S. Schnurrenberger gegen "Zürich" Unfall- und Haftpflicht-Versicherungs-A.-G.
 
 
Regeste
 
Adäquater Kausalzusammenhang zwischen vorschriftswidrigem Überholen und Zusammenstoss zweier aus der Gegenrichtung kommender Fahrzeuge.  
 
Sachverhalt
 
BGE 83 II, 409 (409)A.- Der Kläger Schnurrenberger erlitt am 5. Oktober 1953, 08.15 Uhr, einen Verkehrsunfall, der sich unter den folgenden Umständen zutrug: Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf der 6 m breiten Kantonsstrasse von Sihlbrugg gegen Baar; er hatte eine Geschwindigkeit von ca. 70 km. Vor ihm her fuhr in einem gewissen Abstand Zollinger mit seinem Personenwagen; dessen Geschwindigkeit betrug ca. 80 km. Aus der entgegengesetzten Richtung kam mit einer Geschwindigkeit von 25-30 km ein von Roth gesteuerter Lastwagen mit Anhänger. Diesem folgte der Personenwagen des englischen Staatsangehörigen Masters mit einer Geschwindigkeit von ca. 45 km. Obwohl Masters in der Ferne den Wagen Zollingers erblickte, begann er den Lastwagen zu überholen. Als Zollinger dies wahrnahm, verlangsamte er seine Fahrt, indem er vo m Gas wegging. Da Masters entgegen der Annahme Zollingers nicht auf das Überholen verzichtete, bremste dieser allmählich. Das ermöglichte es Masters, wieder in die rechte Strassenhälfte einzuschwenken, doch streifte er dabei den Lastwagen des Roth, der sofort stoppte und BGE 83 II, 409 (410)nach einer Bremsspur von ca. 5 m zum Stehen kam. Das Geräusch dieses Zusammenstosses veranlasste auch Zollinger, seinen Wagen ganz anzuhalten. Einige Sekunden nachher prallte der Kläger mit seinem Motorrad gegen den Wagen Zollingers und wurde auf die Strasse geschleudert, wobei er sich schwere Verletzungen zuzog.
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B.- Der Kläger machte Masters für den Unfall verantwortlich und belangte die "Zürich" Unfall- und Haftpflichtversicherungs AG als Vertreterin des englischen Versicherers des Masters auf Bezahlung von Fr. 11'280.80 nebst 5% Zins seit 12. August 1954.
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Die Beklagte bestritt die Verantwortlichkeit Masters für den Unfall des Klägers.
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C.- Das Kantonsgericht und das Obergericht des Kantons Zug, dieses mit Urteil vom 12. Februar 1957, wiesen die Klage mit der Begründung ab, es fehle an einem rechtserheblichen Kausalzusammenhang zwischen der Fahrweise Masters und dem Unfall des Klägers.
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D.- Mit der vorliegenden Berufung beantragt der Kläger erneut Gutheissung seiner Klage, eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Bestimmung des Schadenersatzes.
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Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1. Die Vorinstanz ist auf Grund der im kantonalen Verfahren durchgeführten Beweiserhebungen zum Schlusse gelangt, die ursprüngliche Ursache des dem Kläger zugestossenen Unfalls liege im Verhalten Masters. Damit ist für das Bundesgericht das Vorliegen des natürlichen Kausalzusammenhanges verbindlich festgestellt; denn ob ein Ereignis als Wirkung eines andern zu betrachten sei, ist nach ständiger Rechtsprechung Tatfrage. Vom Bundesgericht überprüfbare Rechtsfrage ist dagegen, ob die beiden Ereignisse zu einander in einem adäquaten Verhältnis stehen und der zwischen ihnen vorhandene ursächliche BGE 83 II, 409 (411)Zusammenhang darum auch rechtserheblich sei. Als adäquate Ursache ist nach der Rechtsprechung ein Ereignis dann zu betrachten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet war, den eingetretenen Erfolg herbeizuführen und daher der Eintritt dieses Erfolges durch die betreffende Ursache allgemein als begünstigt erscheint (BGE 80 II 342, BGE 66 II 172 und dort erwähnte Entscheide).
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2. Bei der Beurteilung dieser Frage fällt hier in Betracht, dass das Überholen immer, insbesondere für den Gegenverkehr, eine erhöhte Gefährdung schafft. Es ist nach Art. 46 Abs. 1 MFV darum nur gestattet, wenn die dazu erforderliche Strassenstrecke frei und übersichtlich ist und namentlich kein anderes Fahrzeug entgegen kommt; wer überholt, ist nach Art. 46 Abs. 3 MFV verpflichtet, besonders vorsichtig zu fahren und auf die andern Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen. Diese besondere Vorsichtspflicht gilt in noch erhöhtem Masse auf Durchgangsstrassen, wo allgemein mit hoher Geschwindigkeit gefahren wird und deswegen auch die mit dem Überholen verbundene Gefährdung besonders ausgeprägt ist. Es kann ein scheinbar noch in weiter Ferne befindliches Fahrzeug infolge hoher, von vorne kaum abschätzbarer Geschwindigkeit vor der Beendigung des Überholens so nahe herangelangt sein, dass sein Führer zum Verlangsamen seiner Fahrt gezwungen ist, um einen Zusammenstoss mit dem überholenden Fahrzeug zu vermeiden. Solche Geschwindigkeitsverminderung kann dazu führen, dass das Fahrzeug ins Schleudern gerät und es so zu einem Unfall kommt. Darüber hinaus besteht aber immer die Gefahr, dass der Führer eines nachfolgenden Fahrzeugs durch die Geschwindigkeitsverminderung