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16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. September 1970 i.S. S. gegen H. | |
Regeste |
Rechtsmittelbelehrung; Frist für die Berufung an das Bundesgericht. Der in Art. 107 Abs. 3 OG für das Gebiet der Verwaltungsrechtspflege aufgestellte Grundsatz, dass den Parteien aus einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen dürfen, gilt allgemein. Der Berufungskläger darf sich auf eine ihm vom obern kantonalen Gericht erteilte Belehrung über die Dauer der Berufungsfrist (Art. 54 OG) verlassen, es sei denn, dass ihre Unrichtigkeit ihm bekannt oder für ihn ohne weiteres klar erkennbar war. Fall, dass das obere kantonale Gericht die Frist für die Berufung gegen ein vor dem 1. Oktober 1969 gefälltes Urteil mit 30 Tagen statt gemäss Ziff. III Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG mit 20 Tagen angegeben hat (Erw. 1). |
1. Im Scheidungsverfahren gilt für die Kinderzuteilung die Offizialmaxime (Erw. 2). |
2. Voraussetzungen, unter denen bei der Ehescheidung die elterliche Gewalt beiden Ehegatten entzogen werden darf (Zusammenfassung der Rechtsprechung; Erw. 3). |
3. Wann ist ein Ehegatte im Sinne von Art. 285 ZGB nicht imstande, die elterliche Gewalt auszuüben? Die elterliche Gewalt darf nicht entzogen werden, wenn Massnahmen nach Art. 283/284 ZGB ausreichen (Erw. 4). | |
Sachverhalt | |
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b) Dem Beklagten sei zwar vom Informationsdienst der Vormundschaftsbehörde eine gewisse erzieherische Begabung nicht abgesprochen worden. Abgesehen von seiner schweren körperlichen Behinderung (der Beklagte ist seit seiner Geburt an beiden Beinen gelähmt und kann nur mit zwei Oberschenkelstützen und zwei Stöcken gehen) erwähne der Informationsdienst aber als wesentliches Hindernis für eine Zuteilung der Kinder an ihn vor allem seine labile, unbeherrschte und oft uneinsichtige Art. Seine ausgeprägte Ichbezogenheit und Unbeherrschtheit, wie das psychiatrische Gutachten sie darlege, sprächen entscheidend gegen eine solche Zuteilung. Diese Charaktermängel hätten das Familienleben während Jahren überschattet. Solche Eigenschaften seien eine schlechte Grundlage für die Pflege und Erziehung von Kindern, die in seelischer und geistiger Beziehung einer besonders geduldigen und einfühlenden Betreuung bedürften. Auch der Beklagte sei deshalb im Sinne von Art. 285 ZGB nicht imstande, die elterliche Gewalt auszuüben.
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B.- Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht eingereicht mit dem Antrag, es sei hinsichtlich der Kinderzuteilung aufzuheben und die vier Kinder seien ihm zur Pflege und Auferziehung zuzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, auf die Berufung sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.
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Das Bundesgericht schützt die Berufung, spricht die vier Kinder dem Beklagten zu und ersucht die Vormundschaftsbehörde, die Aufsicht auszuüben und gegebenenfalls Massnahmen nach Art. 283 und 284 ZGB anzuordnen.
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Erwägungen: | |
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Innerhalb der in dieser Rechtsmittelbelehrung genannten Frist, am 23. Februar 1970, übergab der Anwalt des Beklagten die Berufungsschrift der Post.
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Die Berufung gegen einen vor dem 1. Oktober 1969 gefällten Entscheid ist gemäss Ziff. III Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG binnen 20 Tagen vom Eingang der schriftlichen Mitteilung des Entscheides an einzulegen, auch wenn im Zeitpunkt dieser Mitteilung das gemäss dem erwähnten Bundesgesetz revidierte OG mit einer Berufungsfrist von 30 Tagen (Art. 54 rev. OG) bereits in Kraft stand (Entscheid des Bundesgerichtes vom 30. Dezember 1969 i.S. Putzi c. Wilhelm und Mathis, BGE 95 II 379). Die Berufung des Beklagten ist also an sich verspätet eingereicht worden.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts darf jedoch einem Rechtsuchenden, der sich auf eine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat und verlassen durfte, daraus kein Nachteil erwachsen (BGE 78 I 297mit Verweisungen). Dieser Grundsatz ist übrigens in Art. 107 Abs. 3 rev. OG im Hinblick auf die in Art. 35 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung auf dem Gebiete der Verwaltungsrechtspflege gesetzlich verankert worden. Er hat darüber hinaus auf dem gesamten Gebiet der Rechtspflege zu gelten, auch in Fällen, in denen eine Rechtsmittelbelehrung vom Bundesrecht nicht vorgeschrieben ist, aber von der Behörde, die den Entscheid erlassen hat, sei es freiwillig, sei es kraft kantonalen Rechts, erteilt worden ist.
