BGE 84 II 214 | |||
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30. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 1. April 1958 i.S. Kaiser gegen Seiler. | |
Regeste |
Zusammenstoss zwischen Motorrad und landwirtschaftlichem Traktor. Begriff des landwirtschaftlichen Traktors. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Art. 5 MFV; Beweislast (Erw. 1, 2). | |
Sachverhalt | |
A.- Der Motorradfahrer Kaiser stiess am 15. Juli 1954 um 19.45 Uhr auf der Kreuzung Scheidweg im Gebiet der Gemeinde Tobel mit einem vom Landwirt Seiler gesteuerten Traktor zusammen. Kaiser erlitt schwere Verletzungen, die eine hohe Dauerinvalidität zur Folge hatten. Er erhob gegen Seiler Klage auf Bezahlung einer Schadenersatz- und Genugtuungssumme von Fr. 40'000.-- nebst Zins.
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Seine Klage wurde jedoch gemäss dem Antrag des Beklagten vom Bezirksgericht Münchwilen sowie vom Obergericht des Kantons Thurgau abgewiesen.
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B.- Über den Unfallhergang sind dem Urteil des Obergerichts vom 21. Mai 1957 folgende Feststellungen zu entnehmen:
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Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf der Gemeindestrasse von Tägerschen gegen Fliegenegg-Lommis; er hatte eine Geschwindigkeit von 50-60 km/Std. Der Beklagte kam auf seinem Traktor mit angehängtem Jauchewagen aus der von rechts einmündenden Gemeindestrasse; seine Geschwindigkeit betrug 16-17 km/Std. In dem durch die beiden Strassen gebildeten Winkel stehen Sträucher und Bäume, welche die Übersicht stark beschränken. Der Beklagte erblickte den Kläger erst aus einer Entfernung von 3-4 m vor der Einmündung. Er riss den Traktor nach rechts und bremste, konnte aber den Zusammenstoss nicht mehr vermeiden. Der Kläger hätte den von rechts kommenden Traktor aus einer Entfernung von ca. 10 m vor der Kreuzung sehen können, bemerkte ihn aber erst, als er bis auf ungefähr 3 m an diese herangekommen war. Sein Versuch, links am Traktor vorbeizukommen, misslang. Er prallte mit unverminderte Geschwindigkeit an das linke Vorderrad des Traktors und wurde samt seinem Motorrad schräg nach vorn in die Wiese links der Strasse geschleudert. Der Traktor fuhr nach dem Zusammenstoss noch einige Meter weiter und kam dann jenseits der Kreuzung an der Strassenecke zum Stehen.
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In rechtlicher Hinsicht nahm das Obergericht an, es seien nicht die Haftungsbestimmungen des MFG, sondern diejenigen des OR anwendbar, da entgegen der Auffassung des Klägers der Traktor des Beklagten als landwirtschaftlicher Traktor im Sinne von Art. 5 MFV zu betrachten sei. Eine Haftung des Beklagten aus Art. 41 OR entfalle jedoch, weil ihm weder ein widerrechtliches Verhalten, noch ein Verschulden zur Last gelegt werden könne und es auch an einem adäquaten Kausalzusammenhang zwischen seiner Fahrweise und dem Unfall fehle. Dieser sei vielmehr auf das ausschliessliche Selbstverschulden des Klägers, der mit übersetzter Geschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren sei und das Vortrittsrecht des Beklagten missachtet habe, zurückzuführen.
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Der Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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a) Die Vorinstanz hat festgestellt, die Höchstgeschwindigkeit des Traktors betrage zwar gemäss der gerichtlichen Expertise 22.222 km/Std. Das schliesse jedoch die Anwendbarkeit des in MFV 5 für landwirtschaftliche Traktoren vorgesehenen Haftungsprivilegs nicht aus. Es müsse eine gewisse Toleranz hinsichtlich der Geschwindigkeit zugestanden werden, weil es sich um serienmässig hergestellte Maschinen handle, die an sich eine weit höhere Geschwindigkeit erlaubten, wenn sie vom Hersteller nicht auf die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit plombiert würden. Gegen die Gewährung einer Toleranz von 10%, wie sie die kantonale Automobilkontrolle zulasse, sei daher nichts einzuwenden. Aber auch eine geringfügige Überschreitung der Toleranzgrenze könne nicht beanstandet werden, da die Geschwindigkeit veränderlich sei und dem Fahrzeughalter nicht zugemutet werden könne, sein Fahrzeug immer wieder prüfen zu lassen. Der Traktorhalter, dem das nach den kantonalen Vorschriften vorgesehene besondere grüne Nummernschild ausgehändigt worden sei, müsse sich darauf verlassen können, dass die Kausalhaftung des MFG entfalle. Ob die Verleihung des grünen Nummerschilds einen verbindlichen kantonalen Verwaltungsakt darstelle, liess die Vorinstanz offen.
