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48. Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. September 1970 i.S. X. gegen Vormundschaftsbehörde Y. | |
Regeste |
Vormundschaftliche Massnahmen für einen Geisteskranken, dessen Krankheit schubweise verläuft. Entmündigung nach Art. 369 ZGB oder Errichtung einer Beiratschaft nach Art. 395 ZGB? Persönliche Fürsorge kann nicht nur dem Vormund (Art. 406 ZGB), sondern auch dem Beirat obliegen (Änderung der Rechtsprechung). Von der Entmündigung ist abzusehen, wenn die Errichtung einer Beiratschaft der in Frage stehenden Person genügenden Schutz bietet. Gründe für die Annahme, dass diese letzte Massnahme notwendig ist und ausreicht. | |
Sachverhalt | |
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A.- Frau X. leidet seit mehr als 20 Jahren an einer paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie, die schubweise verläuft. Sie war deswegen seit 1958 sechsmal in psychiatrischen Kliniken untergebracht. Die einzelnen Schübe führten verhältnismässig ![]() | 2 |
B.- Frau X. lebte früher im elterlichen Hause und wurde zu Lebzeiten der Eltern von diesen, später von ihrem Bruder betreut. Dieser verwaltete auch den grössten Teil ihres Vermögens, das sich seit 1964 (u.a. wegen der Kosten der Klinikaufenthalte) von Fr. 50'000.-- auf etwa Fr. 27'000.-- verminderte. Im Hinblick auf die Fürsorge der Angehörigen sah die Vormundschaftsbehörde bis Ende 1968 von der Anordnung vormundschaftlicher Massnahmen ab, obwohl die Ärzte des Krankenhauses S. in ihrem Gutachten vom 7. Oktober 1966 die Bestellung eines Vormundes als notwendig bezeichnet hatten. Da diese Ärzte in einem Ergänzungsbericht vom 19. Dezember 1968 unter Hinweis auf eine Lockerung der Familienbeziehungen, die Frau X. bisher einen Halt geboten hatten, von neuem vormundschaftliche Massnahmen befürworteten, leitete die Vormundschaftsbehörde gegen Frau X. am 10. Januar 1969 das Verfahren auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit ein. Die kantonalen Gerichte schützten das Entmündigungsbegehren in Anwendung von Art. 369 ZGB.
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D.- Gegen das Urteil des obern kantonalen Gerichts hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Sie verlangt ![]() | 4 |
Das Bundesgericht heisst die Berufung in dem Sinne teilweise gut, dass es die Vormundschaft durch eine Mitwirkungs- und Verwaltungsbeiratschaft im Sinne von Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB ersetzt.
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Erwägungen: | |
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a) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die sich auf die von der Vormundschaftsbehörde gemäss Art. 374 Abs. 2 ZGB eingeholten Gutachten stützen und gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich sind, leidet die Beklagte seit langem an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Dabei handelt es sich unzweifelhaft um eine Geisteskrankheit im Sinne von Art. 369 ZGB. Die Tatsache, dass sich die Beklagte seit Januar 1969 in einem Zustand weitgehender Remission befindet, erlaubt es nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht, die Geisteskrankheit als behoben zu betrachten. Dass der Krankheitszustand latent fortbesteht, wird dadurch bestätigt, dass Dr. Z., der sie gegenwärtig behandelt, eine periodische Kontrolle und die regelmässige Verabreichung von Medikamenten als angezeigt erachtet. Wenn Dr. Z. in seinem Privatgutachten vom 18. Mai 1969 der Entmündigung der Beklagten entgegentrat, so im wesentlichen nur deshalb, weil er verneinte, dass die bestehende Geisteskrankheit die Wirkungen habe, die Art. 369 ZGB als Voraussetzungen der Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche nennt.
