BGE 85 II 516 | |||
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75. Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. Dezember 1959 i.S. Kuhn gegen Eheleute Gross. | |
Regeste |
Unfall eines Motorfahrzeugs infolge alleinigen Verschuldens eines Fussgängers. Art. 41, 44 Abs. 1 OR; Art. 37 MFG. |
Einfluss der Betriebsgefahr auf den Schadenersatzanspruch des allein geschädigten Motorfahrzeughalters (Erw. 3). | |
Sachverhalt | |
A.- Am Nachmittag des 1. August 1956 fuhr der Kläger Romain Gross in Begleitung seiner Ehefrau (Zweitklägerin) mit seinem Personenwagen Renault-Heck auf der Überlandstrasse von Zürich nach Baden. Die Strasse war trocken und die Sicht gut. Kurz vor Neuenhof, wo die Strasse eben und geradlinig verläuft und vollständig übersichtlich war, betrug die Fahrgeschwindigkeit des Klägers Gross 85-90 km. Aus der Gegenrichtung kam dem linken Strassenrand entlang, also auf der gleichen Strassenseite wie das Auto des Klägers Gross, der Fussgänger Kuhn, der Beklagte. Dieser überquerte kurz vor dem Auto plötzlich die Strasse. Um Kuhn nicht zu überfahren, bremste Gross und wich nach rechts in die Wiese aus. Da er mit dem rechten Vorderrad auf einen im Grase verborgenen Markstein stiess, wurde sein Wagen nach links abgedreht, prallte bei der Weiterfahrt an einen Wehrstein und überschlug sich. Die beiden Insassen wurden verletzt und das Auto stark beschädigt. Der Fussgänger Kuhn kam heil davon.
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Die durchgeführte Strafuntersuchung ergab, dass der Fussgänger Kuhn angetrunken war. Das Bezirksgericht Baden verurteilte ihn wegen Störung des öffentlichen Verkehrs und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 100.--.
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B.- Die Eheleute Gross belangten Kuhn auf Ersatz ihres Schadens (mit Ausnahme der von der französischen Sozialversicherung beglichenen Heilungskosten), sowie auf Bezahlung einer Genugtuungssumme.
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Der Beklagte bestritt jede Ersatzpflicht.
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C.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte den Beklagten zur Bezahlung von Schadenersatz im Betrage von Fr. 4222.86 an den Kläger Gross und von Fr. 138.-- an dessen Ehefrau, sowie zur Leistung einer Genugtuungssumme von Fr. 500.-- an jeden der beiden Kläger, alles mit 5% Zins seit 7. Dezember 1956.
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Das Obergericht Zürich, I. Zivilkammer, bestätigte dieses Urteil mit Ausnahme der Genugtuungsforderung der Klägerin Frau Gross, welche abgewiesen wurde.
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D.-- Gegen das Urteil des Obergerichts vom 6. April 1959 ergriff der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht mit dem erneuten Antrag auf Abweisung der Klage.
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Die Kläger beantragen Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Entscheides.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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2. Ist danach von dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt auszugehen, so muss dem Beklagten das alleinige Verschulden an dem den Klägern zugestossenen Unfall zur Last gelegt werden.
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a) Indem der Beklagte, ohne dem Verkehr irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, kurz vor dem in rascher Fahrt herannahenden Auto in die Strasse hinaustrat, liess er es an der Sorgfalt fehlen, die jeder Fussgänger beobachten muss, wenn er eine Strasse, insbesondere eine verkehrsreiche Überlandstrasse, überqueren will. Diese Ausserachtlassung der gebotenen Vorsicht stellte eine grobe Fahrlässigkeit des Beklagten dar. Dass er angetrunken war und möglicherweise darum derart unvorsichtig handelte, vermag ihn nicht zu entlasten; in angetrunkenem Zustand eine belebte Durchgangsverkehrsstrasse zu betreten, war an und für sich schon schuldhaft. Dieses grobfahrlässige Verhalten des Beklagten löste die schadenbringende Reaktion des Fahrzeugführers Gross aus und ist deshalb als rechtserhebliche Ursache des eingetretenen Schadens zu betrachten. Mit Recht hat die Vorinstanz daher den Beklagten auf Grund der Vorschriften über die unerlaubte Handlung, Art. 41 ff. OR, für den Schaden der Kläger haftbar erklärt.