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b) Der Kläger bestreitet demgegenüber mit Recht, dass die Abgabe des Schildes für landwirtschaftliche Traktoren die Haftung irgendwie zu beeinflussen vermöge. Die Aushändigung dieses besonderen Kontrollschildes kann für die Haftungsfrage umsoweniger von Bedeutung sein, als im Einzelfall der nämliche Traktor je nach seiner Verwendung den Haftungsbestimmungen des MFG unterstehen kann oder nicht. Denn Art. 5 MFV gewährt die Sonderbehandlung nur für "Fahrten im Zusammenhang mit der Bewirtschaftung eines Landwirtschaftsbetriebes". Insofern kommt deshalb nichts darauf an, dass die Abgabe des grünen Nummernschildes weder auf dem MFG noch sonst einer eidgenössischen Vorschrift oder Weisung beruht, sondern auf einer kantonalen Bestimmung.
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c) Der Kläger wendet sich sodann gegen die ausdehnende Auslegung von Art. 5 MFV durch die Vorinstanz. Die Zulässigkeit einer solchen ist in der Tat fraglich. Gegen sie kann geltend gemacht werden, die Verordnung sehe eine Höchstgeschwindigkeit vor, worin Toleranzgrenzen bereits enthalten sein müssten. Anderseits sprechen die Erwägungen des Obergerichts für eine geschmeidigere Lösung. Wollte man aber eine gewisse Toleranz grundsätzlich zulassen, so erhöbe sich die weitere Frage, wie hoch diese zu bemessen und ob sie vorliegend überschritten sei; denn ein Spielraum von 10% und darüber erscheint als etwas gross. Schliesslich liesse sich auch noch erwägen, ob nicht die Toleranzgrenze gestützt auf Art. 1 Abs. 2 MFG richtigerweise vom Bundesrat zu bestimmen wäre. Alle diese Fragen können jedoch offen bleiben, da dem Beklagten das Haftungsprivileg des Art. 5 MFV auf Grund der folgenden Erwägung zugebilligt werden muss.
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In Art. 1 Abs. 2 MFG ist insofern eine Ausscheidung vorgesehen, als die Vollziehungsverordnung die im Geetz erwähnten Kategorien von Motorfahrzeugen zu umschreiben hat; ebenso entscheidet in Zweifelsfällen der Bundesrat "ob und in welcher Weise eine Kategorie oder ein Typus von Motorfahrzeugen" unter die Bestimmungen des MFG falle. Das ist nicht eine blosse Schaffung von Ausnahmen, sondern eine gegenständliche Ausscheidung. Von der durch Art. 1 MFG getroffenen Delegation hat der Bundesrat in Art. 5 MFV Gebrauch gemacht (BGE 68 IV 25; STREBEL, Art. 1 MFG N. 54 Abs. 1).
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b) Der Beklagte verwendete ein Fahrzeug, dessen Zugehörigkeit zur Kategorie der landwirtschaftlichen Traktoren feststeht (vgl. Gutachten des kantonalen Experten). Die Haftung nach MFG wird vom Kläger einzig aus der Behauptung abgeleitet, dass der übungsgemäss vom Hersteller plombierte und landwirtschaftlicher Verwendung dienende Traktor die zulässige Höchstgeschwindigkeit noch entscheidend überschritten habe. Für diese Behauptung obliegt, weil das Gesetz es nicht anders bestimmt, der Beweis gemäss Art. 8 ZGB dem Kläger, welcher aus ihr Rechte ableitet. Zu einer Umkehrung der Beweislast geben die Umstände keinen Anlass. Sie müssten gegenteils die gleiche Lösung ergeben, umsomehr als der Beklagte auch den Kontrollschild für landwirtschaftliche Traktoren behördlich unbeanstandet führt.
