BGE 105 II 178 | |||
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29. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. August 1979 i.S. H. Weidmann AG gegen Wettler und Steinmann (Berufung) | |
Regeste |
Notweg (Art. 694 ZGB). | |
Sachverhalt | |
Die H. Weidmann AG ist Eigentümerin des Grundstückes Kat. Nr. 830 in Rapperswil. Das Grundstück misst 2455 m2 und ist durch die ebenfalls im Eigentum der H. Weidmann AG stehende Wegparzelle Kat. Nr. 831 mit der Neuen Jonastrasse, einer Staatsstrasse, verbunden. Die Wegparzelle weist eine Breite von 3,8 bis 4 Metern auf.
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Die H. Weidmann AG beabsichtigt, die gegenwärtig auf ihrem Grundstück Kat. Nr. 830 stehenden Industriebauten abzubrechen und an deren Stelle zwei viergeschossige Wohnhäuser mit insgesamt 24 Wohnungen zu errichten. Sie unterbreitete dem Gemeinderat Rapperswil ein entsprechendes Bauprojekt. Mit Brief vom 1. März 1977 eröffnete ihr der Gemeinderat, das eingereichte Projekt lasse verschiedene Mängel erkennen, die vor der Erteilung einer Baubewilligung behoben werden müssten; insbesondere sei die verkehrsmässige Erschliessung des Grundstücks ungenügend.
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Am 11. November 1977 stellte die H. Weidmann AG beim Gemeinderat Rapperswil das Begehren um Gewährung eines Notwegrechts, und zwar in dem Sinne, dass die bestehende Zufahrt zu ihrem Grundstück über die Wegparzelle Kat.
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Nr. 831 zu Lasten der Nachbargrundstücke Kat. Nrn. 748 und 1359 verbreitert werde.
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Mit Entscheid vom 1. Juni 1978 stellte der Gemeinderat Rapperswil fest, "dass die Voraussetzungen zur Gewährung des Notwegrechts für die ausreichende Verkehrserschliessung des Grundstücks Kat. Nr. 830 im Blick auf dessen Neuüberbauung erfüllt" seien, und entsprach dem Begehren der H. Weidmann AG.
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Die zur Gewährung des Notwegrechts verpflichteten Grundeigentümer erhoben gegen diesen Entscheid Rekurs an den Regierungsrat des Kantons St. Gallen, mit dem Antrag, das Begehren der H. Weidmann AG sei abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 27. Februar 1979 hiess der Regierungsrat die beiden Rekurse gut und hob den Entscheid des Gemeinderates Rapperswil vom 1. Juni 1978 auf.
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Gegen diesen Entscheid hat die H. Weidmann AG Berufung an das Bundesgericht erhoben, mit dem Antrag, es sei der regierungsrätliche Beschluss aufzuheben und der Entscheid des Gemeinderates Rapperswil vom 1. Juni 1978 wiederherzustellen.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Die Berufungsklägerin wirft der Vorinstanz vor, den Begriff des Notweges zu eng ausgelegt und dadurch Bundesrecht verletzt zu haben. Ein Weg, dessen Breite wie im zu beurteilenden Fall das Kreuzen von Motorfahrzeugen ausschliesse, sei für den Anschluss von rund 30 Wohneinheiten an eine öffentliche Strasse ungenügend. Dazu komme, dass der Verkehr auf der Neuen Jonastrasse als Hauptverbindung zwischen Rapperswil und Jona in unzulässiger Weise blockiert würde, wenn ein Fahrzeug in die private Zufahrt einbiegen wolle, wegen eines entgegenkommenden Fahrzeuges oder eines andern Hindernisses jedoch gezwungen sei, auf der Staatsstrasse anzuhalten. Die rechtwinklige Einmündung der Zufahrt in diese Strasse habe, wenn sie nicht ausgebaut werde, überdies zur Folge, dass die in die Zufahrt einbiegenden Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit auf Schrittempo herabsetzen müssten, was ebenfalls zu einer starken Beeinträchtigung des Verkehrs auf der Staatsstrasse führe. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz könne unter diesen Umständen nicht angenommen werden, die Verbreiterung der Zufahrt durch Einräumung eines Notwegrechts diene lediglich dazu, die Wegverhältnisse bequemer zu gestalten. Da ohne die angestrebte Wegverbreiterung eine zonengemässe Nutzung des Baugrundstücks nicht möglich sei, könne auch nicht gesagt werden, die bestehende Zufahrt genüge für eine bestimmungsgemässe Nutzung dieses Grundstücks. Zweck des Begehrens um Gewährung des Notwegrechts sei vielmehr eine den Mindestanforderungen entsprechende Erschliessung von Bauland, dank welcher vor allem erhebliche Störungen und Gefährdungen des öffentlichen Verkehrs ausgeschlossen würden. Bei zeitgemässer Auslegung des Begriffs der Wegenot erweise sich für das Gebiet der ganzen Schweiz ein Weg von 5 Metern Breite nebst einem Trottoir von einem Meter und einem Einlenker mit beidseitigen Radien von 6 Metern für die Erschliessung eines Mehrfamilienhausquartiers als Minimum. Nur eine solche Zufahrt könne deshalb, und zwar unabhängig von den öffentlichrechtlichen Vorschriften, als genügend im Sinne von Art. 694 ZGB betrachtet werden.