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b) Ein Mitverschulden des Klägers Gross ist entgegen der Ansicht des Beklagten zu verneinen. Die Geschwindigkeit von 85-90 km war auf der übersichtlichen, geraden Überlandstrasse nicht übersetzt. Seine Fahrt wegen des aus der Gegenrichtung am Strassenrand daherkommenden Fussgängers zu verlangsamen, hatte der Kläger keinen Anlass. Er durfte annehmen, der Fussgänger werde seinen Weg dem Strassenrand entlang fortsetzen, und brauchte nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, jener werde unvermittelt in seine Fahrbahn treten. Dass dieser Fussgänger angetrunken war und daher die Gefahr eines unberechenbaren Verhaltens bestand, stellte sich erst nachher heraus und war für den Kläger Gross nicht erkennbar. Es kann ihm daher auch nicht vorgeworfen werden, er wäre wegen offensichtlicher, auf Angetrunkenheit oder eine sonstige Ursache zurückzuführenden Unsicherheit des Fussgängers verpflichtet gewesen, seine Geschwindigkeit zu mässigen. Als der Beklagte dann kurz vor dem Auto unvermittelt die Strasse überquerte, hat der Kläger Gross alles getan, was in seiner Macht stand, um einen Zusammenstoss zu verhüten, indem er bremste und den Wagen nach rechts über den Strassenrand hinaus steuerte. Damit bewahrte er den Beklagten vor einer schweren Körperverletzung, möglicherweise sogar vor dem Tode, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass er dabei sich selber und seine Ehefrau in Lebensgefahr brachte. Von einer gänzliche Befreiung des Beklagten von der Ersatzpflicht oder auch nur von einer Herabsetzung derselben wegen Mitverschuldens des Klägers Gross kann daher nicht die Rede sein.
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Eine gänzliche Befreiung des Beklagten scheidet indessen schon mit Rücksicht darauf aus, dass ihn an der Herbeiführung des Unfalles ein Verschulden trifft. Aber auch eine blosse Minderung seiner Ersatzpflicht ist abzulehnen.
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a) Gewiss stellte die dem verunfallten Motorfahrzeug innewohnende Betriebsgefahr eine Mitursache des Unfalls dar. Die Betriebsgefahr des Motorfahrzeuges besteht bekanntlich darin, dass es durch die Möglichkeit rascher, selbständiger Fortbewegung seines beträchtlichen Eigengewichts mit Hilfe motorischer Kräfte eine Gefährdung sowohl der übrigen Strassenbenützer, wie auch seiner Insassen mit sich bringt. Diese Betriebsgefahr wirkt sich um so stärker aus, je grösser die Geschwindigkeit des Fahrzeugs ist. So ist denn auch im vorliegenden Falle die Schwere des eingetretenen Schadens wesentlich auf die (wenn auch erlaubte) hohe Geschwindigkeit des klägerischen Autos zurückzuführen. Denn es steht ausser Zweifel, dass das unvorsichtige Verhalten des Beklagten keine so schwerwiegenden Folgen nach sich gezogen hätte, wenn er einem andern Fussgänger, einem Handwagen oder einem Pferdefuhrwerk in den Weg gelaufen wäre. Sofern einem solchen Verkehrsteilnehmer wegen der Notwendigkeit plötzlichen Ausweichens überhaupt ein Schaden zugestossen wäre, hätte dieser niemals das hier eingetretene Ausmass annehmen können. Ebenso hätte bei geringerer Geschwindigkeit des Motorfahrzeugs des Klägers ein Ausweichmanöver, sofern es überhaupt notwendig geworden wäre, höchstwahrscheinlich nicht zu derart schweren Beschädigungen geführt. Es kann daher der Vorinstanz nicht zugestimmt werden, wenn sie ausführt, die Frage, ob und inwieweit der Automobilist dafür einzustehen habe, dass sein Fahrzeug eine Betriebsgefahr bilde, stelle sich nur bei der Haftpflicht gegenüber dem Geschädigten oder bei der Kollision von Gefährdungshaftungen, während dort, wo der Autohalter selber allein geschädigt sei, dafür auf der Grundlage von Art. 37 Abs. 2 MFG kein Raum bleibe. Grundsätzlich hat vielmehr auch der Motorfahrzeughalter, der durch das Verschulden eines nur aus unerlaubter Handlung Haftenden geschädigt wird, für die von ihm selbst gesetzte Betriebsgefahr einzustehen.
