BGE 103 II 326 | |||
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53. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Dezember 1977 i.S. Otto Rühles Erben gegen Sumatra Bau AG | |
Regeste |
Überbau; guter Glaube des Überbauenden (Art. 674 ZGB). | |
Sachverhalt | |
Die Sumatra Bau AG ist Eigentümerin zweier Grundstücke an der Schifflände in der Altstadt in Zürich, die von alters her mit dem Gebäude "Zum Steinernen Schild" überbaut waren. Diese Baute stand allseits auf der Grenze, so auch rückwärts gegenüber dem Grundstück der Erbengemeinschaft Otto Rühle. In der Absicht, an Stelle des alten Gebäudes ein Hotel zu erstellen, reichte die Sumatra Bau AG im Jahre 1970 bei der Baupolizei der Stadt Zürich ein Baugesuch ein. Danach sollte das neue Gebäude wiederum auf die Grenze gegenüber dem Nachbargrundstück der Erben Rühle zu stehen kommen. Diese erhoben keine Baueinsprache gegen das Projekt, das von den zuständigen Behörden bewilligt wurde.
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Im Oktober 1974 begann die Sumatra Bau AG mit dem Abbruch des alten Gebäudes. Am 18. April 1975 liess sie eine Abänderung ihres Bauprojekts (betreffend die Verschiebung des Kamins am bewilligten Hotelgebäude) ausschreiben. Die Erben Rühle erhoben dagegen privatrechtliche Baueinsprache, die jedoch von den zürcherischen Gerichten abgewiesen wurde. Auf eine Berufung gegen den entsprechenden Entscheid des Obergerichts trat das Bundesgericht nicht ein, weil es diesem Entscheid den Charakter eines Endentscheids im Sinne von Art. 48 OG absprach. Das Bundesgericht begründete dies damit, dass es den Erben Rühle trotz der Abweisung der Baueinsprache durch die zürcherischen Gerichte auf Grund des Bundesrechts freistehe, beim ordentlichen Richter Klage auf Unterlassung der Errichtung oder allenfalls auf Beseitigung der streitigen Baute zu erheben (vgl. BGE 101 II 361 ff.).
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In der Folge begann die Sumatra Bau AG mit den Bauarbeiten, und es kam zum ordentlichen Prozess zwischen den Parteien. Streitig ist unter anderem, ob die Bauherrin ihre Baute im Sinne von Art. 674 Abs. 3 ZGB gutgläubig an die Grenze gestellt habe.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die Beklagten vertreten die Auffassung, dass das Verhalten des Bauenden nach einem strengeren Massstab zu beurteilen sei, wenn diesem die Nichteinhaltung des Grenzabstandes an sich bewusst gewesen sei, er jedoch angenommen habe, der Nachbar sei mit der Abstandsverletzung einverstanden. Es ist jedoch nicht einzusehen, weshalb an den guten Glauben des Bauenden verschiedene Anforderungen gestellt werden sollten, je nach dem, von welcher irrtümlichen Voraussetzung dieser ausging. Wer sich nicht genügend um den Grenzverlauf oder die Abstandsvorschriften kümmert, verdient keine Besserstellung gegenüber demjenigen, der in entschuldbarer Weise annimmt, der Nachbar sei mit dem Überbau bzw. der Abstandsunterschreitung einverstanden. Insbesondere kann den Beklagten auch nicht zugestimmt werden, wenn sie ausführen, bei der Berufung auf eine Einwilligung des Nachbarn handle es sich nicht mehr um eine Frage des guten Glaubens, sondern um den Nachweis einer die Rechtswidrigkeit ausschliessenden Willenserklärung; eine solche sei aber nur in der Form eines schriftlichen Dienstbarkeitsvertrages denkbar. Art. 674 Abs. 3 ZGB setzt ausdrücklich voraus, dass der Überbau bzw. der in Verletzung des Grenzabstandes errichtete Bau unberechtigt ist. Das kann nichts anderes bedeuten, als dass er nicht auf Grund eines Vertrages oder einer entsprechenden Grunddienstbarkeit erstellt wurde (vgl. LIVER, Das Eigentum, Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1, S. 180). Beim Einverständnis des Nachbarn, das den bösen Glauben des Bauenden auszuschliessen vermag, kann es sich deshalb auch um ein konkludentes Verhalten handeln, aus dem ohne grobe Fahrlässigkeit abgeleitet werden durfte, der Nachbar habe gegen den Überbau oder die Abstandsunterschreitung nichts einzuwenden.
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Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Klägerin auf Grund des Verhaltens der Beklagten Anlass zur Annahme hatte, diese seien mit der Beibehaltung des jahrhundertealten Zustandes an ihrer Grenze einverstanden. Hiefür sprach vor allem, dass die Beklagten gegen das Bauprojekt, das ordnungsgemäss ausgeschrieben und an Ort und Stelle ausgesteckt worden war, keine privatrechtliche Baueinsprache erhoben hatten. Die Unterlassung einer solchen Einsprache führte zwar nicht zur Verwirkung des bundesrechtlich geregelten Einspruchs, bildete aber einen starken Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagten gegen das Bauvorhaben der Klägerin nichts einzuwenden hätten. Das von den Beklagten nach Beginn der Abbrucharbeiten an den Tag gelegte Verhalten musste die Klägerin in dieser Annahme noch bestärken. Es wurde bereits in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sich die Beklagten damals nur gegen die Benützung ihres eigenen Grundstücks und gegen die Gefährdung ihrer Überbauten verwahrten, nicht aber gegen das rückwärtige Bauen auf die gemeinsame Grundstücksgrenze. Wenn die Klägerin unter diesen Umständen anlässlich des Abbruchs der bestehenden Gebäulichkeiten davon ausging, die Beklagten seien mit der Erneuerung des seit Menschengedenken bestehenden Grenzbaus einverstanden, kann ihr mindestens nicht grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden, weil sie nähere Abklärungen unterliess.
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Der gute Glaube kann der Klägerin aber auch nicht unter Hinweis darauf abgesprochen werden, dass der Verwaltungsratspräsident der Klägerin die Gerantin der sich im Altbau befindlichen Schifflände-Bar gebeten hatte, den Abbruch des Gebäudes nicht bekanntzugeben. Diese im angefochtenen Urteil enthaltene Feststellung kann nicht so verstanden werden, dass sich die Bitte um Nichtbekanntgabe des Abbruchs besonders auf die Beklagten bezogen hätte. Eine solche Absicht ist von der Klägerin ausdrücklich bestritten worden. Der allgemeine Wunsch, einen bevorstehenden Gebäudeabbruch nicht vorzeitig publik werden zu lassen, muss keineswegs Ausdruck des bösen Glaubens bilden. Wer in einer Stadt wie Zürich ein altes Haus abbrechen will, hat vielmehr mit Widerständen verschiedenster Art zu rechnen. Das Interesse an der Vermeidung entsprechender Schwierigkeiten vermag das Verhalten des Verwaltungsratspräsidenten der Klägerin genügend zu erklären. Schliesslich sei hier nochmals hervorgehoben, dass die Klägerin auch nach dem Beginn der Abbrucharbeiten keinen Anlass hatte, aus dem Verhalten der Beklagten auf deren fehlendes Einverständnis mit dem Bauen auf die Grenze zu schliessen. Die Beklagten waren im übrigen, wie sie selber einräumen, damals noch der Meinung, sie müssten einen Grenzbau dulden, weil sie keine privatrechtliche Baueinsprache erhoben hätten. Diese irrtümliche Auffassung macht ihr damaliges Verhalten verständlich.
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