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b) Während eines Krankheitsschubes ist die Beklagte zweifellos ausserstande, ihre Angelegenheiten zu besorgen. Sie neigt dann zu Handlungen, die ihre Person und ihr Vermögen ernstlich in Gefahr bringen, und bedarf deshalb in solchen Perioden zu ihrem Schutze des Beistandes und der Fürsorge. Zwischen den einzelnen Schüben ist sie dagegen - wie man in solchen ![]() | 8 |
c) Dass die Vorinstanz ernstlich mit neuen Krankheitsschüben und mit einer daherigen Gefährdung der Beklagten rechnet, ist angesichts ihrer Feststellungen über die Natur und den bisherigen Verlauf der bestehenden Geisteskrankheit sowie über das Verhalten der Beklagten bei frühern Krankheitsanfällen nicht zu beanstanden. Der Vorinstanz ist auch darin beizustimmen, dass die ernsthafte Möglichkeit neuer Krankheitsschübe jedenfalls seit dem Wegfall der Betreuung der Beklagten durch Angehörige schon in Zeiten der Remission vormundschaftliche Massnahmen fordert, m.a.W. dass die Beklagte in einem gewissen Masse dauernd eines vormundschaftlichen Schutzes bedarf, weil ein neuer Schub bei ihr erfahrungsgemäss so unvermittelt auftreten kann, dass Schutzmassnahmen, die erst auf Grund von Anzeichen für einen solchen Schub angeordnet würden, zu spät kämen. Massnahmen zum Schutze des Vermögens genügen dabei nicht, sondern die Beklagte bedarf schon in Zeiten der Remission auch einer gewissen persönlichen Betreuung, damit ihr Zustand und ihr Verhalten verfolgt werden können und beim Auftreten von Störungen jemand da ist, der die in diesem Falle nötigen Massnahmen zum Schutz ihrer Person veranlassen kann.
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In der Tat ist klar, dass die Beiratschaft in erster Linie den Schutz der wirtschaftlichen Interessen des Verbeirateten bezweckt. Das ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 395 ZGB, der auf den bei der parlamentarischen Beratung von Nationalrat Thélin gestellten Antrag zurückgeht, die im französischen Code civil vorgesehene und von mehrern Kantonen der romanischen Schweiz übernommene, gewissen deutschschweizerischen Formen der Beistandschaft gleichende Einrichtung des "conseil juridique" in das ZGB einzuführen (vgl. hiezu Sten.Bull. 1905 S. 1251, 1259, 1262 f., 1417 ff.; 1906 S. 54 f., 56/57, 72, 74; 1907, NR, S. 284 ff.; EGGER, 2. Aufl., N. 2-4 zu Art. 395 ZGB). Die Einrichtung der Beiratschaft soll es ermöglichen, der schutzbedürftigen Person die Handlungsfähigkeit ausserhalb des in Art. 395 ZGB umschriebenen Bereiches zu belassen, wenn sich eine Beschränkung derselben nur in diesem Bereich als notwendig erweist. Die Verbeiratung schränkt also die Handlungsfähigkeit des Verbeirateten in persönlicher Beziehung nicht ein, sondern dieser kann sein persönliches Leben frei gestalten. Der Beirat ist unter Vorbehalt der Geschäfte der Vermögensverwaltung, die er im Falle der Verwaltungsbeiratschaft anstelle des Verbeirateten zu besorgen hat (BGE 80 II 17 /18), nicht dessen gesetzlicher Vertreter und kann dem Verbeirateten keine Weisungen erteilen und auf ihn keinerlei Zwang ausüben. Er ist im Unterscheid zum Vormund (Art. 406 ZGB) insbesondere nicht befugt, den Schutzbefohlenen mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde ![]() | 11 |
Hieraus folgt aber entgegen der vom Bundesgericht bisher vertretenen Auffassung nicht, dass die Beiratschaft überhaupt keine persönliche Fürsorge gewähren könne. Solche Fürsorge ist auch gegenüber Personen möglich, die im persönlichen Bereich in ihrer Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt sind. Auch ein vormundschaftliches Organ, dem keine Zwangsmittel zu Gebote stehen, kann den Schutzbefohlenen wenigstens dann, wenn dieser sich nicht von vornherein ablehnend verhält, in einem gewissen Masse persönlich betreuen, indem es sich um sein Wohlergehen kümmert, ihn nötigenfalls berät oder ermahnt und auf allfällige Anzeichen einer ungünstigen Entwicklung achtet, die weitere Massnahmen nötig machen könnten. Auf die Möglichkeit einer solchen Betreuung hat schon GUHL (ZBJV 1940 S. 523) bei Besprechung des die Verbeiratung eines Trinkers aufhebenden EntscheidesBGE 65 II 141ff. hingewiesen, indem