überrascht wird, infolgedessen unrichtig reagiert oder nicht mehr rechtzeitig zu bremsen vermag und darum in das vordere Fahrzeug hineinfährt; denn es kommt erfahrungsgemäss immer wieder vor, dass der Führer des hinteren Fahrzeugs seiner gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht zur Einhaltung eines BGE 83 II, 409 (412)genügenden Abstandes (Art. 48 Abs. 1 MFV) nicht voll gerecht wird. Mit einem solchen Versagen hat nicht nur der Führer des vorderen Fahrzeugs (BGE 81 IV 52), sondern insbesondere auch der Überholende zu rechnen, da er allgemein für den Gegenverkehr eine erhöhte Gefährdung schafft. Die Möglichkeit eines solchen Zusammenstosses liegt daher nicht derart ausserhalb jedes normalen Geschehens, dass damit nicht gerechnet werden müsste und er deshalb zum vorneherein nicht mehr als adäquate Folge des Überholens anzusehen wäre. Aus diesen Erwägungen ist auch im vorliegenden Fall der adäquate Kausalzusammenhang entgegen der Auffassung der Vorinstanz als gegeben anzusehen.
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Die Beklagte wendet ein, der Abstand des Klägers vom Wagen Zollingers habe mehr als 100 m betragen, so dass der Kläger bei einiger Aufmerksamkeit noch rechtzeitig hätte anhalten können, zumal Zollinger nicht plötzlich gebremst, sondern seine Geschwindigkeit nur allmählich vermindert habe. Die mangelnde Aufmerksamkeit des Klägers habe daher die massgebliche Unfallursache gebildet und den Kausalzusammenhang zwischen dem Überholen Masters und dem Unfall unterbrochen.
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Dieser Einwand ist jedoch schon deshalb unbehelflich, weil nicht feststeht, wie gross der Abstand der beiden Fahrzeuge tatsächlich war. Nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils besteht lediglich eine durch verschiedene Indizien gestützte Möglichkeit, dass der Abstand so gross war, wie die Beklagte behauptet. Das reicht nicht aus, um die nach dem Gesagten an sich vorhandene Erheblichkeit des Kausalzusammenhangs zu widerlegen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob bei einem Abstand von etwas mehr als 100 m der Unfall des Klägers nicht mehr als adäquate Folge des Verhaltens Masters betrachtet werden könnte.
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3. Von ihrer somit grundsätzlich gegebenen Haftung vermöchte sich die Beklagte nur durch den doppelten Nachweis zu befreien, dass den Kläger ein grobes Selbstverschulden, BGE 83 II, 409 (413)den Masters dagegen keinerlei Schuld am Unfall treffe (Art. 37 Abs. 2 MFG). An der zuletzt genannten Voraussetzung fehlt es offensichtlich. Indem Masters trotz des aus der Gegenrichtung herannahenden Wagens Zollingers den Lastwagenzug überholte, verletzte er schuldhaft die für das Überholen geltenden Vorschriften und gefährdete damit nicht nur die unmittelbar beteiligten Fahrzeuge des Zollinger und des Roth, sondern auch den hinter Zollinger fahrenden Kläger.
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Dagegen kann der Kläger nicht vollen Ersatz seines Schadens beanspruchen, weil auch ihm ein Verschulden am Unfall zur Last zu legen ist (Art. 37 Abs. 3 MFG). Denn entweder hat er den nach Art. 48 Abs. 1 MFV gebotenen Abstand vom Wagen Zollingers nicht eingehalten und darum nicht mehr rechtzeitig bremsen können, als Zollinger verlangsamte und schliesslich ganz anhielt, oder dann hat er es an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen lassen und deshalb zu spät bemerkt, dass er in gefährliche Nähe des vordern Wagens gelangt sei. Dass er möglicherweise durch das verkehrswidrige Vorfahren Masters und das Geräusch des Zusammenstosses zwischen dessen Wagen und dem Lastwagen erschreckt wurde und darum in seiner Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt war, vermöchte ihn nicht von jedem Verschulden zu entlasten. Bei genügendem Abstand von Zollinger hätte er durch das Vorfahren Masters nicht derart überrascht sein können, dass ihm jede Möglichkeit gefehlt hätte, den Zusammenstoss mit Zollinger zu vermeiden oder doch vermehrt abzuschwächen.
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Bei der Abwägung des gegenseitigen Verschuldens fällt zunächst ins Gewicht, dass das Verschulden Masters als schwer bezeichnet werden muss. Obwohl er den aus der Gegenrichtung herannahenden Wagen Zollingers sah, liess er sich nicht vom Überholen des Lastwagens abhalten. Damit verstiess er gröblich gegen die ihm nach Art. 46 MFV obliegenden besonderen Sorgfaltspflichten. Sein Verschulden wiegt, verantwortungsmässig betrachtet, schwerer BGE 83 II, 409 (414)als das des Klägers, der entweder zu nahe aufgeschlossen fuhr oder, plötzlich vor eine gefährrliche Situation gestellt, fehlerhaft reagierte. Da aber anderseits das Verschulden des Klägers dem Unfall ursächlich näher steht, rechtfertigt sich in Würdigung der gesamten Umstände eine hälftige Verschuldensteilung.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Berufung wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 12. Februar 1957 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.
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