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Nach dem angefochtenen Urteil ist es nun aber zweifelhaft, ob der Traktor des Beklagten im Zeitpunkt des Unfalles eine höhere als die nach Art. 5 MFV auf 20 km begrenzte Geschwindigkeit erreichen konnte. Das im kantonalen Verfahren eingeholte Gutachten, das eine mögliche Geschwindigkeit von 22'222 km/Std. feststellt, wurde am 9. Februar 1956 veranlasst und am 9. März erstattet. Die darin enthaltenen Feststellungen erfolgten somit mehr als 11/2 Jahre nach dem Unfall vom 15. Juli 1954. Ob die damals erreichbare Geschwindigkeit mehr als die zulässigen 20 km/Std. betrug, steht nach den Ausführungen der Vorinstanz nicht fest und kann nicht mehr ermittelt werden. Diese Annahme ist für das Bundesgericht verbindlich. Danach fehlt es aber am Beweis einer Voraussetzung der Haftung nach MFG, weshalb dessen Anwendbarkeit verneint werden muss. ..
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Geht man jedoch von dem durch die Vorinstanz verbindlich festgestellten Tatbestand aus, so erweist sich ihr Entscheid als rechtlich unanfechtbar.
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Der Beklagte kam von rechts und hatte somit das Vortrittsrecht (Art. 27 Abs. 1 MFG). Dieses verlieh ihm allerdings nicht die Freiheit, unbekümmert in die Kreuzung einzufahren, sondern er war wegen deren Unübersichtlichkeit zur Vorsicht verpflichtet. Dieser Vorsichtspflicht hat er aber entgegen der Auffassung des Klägers genügt. Seine Geschwindigkeit von 16-17 km war nicht zu gross, selbst wenn das Gewicht und die Schwerfälligkeit seines Gefährtes in Rechnung gestellt werden. Dass der Führer eines landwirtschaftlichen Traktors wegen des Haftungsprivilegs des Art. 5 MFV zu grösserer Sorgfalt verpflichtet sei als andere Motorfahrzeuglenker, trifft entgegen der Meinung des Klägers nicht zu. Dem Beklagten kann somit angesichts der gesamten Umstände kein Verschulden zur Last gelegt werden. Wenn es ihm trotz sofortigem Bremsen und Abdrehen des Traktors nach rechts gleichwohl nicht gelang, den Zusammenstoss zu vermeiden, so war das ausschliesslich auf das Verhalten des Klägers zurückzuführen, der nicht nur mit der stark übersetzten Geschwindigkeit von 50-60 km auf die unübersichtliche Kreuzung zufuhr, sondern es überdies an der gebotenen Aufmerksamkeit fehlen liess. Denn obwohl nach den Feststellungen der Vorinstanz die von rechts einmündende Strasse trotz den die Übersicht beeinträchtigenden Sträuchern aus einer Entfernung von ca. 10 m ungefähr 5 m weit eingesehen werden konnte, erblickte der Kläger das Fahrzeug des Beklagten erst aus einer Entfernung von ungefähr 3 m. Wer derart unaufmerksam, mit übersetzter Geschwindigkeit und unter Missachtung des Vortrittsrechts in eine unübersichtliche Kreuzung einfährt, handelt grobfahrlässig. Dass in jener Gegend im allgemeinen kein grosser Verkehr herrscht, vermag den Kläger nicht zu entschuldigen. Unhaltbar ist insbesondere auch die in der Berufung vertretene Auffassung, auf dem Lande brauche das Vortrittsrecht nicht im gleichen Masse beachtet zu werden wie im Stadtverkehr.
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Da der Unfall auf das alleinige grobe Verschulden des Klägers zuruckzuführen ist, während dem Beklagten kein Verschulden zur Last fällt, wäre auch bei Anwendbarkeit des MFG das Ergebnis gestützt auf Art. 37 Abs. 2 MFG dasselbe.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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