er der - von ihm als "etwas zu theoretisch" bezeichneten - Auffassung des Bundesgerichts, die Beiratschaft vermöge persönliche Fürsorge nicht zu verschaffen, mit der Bemerkung entgegentrat, nach der Lebenserfahrung könne doch auch ein Beirat, wenn er das Herz auf dem rechten Fleck habe und eine Persönlichkeit sei, auf den unter Beiratschaft stehenden Trinker einen heilsamen Einfluss ausüben. EGGER (N. 20 zu Art. 395 ZGB) bemerkt darüber hinaus zutreffend, eine umsichtige Wahrung der vermögensrechtlichen Interessen sei oft gar nicht möglich, ohne dass der Beirat sich auch um die persönliche Lebensführung und das persönliche Wohlergehen seines Schützlings kümmert. Damit der Beirat zum Beispiel entscheiden kann, ob er bei einer unter Art. 395 Abs. 1 ZGB fallenden Rechtshandlung mitwirken oder sie verhindern soll, muss er auch die Anliegen des Verbeirateten kennen, die unter Umständen für den Entscheid massgebend sein können. Aber auch die Vermögensverwaltung im Sinne von Art. 395 Abs. 2 ZGB kann häufig nicht losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Schützlings erfolgen, sondern ist wie der Entscheid über die Mitwirkung im Sinne von Art. 395 Abs. 1 auf diese Verhältnisse, die davon beeinflusst werden können, abzustimmen. Der tiefere Grund dafür, dass mit der dem Beirat obliegenden Sorge für das Vermögen auch eine gewisse Betreuung der Person des ![]() | 12 |
e) Ist eine persönliche Fürsorge des Beirates für den Verbeirateten in vielen Fällen nicht bloss möglich und sinnvoll, sondern mit der wirtschaftlichen Fürsorge notwendig verbunden, so ist zuzulassen, dass dem Beirat auf dem Gebiete der persönlichen Fürsorge auch Aufgaben übertragen werden, die mit der Mitwirkung und mit der Vermögensverwaltung im Sinne von Art. 395 ZGB nicht unmittelbar zusammenhängen, sofern er diese Aufgaben erfüllen kann, obwohl ihm in diesem Bereich keine Zwangsmittel zur Verfügung stehen. Diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Beiratschaft, die erst in einem späten Stadium der gesetzgeberischen Arbeit in das ZGB aufgenommen und dabei mangelhaft geregelt wurde (vgl. lit. d hievor und BGE 82 II 211 /12), wird durch den Gesetzeswortlaut nicht ausgeschlossen, sondern durch die allgemein gehaltene Funktionsbezeichnung "Beirat", "conseil légal", "assistente" gedeckt. Sie erlaubt es, in Fällen, wo die persönliche Betreuung über das mit der wirtschaftlichen Fürsorge im Sinne von Art. 395 ZGB notwendigerweise verbundene Mass hinausgehen muss, eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit im persönlichen Bereiche aber nicht notwendig ist, vom schweren Eingriff der Entmündigung abzusehen und so vermehrt dem Grundsatze Rechnung zu tragen, dass die Entmündigung nur dann am Platze ist, wenn nicht leichtere Massnahmen zum Ziele führen (BGE 69 II 19E. 3; EGGER N. 26 zu Art. 369 ZGB; SCHNYDER a.a.O.; vgl. auch BGE 96 II 78 lit. d mit Hinweisen, wonach die elterliche Gewalt nur entzogen werden darf, wenn mildere Massnahmen nicht ausreichen).
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f) Die Handlungsfähigkeit der Beklagten aufwirtschaftlichem Gebiet im Sinne von Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB zu beschränken, ist notwendig, obwohl die Beklagte in Zeiten der Remission die in Frage stehenden Angelegenheiten selbst besorgen könnte. Anders lässt sich nicht verhüten, dass ihr Vermögen beim unverhofften Eintritt einer neuen Störung durch unsinnige Verfügungen, wie sie dann erfahrungsgemäss zu befürchten sind, gefährdet ![]() | 14 |
Für die Anordnung einer Vormundschaft besteht also bei der Beklagten kein genügender Grund. Diese Massnahme würde ![]() | 15 |
2. Kosten und Entschädigungen sind nicht zu sprechen. Der teilweise unterlegenen Vormundschaftsbehörde könnten nach Art. 156 Abs. 2 OG ohnehin keine Gerichtskosten auferlegt werden. Anderseits ist davon abzusehen, der Beklagten in Anwendung von Art. 159 OG (der in seiner Fassung gemäss Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 nicht mehr auf Art. 156 Abs. 2 OG verweist) eine Parteientschädigung zuzusprechen, da sie mit ihrer Berufung nur teilweise obsiegt hat.
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