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Aufeine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung darf sich die Partei, an welche die Belehrung sich richtet, nur dann nicht verlassen, wenn sie die Voraussetzungen des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich kannte, so dass sie durch die falsche Belehrung nicht irregeführt werden konnte, oder wenn die Unrichtigkeit der Belehrung für sie ohne weiteres klar erkennbar war. Das trifft im vorliegenden Falle nicht zu. Zwar war das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 auf den 1. Oktober 1969 in Kraft gesetzt ![]() | 12 |
2. Aus Art. 156 Abs. 1 ZGB ergibt sich, dass im Scheidungsverfahren für die Kinderzuteilung und die damit unmittelbar zusammenhängenden Fragen unbeschränkt die Offizialmaxime gilt (BGE 40 II 315, BGE 82 II 471, BGE 85 II 231; BÜHLER, Das Ehescheidungsverfahren, ZSR 1955 S. 405 a und 415 a; HINDERLING, Das Schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl. 1967, S. 165). Solange daher die Kinderzuteilung nicht rechtskräftig beurteilt worden ist, haben auch die Rechtsmittelinstanzen von Amtes wegen die nötigen Anordnungen zu treffen, ohne an Anträge ![]() | 13 |
Nun hat aber die Klägerin, der die Kinder im erstinstanzlichen Urteil zugeteilt worden waren und die die elterliche Gewalt aufgrund vorsorglicher Massregeln auch während des ganzen Scheidungsverfahrens ausgeübt hatte, keine Berufung gegen den Entscheid des Kantonsgerichts eingereicht. Sie hat in der Berufungsantwort wohl beantragt, die Berufung des Beklagten abzuweisen, aber in keiner Weise darzutun versucht, dass die ihr gegenüber bestehenden, von der Vorinstanz dargelegten Entzugsgründe nicht zutreffen und dass sie - falls eine Zuteilung der Kinder an den einen oder andern Elternteil in Frage käme - die Kinder besser betreuen würde als der Beklagte. Die Tatsachen, welche die Vorinstanz zulasten der Klägerin aufgeführt hat, rechtfertigen denn auch den ihr gegenüber ausgesprochenen Entzug der elterlichen Gewalt. Daher fragt sich nur noch, ob es dabei bleiben soll, dass die elterliche Gewalt auch dem Beklagten entzogen wird, oder ob die Kinder ihm zugeteilt werden können.
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3. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts darf bei der Gestaltung der Elternrechte im Sinne des Art. 156 ZGB nur dann beiden Ehegatten die elterliche Gewalt entzogen werden, wenn gegenüber beiden die Voraussetzungen des Art. 285 ZGB gegeben sind (BGE 38 II 454E. 5,BGE 40 II 444E. 4,BGE 53 II 191/92,BGE 62 II 203, BGE 82 II 474 E. 3; nicht veröffentlichte Urteile vom 4. Oktober 1962 i.S. Wächter c. Senn, vom 19. Oktober 1962 i.S. Bonfils c. Pesse, vom 13. November 1964 i.S. Aebi c. Roulin, vom 16. März 1967 i.S. Eheleute Lambrigger; HINDERLING, a.a.O., S. 152). Eine gewisse Einschränkung hat dieser Grundsatz nur insofern erfahren, als bei geschiedener Ehe an die Fähigkeit zur Ausübung der elterlichen Gewalt höhere Anforderungen zu stellen sind, als wenn die Ehe noch ![]() | 15 |
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Abgesehen von objektiven Hinderungsgründen (wie schwerer Krankheit oder längerer Abwesenheit) ist ein Elternteil im Sinne ![]() | 17 |
a) Die schwere Invalidität des Beklagten bildet an sich keinen Grund, ihm die elterliche Gewalt zu entziehen. Gewiss kann sie bewirken, dass er nicht imstande ist, die Kinder in Obhut zu nehmen und mit ihnen einen gemeinsamen Haushalt zu führen, solange wenigstens, als er nicht eine geeignete Haushälterin findet oder mit einer für diese Aufgabe geeigneten Frau eine zweite Ehe schliesst. Die Ausübung der elterlichen Gewalt umfasst jedoch nicht nur gerade die unmittelbare Sorge für das leibliche Wohl der Kinder, sondern beschlägt auch ihre Erziehung, Bildung, Entwicklung und allfällige Unterbringung in geeignete Pflegeplätze. Der Umstand, dass ein Ehegatte nicht imstande ist, die Kinder persönlich zu betreuen, fällt deshalb beim Entscheid über die Elternrechte in der Regel nur dann ins Gewicht, wenn der andere, gegen den keine Entziehungsgründe bestehen, dazu in der Lage ist (BGE 65 II 129ff.; nicht veröffentlichter Entscheid vom 3. Februar 1966 i.S. Eheleute Hirrlinger). Im vorliegenden Fall hat der Beklagte nach den Feststellungen der Vorinstanz übrigens... eine Hilfe gefunden, die ihm seit 15. Februar 1969 den Haushalt führt und ihn auch persönlich betreut.
