![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
27. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1971 i.S. W. gegen S. | |
Regeste |
Vaterschaftsklage. |
Darf die anthropologisch-erbbiologische Begutachtung, mit welcher der Beklagte seine Nichtvaterschaft beweisen möchte, abgelehnt werden, wenn ein serostatistisches Gutachten nach Essen-Möller seine Vaterschaft als wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich bezeichnet (Wahrscheinlichkeit von 94-95%) und keine Anhaltspunkte für Mehrverkehr der Mutter in der kritischen Zeit vorliegen? Frage verneint. | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.- Vom Kinde S. mit der Vaterschaftsklage auf Vermögensleistungen belangt, gab der Beklagte W. zu, der Mutter in der kritischen Zeit wiederholt beigewohnt zu haben. Er erhob aber die Einrede des Mehrverkehrs und beantragte u.a. die Einholung einer Blutgruppenexpertise und eines anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens (AEG). Das mit der Blutuntersuchung beauftragte Gerichtlich-Medizinische Institut der Universität Zürich kam in seinem Gutachten vom 12. Januar 1970 zum Schluss, der Beklagte könne auf Grund der Untersuchungen ![]() | 2 |
B.- Gegen das Urteil des obern kantonalen Gerichts erklärte der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag auf Abweisung der Klage, eventuell Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Einholung eines AEG und zu neuer Entscheidung.
| 3 |
C.- Am 1. Juli 1971 beschloss das Bundesgericht, über die durch den Prozess aufgeworfenen Grundsatzfragen ein naturwissenschaftliches Gutachten einzuholen. Dem Sachverständigen, Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. H. Ritter, Direktor des Instituts für Anthropologie und Humangenetik der Universität Tübingen, wurde namentlich die Frage vorgelegt, "ob sich auf Grund der heutigen Erkenntnisse der Wissenschaft zuverlässig sagen lässt, dass dann, wenn die serostatistische Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des Beklagten einen bestimmten (gegebenenfalls zu nennenden) Prozentsatz erreicht, in sogenannten Einmannfällen praktisch nicht mehr zu erwarten ist, dass die Vaterschaft des Beklagten durch ein Ähnlichkeitsgutachten (AEG) mit Sicherheit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könnte, so dass sich die Einholung eines solchen Gutachtens erübrigt."
| 4 |
In seinem Gutachten vom 20. Juli 1971 kennzeichnet der Sachverständige zunächst die verschiedenen Arten des humangenetischen Vaterschaftsgutachtens, nämlich das serologische Gutachten, das erbbiologische (morphologische) Gutachten und die statistische Auswertung der serologischen Befunde. Hierauf äussert er sich über den Stand und die Entwicklung der serologischen ![]() | 5 |
"In den vorausgegangenen Abschnitten wurden die Ergebnisse und Probleme der verschiedenen Paternitätsgutachten eingehend besprochen. Zusammenfassend ergibt sich dabei folgende Bewertung aus der Sicht des Humangenetikers (Tab. 7):
| 6 |
Tab. 7: Statistische Analyse und erbbiologische Begutachtung
| 7 |
---------------------------------------------------------------------
| 8 |
Erbbiologisches ESSEN-MÖLLER-Wert Ausschluss-Chance
| 9 |
Gutachten
| 10 |
---------------------------------------------------------------------
| 11 |
Nicht mehr erforderlich 99 % oder höher 99 % oder höher
| 12 |
Bedingt erforderlich 97-99% 97-99%
| 13 |
Erforderlich kleiner als 97% kleiner als 97%
| 14 |
---------------------------------------------------------------------
| 15 |
In der Tab. 7 sind die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der statistischen Analysen nochmals zusammengestellt.
| 16 |
Oberhalb der 99 %-Grenze ist die Information für die Vaterschaft eines Mannes so umfangreich, dass das erbbiologische Gutachten keinen Gegenbeweis mehr erbringen kann.
| 17 |
Zwischen 97 und 99% sollte es im Regelfalle dem Ermessen des Richters vorbehalten bleiben, nach Kenntnis der Aktenlage (Mehrverkehr u.ä.) ein erbbiologisches Gutachten anzuordnen.
| 18 |
Unterhalb der 97 %-Grenze ist dagegen ein erbbiologisches Gutachten erforderlich, um die Vaterschaftsfrage sicher abzuklären.
| 19 |
Darüber hinaus sind erbbiologische (morphologische) Gutachten noch in den Fällen wichtig, in denen das serologische Gutachten abgeschlossen wird mit einem isolierten und nicht voll beweiskräftigen Ausschluss. In diesen Fällen wurde in der deutschen ![]() | 20 |
Auf Grund dieses Gutachtens heisst das Bundesgericht die Berufung gut und weist die Sache zur Einholung eines AEG und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
| 21 |
Aus den Erwägungen: | |
3. Der Beklagte gibt zu, der Mutter der Klägerin in der kritischen Zeit beigewohnt zu haben. Seine Vaterschaft ist daher nach Art. 314 Abs. 1 ZGB zu vermuten. Dass die Mutter in der kritischen Zeit mit weitern Männern geschlechtlich verkehrt habe, was unter Umständen erhebliche Zweifel an der Vaterschaft des Beklagten rechtfertigen und die Vermutung seiner Vaterschaft nach Art. 314 Abs. 2 ZGB entkräften könnte (vgl. BGE 95 II 81 ff.), ist nicht dargetan. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter um die Zeit der Empfängms einen unzüchtigen Lebenswandel geführt habe, was nach Art. 315 ZGB unter Vorbehalt des positiven Nachweises der Vaterschaft des Beklagten (BGE 90 II 272 Erw. 2) die Abweisung der Klage nach sich zöge. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Blutuntersuchung ist die Vaterschaft des Beklagten nicht ausgeschlossen, sondern möglich. Der Beklagte vermochte also durch dieses Beweismittel den ihm offen stehenden Beweis, dass das Kind in Wirklichkeit nicht von ihm abstamme, nicht zu leisten (vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung dieses Beweises und zu den an ihn zu stellenden Anforderungen BGE 90 II 222 /23, BGE 91 II 162 ff., BGE 94 II 80). Die statistische Auswertung des Blutbefundes ergab im Gegenteil, dass für seine Vaterschaft eine Wahrscheinlichkeit nach ESSEN-MÖLLER von 94-95% besteht. Ausser der Blutuntersuchung hat der Beklagte zum Beweis dafür, dass er in Wirklichkeit nicht der Vater der Klägerin sei, nur die Einholung eines AEG beantragt. Mit der Ablehnung dieses Beweisantrags hat die Vorinstanz nach seiner Auffassung Art. 8 ZGB verletzt, aus dem sich nach Rechtsprechung und Lehre ergibt, dass die mit dem Beweis belastete Partei Anspruch auf die Abnahme von Beweisen hat, die sich auf erhebliche, rechtzeitig und in richtiger Form behauptete und von der Gegenpartei bestrittene Tatsachen beziehen und in ![]() | 22 |
23 | |
Wie im Falle BGE 91 II 159 ff. war auch im Falle BGE 96 II 314 ff. zu entscheiden, ob ein Beklagter, der die Vermutung seiner Vaterschaft durch andere Beweismittel (Blutuntersuchung, Tragzeitgutachten) nicht hatte entkräften können, Anspruch auf Einholung eines AEG habe. Anders als im zuerst genannten Falle wurde diese Frage in BGE 96 II 314 ff. verneint, weil die in diesem Falle erfolgte statistische Auswertung des Blutbefundes (serostatistische Begutachtung) nach ESSEN-MÖLLER ergeben hatte, dass der Beklagte mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,8-99,85% der Vater sei, was nach dem Gutachten bedeutete, ![]() | 24 |
Im vorliegenden Falle stellt sich die vom Bundesgericht bisher nicht entschiedene Frage, ob ein Vaterschaftsbeklagter, der die Vermutung seiner Vaterschaft durch andere Beweismittel nicht zu beseitigen vermochte, Anspruch auf Einholung eines AEG habe, wenn für seine Vaterschaft eine serostatistische Wahrscheinlichkeit nach ESSEN-MÖLLER von 94-95% besteht. Da über die Beweiskraft und das gegenseitige Verhältnis der in Frage stehenden Methoden zwischen den Fachleuten der Serologie einerseits und den Fachleuten der Anthropologie (Morphologie) anderseits erhebliche Meinungsverschiedenheiten ![]() | 25 |
26 | |
Wahrscheinlichkeit Häufigkeit in Prozent
| 27 |
nach ESSEN-MÖLLER Väter Nichtväter
| 28 |
99,0-98,0% 10,56 0,04
| 29 |
98,0-97,0 11,28 0,16
| 30 |
97,0-95,0 16,02 0,23
| 31 |
95,0-90,0 11,28 0,52
| 32 |
-------------------------------------------------
| 33 |
gesamt 49,14 0,95
| 34 |
Diese Zahlen bedeuten nach dem Gutachten, dass ein Essen-Möller-Wert zwischen 98 und 99% nur viermal unter 10'000 Fällen von einem Nichtvater erreicht wird, ein Wert zwischen 97 und 98% ein- bis zweimal unter 1'000 Fällen, ein Wert zwischen 95 und 97% zweimal und ein solcher zwischen 90 und 95% fünfmal unter 1'000 Fällen. Im Anschluss an diese Feststellung bemerkt der Sachverständige: "Da also nur sehr wenige Nichtväter Essen-Möller-Werte zwischen 99,0 und 95,0% erreichen, kann man für diesen Bereich durchaus in Erwägung ziehen, nicht mehr generell erbbiologische Gutachten in Auftrag zu geben. Hier sollte m.E. die Entscheidung im Ermessen des Richters verbleiben.." Etwas zurückhaltender ist die in den ![]() | 35 |
Die Fehlermöglichkeiten, die nach dem Gutachten verbleiben, wenn der Essen-Möller-Wert 97% übersteigt, liegen im Bereich der Fehlermöglichkeiten, die das Bundesgericht bei der naturwissenschaftlichen Abklärung von Abstammungsfragen in Kauf zu nehmen pflegt (vgl. die Zusammenstellung in BGE 94 II 85 und 96 II 318). Daher lässt sich die Auffassung vertreten, bei einem solchen Essen-Möller-Wert sei die Vaterschaft des Beklagten als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen zu betrachten und von einem AEG abzusehen. Im vorliegenden Falle ist jedoch dieser Grenzwert nicht erreicht. Bei einem Essen-Möller-Wert von 94-95%, wie er hier gegeben ist, übersteigen die Fehlermöglichkeiten das Mass, das mit der Annahme eines hinlänglich gesicherten Ergebnisses noch vereinbar ist. In solchen Fällen ist der Beklagte daher zur Beweisführung durch ein AEG zuzulassen.
| 36 |
Die Ausschluss-Chancen, die ein AEG in einem sog. Einmannfalle bietet, sind freilich gering. Wie Prof. Ritter ausführt, sind von einem AEG "bevorzugt Hinweise auf die Vaterschaft eines Mannes zu erwarten", wogegen mittels eines solchen Gutachtens "voll beweiskräftige Ausschlüsse nur ausnahmsweise möglich" sind, weil diese Methode (im Unterschied zur Blutuntersuchung) sehr komplexe Merkmale erfasst und nur geklärt ist, dass diese Merkmale genetisch kontrolliert sind, während man nicht weiss, "wie viele Gene in welcher Weise die Ausprägung der Merkmale steuern". Einem Beklagten, für dessen Vaterschaft ein schlüssiger Beweis nicht vorliegt, darf jedoch die Chance, seine Vaterschaft durch ein AEG auszuschliessen, nicht vorenthalten werden, auch wenn sie klein ist. Die Unzukömmlichkeiten, welche die hiedurch bewirkte Verlängerung des Prozesses der Klägerschaft verursacht, können eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen (vgl. BGE 91 II 169 lit. e und den Vorschlag des Bundesrats auf Revision des Art. 321 ZGB, BBl 1971 I 1245ff., 1266/67, der diesen Unzukömmlichkeiten abhelfen will). Der Vorschlag HEGNAUERS, in Fällen von der Art des vorliegenden ein Ähnlichkeitsgutachten ![]() | 37 |
Die strengen Voraussetzungen, unter denen der Antrag auf Einholung eines AEG zum Beweis der Nichtvaterschaft nach BGE 91 II 169 als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden könnte, sind im vorliegenden Falle offensichtlich nicht erfüllt.
| 38 |
39 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |