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4. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Februar 1978 i.S. Einwohnergemeinde Biel und Mitbeteiligte gegen Zuckerfabrik & Raffinerie Aarberg AG und Mitbeteiligte | |
Regeste |
Art. 679 ZGB; Schadenersatzklage wegen Beeinträchtigung bzw. Gefährdung von Grundwasserfassungen durch versickerte Betriebsabwässer |
2. Passivlegitimation |
a) im allgemeinen (E. 2); |
b) des Unternehmens, das seine Abwässer in selbst angelegten Becken versickern lässt (E. 3); |
c) der Eigentümer der Grundstücke, auf denen sich die Sickerbecken befinden (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Die Zuckerfabrik & Raffinerie Aarberg AG (ZRA), die in ihrem Betrieb Wasser für den Transport und das Waschen der angelieferten Rüben, für deren Verarbeitung und für die Reinigung ihrer Einrichtungen und Räume benötigt, liess bis und mit Kampagne (Hauptverarbeitungszeit) des Jahres 1963 grosse Mengen in Sickerbecken geleiteten Abwassers versickern. Weiteres Abwasser versickerte überdies aus sogenannten Deponieteichen. Für die Anlage dieser Sickerbecken und Deponieteiche waren der ZRA neun Parzellen - vorerst pachtweise und ab 4. Dezember 1954 aufgrund einer Personaldienstbarkeit - durch die Einwohnergemeinde Aarberg und drei weitere Parzellen - pachtweise - durch die Burgergemeinde Kappelen zur Verfügung gestellt worden.
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Im Jahre 1967 schlossen sich die Einwohnergemeinden Biel und Lyss und die SWG zur Wasserverbund Seeland AG zusammen mit dem Zweck, im Raume Hagneckkanal - Walperswil (Gimmiz) - Kappelen eine neue Grundwasserfassung zu erstellen.
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B.- Am 6. Juli 1966 hatten die Einwohnergemeinden Biel und Lyss und die SWG beim Appellationshof des Kantons Bern (III. Zivilkammer) eine Schadenersatzklage eingereicht, mit dem Begehren, die ZRA, die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg seien solidarisch, allenfalls nach vom Gericht zu bestimmenden Anteilen, zu verpflichten, jeder der drei Klägerinnen einen vom Richter festzusetzenden Betrag nebst 5% Zins seit Klageeinreichung zu zahlen. Sie begründeten ihre Klage damit, dass das Grundwasser im Gebiet von Worben und Lyss durch die versickerten ZRA-Abwässer verschmutzt worden sei und sie sich deshalb veranlasst gesehen hätten, in Gimmiz eine neue Wasserfassung zu erstellen.
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Mit Urteil vom 7. März 1977 wies der Appellationshof des Kantons Bern (III. Zivilkammer) die Klage der SWG vollumfänglich und jene der Einwohnergemeinden Biel und Lyss insoweit ab, als sie die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg betraf. Die gegen die ZRA gerichtete ![]() | 5 |
In seinen Erwägungen hält der Appellationshof unter Hinweis auf die Art. 679 und 684 ZGB fest, die von der ZRA verursachte Gewässerverschmutzung stelle eine gemäss Nachbarrecht unerlaubte übermässige Einwirkung dar. Die Aktivlegitimation der Klägerinnen sei zu bejahen. Das gleiche gelte für die Passivlegitimation der ZRA, und zwar unabhängig davon, ob diese als Pächterin der ihr für die Anlage der Sickerbecken und Deponieteiche zur Verfügung gestellten Parzellen aufgetreten sei oder als Dienstbarkeitsberechtigte; dagegen seien die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg nicht passivlegitimiert. Bei der Prüfung der einzelnen Haftungsvoraussetzungen gelangt der Appellationshof aufgrund der eingeholten Gutachten unter anderem zum Ergebnis, die von der ZRA verursachte Grundwasserverschmutzung habe nur die Wasserfassungen der Einwohnergemeinden Biel und Lyss beeinträchtigt bzw. gefährdet, nicht aber das Pumpwerk der SWG, deren Klage deshalb abzuweisen sei.
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C.- Gegen dieses Urteil haben die Klägerinnen Berufung erhoben mit dem Antrag, alle drei Beklagten seien zu verpflichten, ihnen unter solidarischer Haftung, allenfalls anteilmässig, einen Betrag von Fr. 23'574'457.10 nebst 5% Zins seit 1. Januar 1974 zu bezahlen; eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg schliessen auf Abweisung der Berufung.
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Die ZRA hat eine Anschlussberufung eingereicht und verlangt, die gegen sie gerichteten Klagen der Einwohnergemeinde Biel und der SWG seien abzuweisen; die Klage der Einwohnergemeinde Lyss sei insoweit abzuweisen, als ein Betrag gefordert werde, der 150'000 Franken übersteige.
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Die Klägerinnen stellen den Antrag, die Anschlussberufung sei abzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Gemäss Art. 679 ZGB kann derjenige, der dadurch geschädigt oder mit Schaden bedroht wird, dass ein Grundeigentümer ![]() | 11 |
Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus, dass die Aktivlegitimation der Klägerinnen zu bejahen ist. Diese sind Eigentümerinnen der Grundstücke, auf denen sie gemäss einer vom Regierungsrat des Kantons Bern erteilten Konzession bzw. Bewilligung Grundwasser fördern. Soweit sie geltend machen, dieses Grundwasser werde durch übermässige und daher unzulässige Einwirkungen beeinträchtigt, die von den fraglichen Grundstücken der Burgergemeinde Kappelen und der Einwohnergemeinde Aarberg ausgingen, sind sie insbesondere auch als Nachbarn zu betrachten, denn Nachbar im Sinne des Art. 679 ZGB ist nicht nur der Anstösser, sondern jeder, der als Eigentümer oder Besitzer eines Grundstückes von den beanstandeten Immissionen betroffen wird (vgl. BGE 91 II 190 E. 4; 81 II 443 E. 1; MEIER-HAYOZ, N. 44 zu Art. 679 und N. 184 f. zu Art. 684 ZGB).