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b) Die Vorinstanz glaubt jedoch, dem Beklagten die Fähigkeiten zur Kindererziehung wegen seines Charakters absprechen zu müssen. Sie stützt sich dabei im wesentlichen auf das psychiatrische Gutachten vom 6. Dezember 1967, das die erste Instanz eingeholt hat. Dieses Gutachten hatte sich indessen gemäss der richterlichen Fragestellung nur zur ehelichen Situation und dazu zu äussern, ob vom ärztlich-psychologischen Standpunkt aus die Scheidung zu empfehlen sei. Der Sachverständige befasste sich überhaupt nicht mit den erzieherischen Fähigkeiten der Parteien. Hinsichtlich des Beklagten geht aus dem Gutachten nur hervor, dass er sich im Verhältnis zur Klägerin ausgesprochen ichbezogen und unbeherrscht zeigte. Es gelang ihm im Umgang mit ihr nicht, "distanziert und gelassen, schonungsvoll und tolerant zu sein, wo seine persönlichen ![]() | 19 |
Auch im angefochtenen Urteil finden sich keine tatbeständlichen Feststellungen über das Verhalten des Beklagten als Vater, aus denen geschlossen werden könnte, er sei nicht imstande, die Kinder zu erziehen.
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In der Berufungsantwort wird freilich auf einen Bericht der Vormundschaftsbehörde vom 6. Mai 1968 verwiesen, nach welchem eine Zuteilung der Kinder an den Beklagten nicht in Frage komme. Die betreffende Stelle lautet indessen folgendermassen:
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"Der Beklagte kämpft auch um seine Kinder und möchte, dass diese ihm zugesprochen werden. Trotzdem wir überzeugt sind, dass er über die bessern Erzieherqualitäten verfügt, kommt im jetzigen Moment eine Zusprechung der Kinder an ihn nicht in Frage. Der Beklagte kann uns im gegenwärtigen Zeitpunkt keine annehmbare Lösung vorschlagen, es sei denn, dass er die Kinder im Kinderheim R. unterbringen würde. Die Aussichten, im jetzigen Moment Kinder dort zu plazieren, sind nicht schlecht. Der Beklagte scheint berechtigte Hoffnungen zu haben, für einen spätern Zeitpunkt eine tüchtige Haushälterin zu bekommen, z. Zt. ist diese aber nicht abkömmlich."
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Nicht nur spricht dieser Bericht dem Beklagten keineswegs die Fähigkeiten zur Kindererziehung ab, sondern er lässt sogar durchblicken, dass ihm die Kinder zugewiesen werden könnten, wenn er eine tüchtige Haushälterin hätte. Deren Fehlen und damit die Unmöglichkeit, die Kinder im Haushalt des Vaters unterzubringen, bildet jedoch keinen Grund zum Entzug der elterlichen Gewalt.
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c) Es mag sein, dass der Beklagte - zum Teil infolge seiner schweren Behinderung - Charaktereigenschaften aufweist, die ihn nicht zum idealen Erzieher machen. Er hat sich aber immerhin trotz seiner Invalidität eine selbständige Stellung in seinem ![]() | 24 |
d) Verhalten sich die Eltern pflichtwidrig oder ist ein Kind in seinem leiblichen oder geistigen Wohl dauernd gefährdet oder sogar verwahrlost, dann haben die Vormundschaftsbehörden vorerst die in den Art. 283 und 284 ZGB vorgesehenen Massnahmen zu treffen, sofern sie voraussichtlich genügenden Schutz bieten. Erst wenn zum vornherein feststeht, dass solche mildere Massnahmen nicht ausreichen, ist sogleich der Gewaltentzug auszusprechen (vgl. BGE 90 II 474 mit Hinweisen; ferner nicht veröffentlichte Entscheide vom 1. Oktober 1964 i.S. Hügli c. Vormundschaftsbehörde Laufen, vom 13. November 1964 i.S. Aebi c. Roulin, vom 16. März 1967 i.S. Eheleute Lambrigger und vom 21. November 1969 i.S. Ducry c. Justice de Paix du Cercle de Dompierre). Ein vorsorglicher Gewaltentzug ohne konkrete Anhaltspunkte für ein mit Sicherheit oder grosser Wahrscheinlichkeit zu erwartendes Versagen ist nicht zulässig (nicht veröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 21. Februar 1963 i.S. Müller c. Roos).
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Nach alledem lässt sich nicht sagen, der Beklagte sei ausserstande, die elterliche Gewalt auszuüben. Die Kinder sind deshalb ihm zuzuteilen. Da er ihnen möglicherweise gegenwärtig oder in Zukunft kein Heim bieten kann, sondern gezwungen sein wird, sie in Pflegeplätzen oder Heimen unterzubringen, ist die Mitwirkung der Vormundschaftsbehörde angezeigt. Dieser ist in Anbetracht der Invalidität des Beklagten und der Tatsache, dass seine Lage hinsichtlich der Haushaltführung und einer allfälligen Wiederverheiratung ungeklärt ist, eine allgemeine Aufsichtspflicht zu überbinden.
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