BGE 95 II 514 | |||
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69. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Oktober 1969 i.S. Vormundschaftsbehörde Höri gegen Direktion der Justiz des Kantons Zürich. | |
Regeste |
Art. 23 und 376 Abs. 1 ZGB. | |
Sachverhalt | |
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Die im Jahre 1904 geborene, ledige X. liess sich am 15. Mai 1951 in Pfäffikon ZH nieder. Am 1. September 1952 wurde sie wegen geistiger Erkrankung in die psychiatrische Klinik Burghölzli eingewiesen. Die kantonale Familienpflege brachte sie dann am 2. November 1953 in einem Erholungsheim in Feldbach und am 27. Februar 1954 in einem Altersheim in Bubikon unter. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Klinik Burghölzli wurde X. von der Familienpflege am 9. November 1956 zu einer Familie in Höri verbracht. Sie blieb daselbst bis zum August 1963. Dann wurde X. erneut in die Klinik Burghölzli und schliesslich am 5. März 1964 in eine private Heil- und Pflegeanstalt in Egg aufgenommen, wo sie sich heute noch befindet.
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Mit Beschluss vom 21. Oktober 1966 leitete die Vormundschaftsbehörde Pfäffikon gegenüber X. ein Entmündigungsverfahren ein, entzog ihr gemäss Art. 386 ZGB die Handlungsfähigkeit und ernannte für sie einen vorläufigen Vertreter. Im beigezogenen psychiatrischen Gutachten wurden die Entmündigung von X. auf Grund von Art. 369 ZGB und ihre dauernde Unterbringung in einer Heilanstalt empfohlen.
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Da die Vormundschaftsbehörde Höri die Anordnung vormundschaftlicher Massnahmen mangels Zuständigkeit abgelehnt hatte, beschwerte sich die Vormundschaftsbehörde Pfäffikon beim Bezirksrat Bülach, der die Behörde von Höri mit Beschluss vom 11. Juli 1968 anwies, das Entmündigungsverfahren gegenüber X. durchzuführen. Die Vormundschaftsbehörde Höri focht diesen Beschluss bei der Direktion der Justiz des Kantons Zürich mit einer Aufsichtsbeschwerde an, wurde jedoch mit Entscheid vom 30. Januar 1969 abgewiesen. Hiegegen erhebt sie Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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24 Abs. 1 ZGB bis zum Erwerb eines neuen Wohnsitzes bestehen. Sicher ist, dass X. vom 15. Mai 1951 an in Pfäffikon Wohnsitz hatte, der dem Gesagten zufolge trotz ihrer Einweisung in die Klinik Burghölzli bis zu ihrer Entlassung am 2. November 1953 bestehen blieb. Zu prüfen ist dagegen, ob sie seit dieser Entlassung bis zum August 1963 einen neuen Wohnsitz begründet hat, weil sie während dieser Zeitspanne - abgesehen von einem kurzfristigen Aufenthalt in der Klinik Burghölzli im Jahre 1956 - zuerst in einem Erholungs-, dann in einem Altersheim und zuletzt bei einer Familie untergebracht war.
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a) Das Bundesgericht hatte sich verschiedentlich mit der Frage zu befassen, ob die Unterbringung eines fürsorge- oder pflegebedürftigen Mündels bei Privaten unter Art. 26 ZGB bezw., vor Inkrafttreten des ZGB, unter Art. 3 Abs. 2 NAG falle oder ob sie einen Wechsel des Wohnsitzes bedeute, was zur Folge hätte, dass die Vormundschaft auf die Behörden des neuen Wohnsitzes übergehen würde (vgl. Art. 377 Abs. 2 ZGB). Diese Frage wurde stets in dem Sinne entschieden, dass ein Wechsel des Wohnsitzes stattfinde, wenn im übrigen die folgenden drei Voraussetzungen gegeben sind. Die Vormundschaftsbehörde muss der Verlegung - ausdrücklich oder stillschweigend - zugestimmt haben (Art. 377 Abs. 1 ZGB). Das Mündel muss sich in einer Familie oder bei einer alleinstehenden Person unter Umständen aufhalten, die auf dauerndes Verbleiben hinweisen und den betreffenden Ort als neuen Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse erscheinen lassen. Auf seine Urteilsfähigkeit kommt es dabei nicht an (BGE 78 I 223). Ferner muss die Versorgung sachlich gerechtfertigt sein und darf den Interessen des Mündels nicht zuwiderlaufen; sie ist missbräuchlich und daher unbeachtlich, wenn sie ausschliesslich oder vorwiegend deshalb angeordnet wird, weil die betreffende Gemeinde eine aus finanziellen oder andern Gründen lästige Vormundschaft abschieben möchte (BGE 21 S. 29, BGE 34 I 733, BGE 36 I 72, BGE 56 I 180, BGE 71 I 159 ff. und BGE 78 I 222 ff.; Urteil des Bundesgerichts vom 21. November 1951 i.S. Waisenamt Winterthur c. Waisenbehörde Buchberg in Zeitschrift für Vormundschaftswesen 1952 S. 144). In der Lehre wurde dieser Rechtsprechung beigepflichtet (EGGER, Kommentar, 2. Aufl., N. 5, und KAUFMANN, Kommentar, 2. Aufl., N. 7a, 8a und 9 zu Art. 377 ZGB).
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b) Ob diese Grundsätze auch für Personen gelten, die nicht unter Vormundschaft stehen, oder ob in diesem Fall die Versorgung an einem privaten Pflegeplatz der Unterbringung in einer Anstalt gleichzusetzen sei, ist bisher vom Bundesgericht nicht entschieden worden und ist in der Lehre umstritten. HAFTER, Kommentar, N. 5 zu Art. 26 ZGB, verneint, dass die Unterbringung bei Privaten zu Versorgungs- und Heilzwecken etc. Wohnsitz begründen könne, weil die freie Wahl des Aufenthaltes fehle. Der gegenteiligen Meinung war EGGER in der ersten Auflage (1911) seines Kommentars, N. 2 zu Art. 26 ZGB. In der zweiten Auflage (1930) findet sich keine Stellungnahme mehr, dagegen vertritt er in der zweiten Auflage (1948) seines Kommentars zum Vormundschaftsrecht, N. 16 zu Art. 376 ZGB, die Ansicht, der Unterbringung bei Privaten komme keine wohnsitzbegründende Bedeutung zu. Im übrigen Schrifttum herrscht eher die gegenteilige Auffassung vor. So schreibt BADER, Kommentar zum NAG (1908), S. 17 N. 2d, die Familienpflege sei nicht der Anstaltseinweisung gleichzusetzen. Dieser Meinung ist auch HOLENSTEIN, Der privatrechtliche Wohnsitz im schweizerischen Recht, Berner Diss. 1920, S. 87, der darauf hinweist, dass der ursprüngliche Zweck von Art. 26 ZGB vormundschaftsrechtlicher Natur war, wie aus seiner Entstehungsgeschichte zu erkennen sei. Mit dieser Vorschrift wolle vermieden werden, dass bei der Frage der Unterbringung eines Mündels andere Motive als seine Interessen mitsprächen. Es handle sich um eine Ausnahme von der Regel des Art. 23 ZGB, die strikte auszulegen und demzufolge auf die Versorgung von Personen bei Privaten nicht anzuwenden sei.
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c) In der Literatur werden keine stichhaltigen Gründe dafür angeführt, dass die Frage der Wohnsitzbegründung verschieden zu beantworten wäre, je nachdem es sich um eine bevormundete oder um eine Person eigenen Rechts handelt, die bei Privaten untergebracht wird. Es ist denn auch nicht einzusehen, weshalb hier differenziert werden sollte. Insbesondere verlangt der Umstand, dass gemäss Art. 377 ZGB der Wechsel des Wohnsitzes bevormundeter Personen der Zustimmung der Vormundschaftsbehörde bedarf, nicht eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle. Die Vorschrift des Art. 377 ZGB ist eine Folge der Bevormundung und als solche eine weitere Voraussetzung, die zu den übrigen vom Gesetz (Art. 23 ff. ZGB) für die Wohnsitzbegründung aufgestellten Erfordernissen hinzutritt. Die Zustimmung der Vormundschaftsbehörde ersetzt daher die übrigen Voraussetzungen nicht. So könnte sie z.B. bei der Einweisung einer bevormundeten Person in eine Anstalt keine Verlegung des Wohnsitzes zur Folge haben, da das Gesetz der Anstaltseinweisung schlechthin jede wohnsitzbegründende Wirkung versagt.
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Nach dem Ausgeführten rechtfertigt es sich, die in Erwägung 3 lit. a erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichtes über die Unterbringung eines fürsorge- oder pflegebedürftigen Mündels bei Privaten auch auf Personen anzuwenden, die nicht bevormundet sind und aus irgend einem Grunde bei Privaten in Pflege gegeben werden. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Versetzung zwangsweise von einer Behörde oder im Einverständnis des Pfleglings von privaten oder öffentlichen Organisationen durchgeführt wird.
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Ob X. in den Jahren 1953 bis 1956 in Feldbach oder in Bubikon, als sie daselbst in Heimen untergebracht war, Wohnsitz erworben hatte, kann dahingestellt bleiben. Sie hielt sich freilich während ungefähr zweieinhalb Jahren in einem Altersheim in Bubikon auf und hatte sich um diesen Platz zum Teil sogar selber bemüht. Doch ist dieser Umstand hier nicht von Bedeutung; denn nach den Kriterien, die das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung über den Wohnsitzerwerb Bevormundeter, die bei Privaten in Pflege gegeben werden, herausgearbeitet hat, erwarb X. später in der Gemeinde Höri Wohnsitz. Sie hielt sich ohne Unterbrechung fast sieben Jahre lang bei der gleichen Familie in Höri auf. Dieser Ort bildete somit für lange Zeit den neuen Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse und war zudem mit ihrem Einverständnis als solcher gewählt worden. Irgend ein unzulässiger Zweck wurde mit dieser Familienpflege nicht verfolgt. Da sich X. seit August 1963 ständig in Anstalten aufhält und damit nach Art. 26 ZGB keinen neuen Wohnsitz begründen konnte, blieb gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB der Wohnsitz in Höri bestehen. Die Justizdirektion des Kantons Zürich hat demzufolge die Vormundschaftsbehörde dieser Gemeinde mit Recht als zuständig erachtet, das Entmündigungsverfahren durchzuführen.
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Es nützt der Beschwerdeführerin auch nichts, wenn sie sich darauf beruft, dieses Verfahren hätte schon bei der Erkrankung der X., als sie noch in Pfäffikon Wohnsitz hatte, angestrengt werden sollen. Das mag an sich zutreffen, hindert aber nicht, dass heute auf die Sachlage zur Zeit der Anhebung des Entmündigungsverfahrens abgestellt werden muss, wie in Erwägung 3 Absatz 1 dargetan wurde. Die Gemeinde Höri hätte zudem die Vormundschaft, wenn sie noch während der Zeit, in welcher X. in Pfäffikon wohnte, angeordnet worden wäre, später doch auf Grund von Art. 377 ZGB übernehmen müssen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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