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Richtig ist sodann auch, dass die vom Motorfahrzeughalter gesetzte Betriebsgefahr, der auch er selber als Insasse des Fahrzeugs ausgesetzt ist, einen Umstand im Sinne von Art. 44 Abs. 1 OR darstellen kann, der eine Ermässigung der Ersatzpflicht des Schädigers als geboten erscheinen lässt. Denn als haftungsmindernde Umstände im Sinne der genannten Bestimmung kommen nicht nur solche in Betracht, die der Geschädigte schuldhaft herbeigeführt hat, wenn auch das Mit- oder Selbstverschulden des Geschädigten den wichtigsten Fall eines derartigen Umstandes darstellt.
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b) Im vorliegenden Fall ist jedoch von Bedeutung, dass die Betriebsgefahr des Motorfahrzeugs des Klägers Gross nur infolge des grob schuldhaften Verhaltens des Beklagten zur Schädigung der Kläger geführt hat. Hätte der Beklagte nicht durch sein unvorsichtiges Hinaustreten auf die Strasse den Kläger zum schadenbringenden Ausweichen in die Wiese veranlasst, so hätte die Betriebsgefahr des Autos sich überhaupt nicht ausgewirkt. Gegenüber diesem, den Kausalverlauf beherrschenden grob schuldhaften Verhalten des Beklagten tritt die vom Kläger gesetzte Betriebsgefahr derart zurück, dass sie nicht mehr als rechtserhebliche Unfallursache im Sinne der Lehre vom adäquaten Kausalzusammenhang betrachtet werden darf. Der an sich gegebene, ursächliche Zusammenhang zwischen Betriebsgefahr und Schaden erscheint durch das dazwischentretende grob schuldhafte Verhalten des Beklagten als derart gelockert, dass es sich rechtfertigt, eine "Unterbrechung" des Kausalzusammenhangs im Rechtssinne, mit zutreffenderen Worten Inadäquanz, also Fehlen eines rechtlich erheblichen Kausalzusammenhangs anzunehmen (OFTINGER, Haftpflichtrecht, 2. Aufl. I S. 95 f.). Danach fällt eine Kürzung des Ersatzanspruches der geschädigten Kläger mit Rücksicht auf die von ihnen zu vertretende Betriebsgefahr ausser Betracht.
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c) Die Richtigkeit dieser Lösung erhellt auch aus einer weiteren Überlegung: Hätte der Kläger Gross beim plötzlichen Auftauchen des Beklagten in seiner Fahrbahn wegen der Beschaffenheit des Geländes (z.B. wegen einer die Strasse seitlich begrenzenden Mauer oder eines Abhanges) nicht ausweichen können oder hätte er ein an sich mögliches Ausweichen wegen seiner Gefährlichkeit nicht gewagt, sondern sich darauf beschränkt, so stark als möglich zu bremsen, so hätte er mit grösster Wahrscheinlichkeit den Beklagten überfahren und verletzt oder getötet, ohne dass die Wageninsassen verletzt worden wären und der Wagen einen erheblichen Schaden erlitten hätte. Bei einem solchen Verlauf der Dinge wäre gemäss Art. 37 Abs. 2 MFG der Kläger Gross wegen des groben Verschuldens des geschädigten Fussgängers von jeder Haftung befreit gewesen; die auch dann als Ursache mitwirkende Betriebsgefahr des klägerischen Motorfahrzeuges wäre somit gemäss ausdrücklicher Gesetzesvorschrift ausser Betracht geblieben. Es wäre nun aber in hohem Masse unbillig, die Betriebsgefahr zu Lasten des Motorfahrzeughalters zu berücksichtigen, weil dieser, um den Beklagten vor dem Tod oder schwerer Körperverletzung zu bewahren, das für ihn selber äusserst gefährliche und tatsächlich zu seiner Schädigung führende Ausweichen in die Wiese wählte. Er darf nicht schlechter gestellt sein, als er es wäre, wenn er sich für die ihn weit weniger gefährdende, aber eine schwere Schädigung des Beklagten bewirkende Alternative entschieden hätte.
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d) Die Ablehnung einer Herabsetzung des Ersatzanspruchs der Kläger steht entgegen der Behauptung des Beklagten auch nicht etwa im Widerspruch zu der bisherigen Rechtsprechung und der Literatur.
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So glaubt der Beklagte zu Unrecht, aus den UrteilenBGE 64 II 436ff. undBGE 78 II 461ff. etwas zu seinen Gunsten ableiten zu können. Denn abgesehen davon, dass sich dort nicht ein Motorfahrzeughalter und ein Fussgänger, sondern zwei Motorfahrzeughalter gegenüberstanden, stellte die Betriebsgefahr bei beiden beteiligten Fahrzeugen eine rechtserhebliche Unfallursache dar, weshalb jeder Halter den selbst erlittenen Schaden nach Massgabe des auf sein Fahrzeug entfallenden Anteils an Kausalität an sich zu tragen hatte.
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Anderseits steht es mit der im vorliegenden Fall getroffenen Entscheidung im Einklang, wenn in den UrteilenBGE 68 II 116ff. und BGE 84 II 304 ff. die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des geschädigten Halters ausser Betracht gelassen wurde, weil sie gegenüber dem Verschulden des Halters des schädigenden Fahrzeugs nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte.
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Der Beklagte geht schliesslich auch fehl, wenn er glaubt, sich auf die Ausführungen bei OFTINGER, Haftpflichtrecht, 2. Aufl., I S. 288 berufen zu können, wonach ein schuldiger Radfahrer dem nicht schuldigen, allein geschädigten Automobilisten nicht für den vollen Schaden hafte, sondern jener wegen der von ihm gesetzten Betriebsgefahr einen Teil des Schadens selbst zu tragen habe. Dabei geht Oftinger aber selbstverständlich von der Voraussetzung aus, dass der Betriebsgefahr des Fahrzeugs des geschädigten Automobilisten gemäss den vorher, auf S. 95 f. seines Werks gemachten Ausführungen die Bedeutung einer rechtserheblichen Unfallursache zukomme.
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e) Auch nach dem deutschen Recht, das gleich wie das schweizerische auf dem Grundsatz der Kausalhaftung des Motorfahrzeughalters für den durch den Betrieb des Fahrzeugs verursachten Schaden beruht, hat gemäss Lehre und Rechtsprechung gegenüber einem Schädiger, der aus Verschulden haftet, der schuldlos geschädigte Halter für die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges nur einzustehen, wenn ihn eine Mitverantwortlichkeit am Schaden trifft in dem Sinne, dass die von ihm gesetzte Betriebsgefahr für den schadenbringenden Erfolg mitursächlich gewesen ist (vgl. MÜLLER, Strassenverkehrsrecht, 21. Aufl., zu § 9, S. 308, Abs. 1 und 2). Ebenso geht die neueste Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs dahin, dass der schuldlos geschädigte Halter keineswegs stets einen Teil des Schadens selbst tragen müsse, sondern dass es vielmehr der Billigkeit entsprechen könne, einem grob leichtfertig handelnden Schädiger gegenüber eine nicht erheblich ins Gewicht fallende Betriebsgefahr bei der Abwägung ausser Betracht zu lassen (BGH 20 S. 261 f.).
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