BGE 86 II 165 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
28. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Mai 1960 i.S. Produits Perfectone SA gegen Tchamkerten. | |
Regeste |
Art. 2 Abs. 2 ZGB. Es ist offenbar rechtsmissbräuchlich, wenn der Aktionär an der Klage auf Anfechtung eines Entlastungsbeschlusses der Generalversammlung festhält, obschon diese den Beschluss unter Zustimmung der Mitglieder der Verwaltung aufgehoben hat. | |
Sachverhalt | |
A.- Die Generalversammlung der Produits Perfectone SA in Biel beschloss am 31. Oktober 1958, dem Verwaltungsrate für das Geschäftsjahr 1957/58 Entlastung zu erteilen. Die vier Mitglieder des Verwaltungsrates stimmten im Sinne des Beschlusses. Der Aktionär Nerces Tchamkerten stimmte für sich und mit Vollmacht des Mitaktionärs Ara Tchamkerten gegen die Entlastung.
| 1 |
Auf Gesuch des Nerces Tchamkerten fand am 15. Dezember 1958 mit der Produits Perfectone SA ein gerichtlicher Aussöhnungsversuch statt über das Begehren, der Entlastungsbeschluss sei ungültig zu erklären. Am 23. Dezember 1958 schrieb Fürsprecher Dr. Kunz dem den Kläger vertretenden Fürsprecher Lifschitz, die Verwaltung anerkenne, dass der Beschluss mit Art. 695 OR nicht vereinbar und daher ungültig sei, und sie sei bereit, entweder dem Kläger in aller Form zu erklären, dass ihn der Beschluss nicht binde, oder eine ausserordentliche Generalversammlung einzuberufen, um diesen rückgängig zu machen. Da Fürsprecher Lifschitz antwortete, der Beschluss könne nur durch ein Urteil aus der Welt geschafft werden, vertrat Dr. Kunz mit Schreiben vom 7. Januar 1959 nochmals die Auffassung, eine Klage sei überflüssig. Er schrieb, "alle übrigen Aktionäre" seien bereit, den Beschluss durch eine ausserordentliche Generalversammlung widerrufen zu lassen. Trotzdem reichte Nerces Tchamkerten beim Appellationshof des Kantons Bern am 26. Januar 1959 die Klage ein.
| 2 |
Am 12. Februar 1959 fand eine ausserordentliche Generalversammlung statt, an der die vier Mitglieder der Verwaltung und als weiterer Aktionär Georges Bessire teilnahmen. Sie beschloss mit 617 von 620 Stimmen, den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 aufzuheben. Georges Bessire stimmte nicht zu. Die Beklagte beantragte dem Appellationshof in der Folge, die Klage als gegenstandslos und wegen Fehlens eines rechtlichen Interesses erledigt zu erklären.
| 3 |
Der Kläger focht den Beschluss vom 12. Februar 1959 beim Appellationshof des Kantons Bern als ungültig an, weil die Generalversammlung nicht in der richtigen Form einberufen worden sei. Dieser Prozess wurde vom Appellationshof bis zur rechtskräftigen Beurteilung der gegen den Entlastungsbeschluss gerichteten Klage eingestellt.
| 4 |
B.- Der Appellationshof des Kantons Bern hiess am 13. Oktober 1959 die Klage vom 26. Januar 1959 gut und erklärte den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 als ungültig.
| 5 |
C.- Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie beantragt dem Bundesgericht, die Klage als erledigt zu erklären, eventuell sie abzuweisen.
| 6 |
Der Kläger stellt den Antrag, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell die Berufungsbegehren abzuweisen.