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Mit dem in der Anschlussberufung erhobenen Einwand, an den im Eigentum der Klägerinnen stehenden Grundstücken und Anlagen sei kein Schaden entstanden und jene hätten jedenfalls gegenüber der ZRA keinen Anspruch auf eine bestimmte Menge und Qualität des von ihnen geförderten ![]() | 13 |
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a) Die Haftung gemäss Art. 679 ZGB wird ausgelöst durch eine Schädigung (oder drohende Schädigung) infolge Überschreitung ![]() | 15 |
Die tatsächliche Herrschaft kann nicht nur der Eigentümer des Grundstückes ausüben, sondern auch ein unselbständiger Besitzer, der dieses zu einem beschränkten dinglichen oder zu einem persönlichen Recht zugewiesen erhalten hat (Art. 919 und 920 ZGB), so beispielsweise der Nutzniesser oder der Pächter. Ein solcher Besitzer hat gegenüber dem Nachbarn keinen grösseren Duldungsanspruch als der Eigentümer. Vielmehr unterliegt er den Regeln des Nachbarrechts genauso wie dieser (vgl. STARK, a.a.O. S. 206; MEIER-HAYOZ, N. 58 zu Art. 679 ZGB). Ist aber im nachbarrechtlichen Verhältnis der blosse Besitzer mit Bezug auf die Ausübung der tatsächlichen Herrschaft über das Grundstück dem Eigentümer gleichgestellt, rechtfertigt es sich, ihn auch hinsichtlich der Haftung aus Art. 679 ZGB nicht anders zu behandeln.
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b) Einen sachlichen Grund, die Passivlegitimation nur auf den Inhaber eines beschränkten dinglichen Rechts auszudehnen, gibt es nicht. Die Wirkungen des Besitzes - der für die Haftung massgebenden Beziehung zum Grundstück - gegenüber Dritten sind nicht von der Art des ihm zugrundeliegenden Rechtsverhältnisses abhängig. Es ist deshalb folgewidrig, nebst dem Eigentümer nur Inhaber eines beschränkten dinglichen Rechts zu den möglichen Passivlegitimierten zu zählen, mit der Begründung, der Ausnahmecharakter von Art. 679 ZGB erlaube nicht, über diese hinaus einen weiteren Personenkreis der strengen Kausalhaftung zu unterwerfen (so MEIER-HAYOZ, N. 62 zu Art. 679 ZGB).
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Weiter wird etwa eingewendet, ein Mieter oder Pächter übe nicht ein Dritten gegenüber wirksames eigenes Recht am Grundstück aus, sondern nur die sich für ihn aus dem Vertrag ![]() | 18 |
Der in der Lehre vertretenen Auffassung, für eine Ausdehnung der Haftung nach Art. 679 ZGB über Eigentümer und Träger von beschränkten dinglichen Rechten hinaus bestehe kein Bedürfnis (LEEMANN, N. 29 zu Art. 679 ZGB; MEIER-HAYOZ, N. 62 zu Art. 679 ZGB), kann nicht beigepflichtet werden. Dem Geschädigten wird es nämlich nicht in allen Fällen gelingen, sich am Eigentümer schadlos zu halten, und es kann für ihn dort, wo der Schaden durch einen finanzstarken Pächter verursacht oder mitverursacht wurde, wichtig sein, auch diesen gestützt auf Art. 679 ZGB ins Recht fassen zu können.
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Es zeigt sich übrigens gerade am Beispiel der ZRA, dass es stossend wäre, vom Kreis der aus Art. 679 ZGB möglichen Haftpflichtigen die obligatorisch Berechtigten auszunehmen, würde doch - sollten die Voraussetzungen erfüllt sein - die ZRA in jenem Fall nur für die Versickerung auf denjenigen Parzellen kausal haften, die ihr von der Einwohnergemeinde ![]() | 21 |
4. Knüpft die Haftung des Art. 679 ZGB nicht an das formale Kriterium des Eigentums als solchen an, beurteilt sich die Frage, ob ausser der ZRA auch die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg als Eigentümerinnen der Grundstücke passivlegitimiert seien, nach den konkreten Verhältnissen. Es ist daher zu prüfen, ob die beiden Eigentümerinnen den von den Klägerinnen behaupteten Schaden in Ausübung ihrer tatsächlichen Herrschaft über die Grundstücke mitverursacht haben, d.h. es ist abzuklären, ob die Verschmutzung des Grundwasserstroms auf die von den beiden Gemeinden bestimmte Art der Ausübung der tatsächlichen Herrschaft über ihre Grundstücke zurückzuführen ist (vgl. STARK, a.a.O. S. 209; dazu auch BGE 44 II 36 unten). Dies ist zu bejahen, denn nach den Feststellungen der Vorinstanz haben die Burgergemeinde Kappelen und die Einwohnergemeinde Aarberg der ZRA ihre Parzellen eigens zur Beseitigung der Betriebsabwässer zur Verfügung gestellt. Entgegen der Ansicht des Appellationshofes sind mithin auch die beiden Grundeigentümerinnen hinsichtlich der auf Art. 679 ZGB beruhenden Klage passivlegitimiert.
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