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b) Das Bundesgericht hat die Gewährung eines Notwegrechts in seiner bisherigen Praxis von sehr strengen Voraussetzungen abhängig gemacht. Es hat aus der Entstehungsgeschichte des Art. 694 ZGB abgeleitet, dass der nachbarrechtliche Anspruch auf die Gewährung eines Wegrechts nur in einer eigentlichen Notlage geltend gemacht werden könne und da nicht gegeben sei, "wo der unumgänglich notwendige Fuss- oder Fahrweg, der freie Zugang oder die freie Zufahrt zu einem Grundstück und damit die nötige Verbindung mit dem öffentlichen Strassennetz, der Aussenwelt mehr oder weniger vorhanden ist" (BGE 80 II 317). Das Bestehen einer Notlage hat es lediglich für den Fall bejaht, dass die nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen eines Grundstücks erforderliche Verbindung mit der öffentlichen Strasse überhaupt fehle oder doch schwer beeinträchtigt sei; für die blosse Verbesserung von nicht ganz vollkommenen Wegverhältnissen könne ein Notweg nicht eingeräumt werden (BGE 80 II 317 mit Hinweisen). An dieser Anforderung hat das Bundesgericht insbesondere auch festgehalten, als es um die verkehrsmässige Erschliessung von neu zu überbauendem Land ging. So hat es in diesem Zusammenhang ausdrücklich erklärt, bei der Beurteilung, Ob ein bereits vorhandener Weg für eine in Aussicht genommene Überbauung genüge, komme es nicht auf die baupolizeilichen Anforderungen an die (für die Erteilung einer Baubewilligung erforderliche) Zufahrt an (BGE 85 II 397 ff., insbesondere 400 f.). Diese einschränkende Auslegung des Anspruchs auf Einräumung eines Notwegs hat die Zustimmung der massgebenden Lehre gefunden (LIVER, in der Besprechung des zuletzt zitierten Bundesgerichtsentscheides, ZBJV 96/1960, S. 429/430; LIVER, Das Eigentum, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1, S. 268/269; MEIER-HAYOZ, N. 52, 54 und 59 zu Art. 694 ZGB; KARIN CARONI-RUDOLF, Der Notweg, Berner Diss. 1969, S. 53 f. und 64 ff.).
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c) Beurteilt man den vorliegenden Sachverhalt im Lichte der angeführten restriktiven Auslegung des Art. 694 ZGB, ergibt sich, dass die Auffassung der Vorinstanz mit dem Bundesrecht nicht in Widerspruch steht. Im angefochtenen Entscheid wird zutreffend darauf abgestellt, dass das Grundstück der Berufungsklägerin im Hinblick auf die beabsichtigte Nutzung als Bauland über eine technisch ausreichende Wegverbindung zur öffentlichen Strasse verfüge, die ohne Mühe mit Motorfahrzeugen (sowohl mit Personen- als auch mit Lastwagen) befahren werden könne. Dass das Kreuzen nicht möglich ist und das Einbiegen in den Weg von der öffentlichen Strasse her zu Verkehrsbehinderungen führen kann, reicht nicht aus, um von einer schweren Beeinträchtigung der Zufahrt im Sinne der Praxis sprechen zu können. Es sind denn auch vorwiegend öffentliche Interessen, welche die Berufungsklägerin ins Feld führt, um das Ungenügen des Weges darzutun. Indessen ist es nicht Zweck einer privatrechtlichen Einrichtung wie derjenigen des Notwegrechts, für die Wahrung öffentlicher Interessen (Verkehrssicherheit; Verhinderung von Verkehrsstauungen) zu sorgen. Dies ist vielmehr Sache des Baupolizei- und des Strassenrechts. Wenn der Berufungsklägerin die Bewilligung für die beabsichtigte Überbauung verweigert wird, kann sie zur Schaffung einer nach öffentlichrechtlichen Gesichtspunkten hinreichenden Zufahrt nicht auf das Notwegrecht zurückgreifen, sondern sie muss sich, wie im angefochtenen Entscheid zutreffend erwähnt, der anscheinend vorhandenen öffentlichrechtlichen Mittel bedienen.
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d) Von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlass. Zwar hat die enge Auslegung von Art. 694 ZGB zur Folge, dass der Anspruch auf Einräumung eines Notweges als Mittel zur Erschliessung von Bauland überall dort ausscheidet, wo eine Wegverbindung zur öffentlichen Strasse vorhanden ist, die mit Motorfahrzeugen ohne allzu grosse Schwierigkeiten befahren werden kann. Für die Beibehaltung einer strengen Praxis spricht jedoch zunächst die Überlegung, dass die Rücksichtnahme auf die Interessen des benachbarten Grundeigentümers, der sich die Einräumung des Notweges gefallen lassen muss, eine zurückhaltende Handhabung gebietet. Vor allem aber verdient der Hinweis des Bundesgerichts in BGE 85 II 400, dass die Anwendung von Art. 694 ZGB in der ganzen Schweiz nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgen sollte, nach wie vor Beachtung. Eine solche einheitliche Rechtsanwendung wäre aber nicht mehr gewährleistet, wenn bei der Beurteilung des Genügens einer Wegverbindung zur öffentlichen Strasse auf baupolizeiliche Gesichtspunkte abgestellt werden wollte. So würden beispielsweise die erforderliche Breite der Zufahrt und die Notwendigkeit der Erstellung eines Trottoirs je nach Landesgegend ganz verschieden beurteilt. Dies widerspräche indessen dem Sinn des Gesetzes.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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