| 7 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
8 | |
Dieses Recht steht ihm jedoch nur in der Schranke zu, die Art. 2 Abs. 2 ZGB allgemein der Ausübung von Rechten setzt. Die Klage ist nicht zu schützen, wenn sie offenbar missbräuchlich ist, weil der Kläger wegen der Stellungnahme der Beklagten in den Briefen des Dr. Kunz vom 23. Dezember 1958 und 7. Januar 1959 oder wegen des neuen Beschlusses der Generalversammlung vom 12. Februar 1959, wie die Beklagte geltend macht, jedes schutzwürdige Interesse an der Anfechtung des Entlastungsbeschlusses verloren hätte. Dem kann nicht, wie der Appellationshof ausführt, entgegengehalten werden, jeder Aktionär habe "ein allgemeines rechtliches Interesse daran, dass Beschlüsse in gesetz- und statutenmässiger Weise zustandekommen"; das Anfechtungsrecht sei ein wohlerworbenes, unentziehbares Recht und könne nicht dadurch zunichte gemacht werden, dass dem Kläger ein Interesse an seiner Geltendmachung abgesprochen werde; der Anspruch auf Gesetz- und Statutenmässigkeit sei an sich schutzwürdig. Gewiss zählt Art. 646 Abs. 3 OR das Recht zur Anfechtung ausdrücklich zu den "wohlerworbenen Rechten", d.h. zu denen, die gemäss Art. 646 Abs. 1 den Aktionären nicht ohne ihre Zustimmung entzogen werden können. Das bedeutet aber nur, dass es "von den Beschlüssen der Generalversammlung und der Verwaltung unabhängig ist" (Art. 646 Abs. 2), also den Aktionären nicht durch die Generalversammlung oder die Verwaltung entzogen werden kann. Dass der Richter ihm den Rechtsschutz nicht versagen dürfe, ja müsse, wenn der Aktionär kein schützenswertes Interesse an seiner Ausübung hat, sondern es offenbar missbraucht, ist damit nicht gesagt.
| 9 |
10 | |
Dennoch beseitigte das Schreiben vom 23. Dezember 1958 das Interesse des Klägers an der Anfechtung des Entlastungsbeschlusses nicht vollständig. Der Verzicht, diesen anzurufen, wurde nur gegenüber dem Kläger ausgesprochen. Im Verhältnis zur Gesellschaft, die allenfalls gemäss Art. 754 OR eine Verantwortlichkeitsklage könnte anheben wollen, bleiben die Mitglieder der Verwaltung entlastet. Dass der Gesellschaft die Verantwortlichkeitsklage erhalten bleibe, lag auch im Interesse des Klägers, mag dieses auch nur klein gewesen sein. Es wurde auch nicht durch die Erklärung des Dr. Kunz vom 7. Januar 1959 beseitigt, wonach alle Mitaktionäre des Klägers bereit seien, den Entlastungsbeschluss in einer ausserordentlichen Generalversammlung rückgängig zu machen. Solange diese nicht stattgefunden hatte, blieb die Möglichkeit offen, dass das nicht geschehe.
| 11 |
12 | |
Die Gesellschaft kann - wie der Kläger - Verantwortlichkeitsprozesse gegen die Mitglieder der Verwaltung anheben, ohne die Einwendung hören zu müssen, sie seien entlastet worden. Damit ist jedes Interesse des Klägers, den Prozess um die Ungültigerklärung des Entlastungsbeschlusses weiterzuführen, dahingefallen. Das Festhalten an der vorliegenden Klage kann nur noch den Zweck haben, den Prozess um des Prozessierens willen fortzuführen. Das ist offenbarer Missbrauch eines Rechtes und verdient keinen Schutz (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Es kommt nichts darauf an, ob die Generalversammlung vom 12. Februar 1959 in der vorgeschriebenen Form einberufen wurde. Die Haltung, welche die Mitglieder der Verwaltung an dieser Versammlung gegenüber der Gesellschaft und den Mitaktionären einnahmen, bleibt auf jeden Fall bestehen.
| 13 |
Übrigens missbraucht der Kläger auch durch die Anfechtung des Beschlusses vom 12. Februar 1959 klar das Recht. Da der Kläger den Entlastungsbeschluss vom 31. Oktober 1958 als ungültig ausgibt und darum einen Prozess führt, widerspricht es Treu und Glauben, den Aufhebungsbeschluss, durch den die Mitglieder der Verwaltung und die Beklagte sich ihm in allen Teilen unterzogen, ebenfalls als ungültig anzufechten. Der Einwand, Georges Bessire habe dem Beschluss vom 12. Februar 1959 nicht zugestimmt, taugt nicht. Es steht nicht dem Kläger zu, die Interessen dieses Aktionärs zu wahren, abgesehen davon, dass man sich fragen kann, ob Georges Bessire an der Entlastung der Verwaltung überhaupt interessiert sei.
| 14 |
15 | |
16 | |
17 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |