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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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59. Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. Oktober 1983 i.S. F. S. und Mitbeteiligte gegen Paula S. und Emil T. (Berufung) | |
Regeste |
Art. 97 ZGB. | |
Sachverhalt | |
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Auf Appellation der Kläger wies auch das Obergericht des Kantons Luzern die Klage mit Urteil vom 15. März 1983 ab.
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Die Kläger haben gegen das obergerichtliche Urteil Berufung beim Bundesgericht eingereicht. Sie beantragen die Aufhebung dieses Urteils und verlangen, es sei den Beklagten wegen Eheunfähigkeit der Paula S. der Eheschluss gerichtlich zu untersagen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. Die Beklagten lassen am Schluss ihrer Berufungsantwort vorbringen, es stelle sich die Frage, ob die Kläger an der Untersagung eines Eheabschlusses überhaupt ein schützenswertes Interesse hätten. In gesellschafts- und rechtspolitischer Hinsicht habe sich seit Erlass des Zivilgesetzbuches viel geändert. Die Gesellschaft sei toleranter geworden, weshalb die allgemeinen Begriffe der "Unfähigkeit" heute in einem andern Lichte erschienen als noch vor 50 Jahren. In rechtspolitischer Hinsicht sei beispielsweise im Kanton Luzern das Konkubinatsverbot aufgehoben worden. Eine faktische Ehe (ohne Trauschein) könne demnach nicht verhindert werden. Da die zuständige Behörde keine Veranlassung gesehen habe, im Verkündverfahren Massnahmen zu ergreifen und sich auch im nachhinein nicht am Einspruchsverfahren beteiligt habe, sei davon auszugehen, dass den Klägern ein schutzwürdiges Interesse ![]() | 4 |
a) Aus der Tatsache, dass sich der Zivilstandsbeamte weder gehalten sah, die Verkündung zu verweigern, noch sich am Einspruchsverfahren zu beteiligen, können die Beklagten nichts für sich herleiten. Gemäss Art. 107 ZGB ist das Gesuch der Verlobten um Verkündung abzuweisen, wenn ein Teil nicht ehefähig ist, oder wenn ein gesetzliches Ehehindernis vorliegt. Geht es um die Frage der Urteilsfähigkeit, darf der Zivilstandsbeamte die Verkündung nur verweigern, wenn die Eheunfähigkeit wegen mangelnder Urteilsfähigkeit offenkundig ist, d.h. sich aus einem Gerichtsurteil oder einem eindeutigen Gutachten klar und unanfechtbar ergibt (BGE 77 I 236, BGE 73 I 169 E. 2, 170 E. 3, GÖTZ, N. 6 zu Art. 107 ZGB, EGGER, N. 3 zu Art. 107 ZGB, GMÜR, N. 6 zu Art. 107 ZGB). Im Zweifelsfalle ist es Sache des Einspruchsverfahrens, die Frage der Eheunfähigkeit zu prüfen und zu entscheiden. Selbst Einspruch erheben oder sich am eingeleiteten Einspruchsverfahren beteiligen muss die zuständige Behörde nur im Falle eines Nichtigkeitsgrundes (Art. 109 ZGB). Im vorliegenden Fall aber, wo jedenfalls nicht auf der Hand liegt, dass öffentliche Interessen zu wahren sein könnten, bestand dafür kein Anlass.
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b) Gemäss Art. 108 ZGB hat der Einsprecher ein Interesse geltend zu machen. Als schutzwürdiges Interesse am Nichtzustandekommen der Ehe kommt ein vermögensrechtliches, vor allem erbrechtliches, oder auch ein bloss persönliches, moralisches Interesse in Betracht (GÖTZ, N. 2 zu Art. 108 ZGB, EGGER, N. 2 zu Art. 108 ZGB, GMÜR, N. 6 zu Art. 108 ZGB, TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 9. Aufl. S. 142). Die Legitimation kann einem Einsprecher nur abgesprochen werden, wenn er augenscheinlich kein begründetes Interesse im Sinne dieser Bestimmung hat (GÖTZ, a.a.O.; BGE 66 I 288). Es wird von den Beklagten nicht behauptet, dass die Verwandten der Paula S., die sich auf deren besondere Schutzbedürftigkeit berufen, kein schutzwürdiges Interesse im Sinne des Art. 108 ZGB hätten. Was sie vorbringen, betrifft mehr gesellschafts- und rechtspolitische Fragen, die sich im Zusammenhang mit der praktischen Bedeutung von Art. 97 Abs. 1 ZGB stellen können, sowie die Tatsache, dass eine allfällige Gutheissung der Berufung keine praktischen Folgen haben könnte, weil sich auch mit einer Untersagung des Eheabschlusses nichts daran ändern würde, dass die Beklagten nunmehr seit vier Jahren zusammenleben, eine faktische Familie gegründet haben und wohl ![]() | 6 |
c) Die Kläger sind zumindest in prozessualer Hinsicht durch das angefochtene Urteil beschwert (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 74/75).
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Geht es um die Urteilsfähigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 1 ZGB, so ist nur zu entscheiden, ob die Verlobten im Hinblick auf den geplanten Eheabschluss mit dem konkreten Partner die zur freien Eingehung der Ehe nötige Reife haben und als fähig zu betrachten sind, auf vernünftige Weise Wesen und Bedeutung der Ehe und der damit verbundenen Pflichten zu erfassen (TUOR/SCHNYDER, a.a.O., S. 138). Dabei ist die Anforderung, die an die für die Eheschliessung und -führung notwendige Urteilsfähigkeit gestellt werden muss, zwar grundsätzlich höher als jene, welche an die Urteilsfähigkeit für den Geschäftsverkehr erforderlich ist. Doch dürfen die Anforderungen auch wieder nicht zu hoch geschraubt werden, soll nicht das verfassungsmässige Recht auf Ehe für eine zu grosse Zahl von Menschen bedeutungslos werden (BINDER, a.a.O., S. 59, 64). Während EGGER (N. 2 zu Art. 97 ZGB) noch davon ausging, dass es sich bei der Eheschliessung um den wichtigsten Schritt im Leben, um einen Vorgang von grösster Tragweite handle, bei dem Würde und ![]() | 10 |
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b) Art. 97 Abs. 1 ZGB will verhindern, dass Ehen eingegangen werden, die ihrem Gehalt nach nicht wirkliche Gemeinschaften werden können (GÖTZ, N. 7 zu Art. 97 ZGB). Sodann bezweckt diese Bestimmung, einen Menschen, der infolge seiner Geistesschwäche die Konsequenzen einer Eheschliessung nicht zu überblicken vermag und auch sich selbst vor andern nicht genügend schützen kann, vor der Gefahr zu bewahren, dem Ehepartner ausgeliefert zu sein. Zeigt es sich aber, dass es im Interesse des weitgehend Urteilsunfähigen liegt, eine Ehe einzugehen, ist mit Binder und anderen ausnahmsweise die Ehefähigkeit zu bejahen ![]() | 12 |
5. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass Paula S. als schwachsinnig bezeichnet werden muss. In Anlehnung an DUKOR (Das Eheverbot) ..., S. 86/87) hat sie weiter festgestellt, dass sie in intellektueller Hinsicht ein zwar bescheidenes, aber gerade noch genügendes Verständnis für das Wesen der Ehe im allgemeinen habe. Es sei ihr Wunsch, den Mann, den sie gern habe, zu heiraten und gemeinsam mit diesem Kinder zu haben. Sie wisse, dass Kinder betreut und ein Haushalt geführt werden müssten und dass dies Aufgaben seien, deren Erfüllung auch von ihr verlangt würde. Sie erfülle denn auch diese Pflichten seit bereits rund dreieinhalb Jahren, und zwar besser, als dies angesichts ihres Schwachsinns zu erwarten gewesen wäre. Ihr Kinderwunsch sei zudem normal. Es ginge nicht an, ausgerechnet von ihr die Einsicht zu verlangen, dass sie angesichts ihres Schwachsinns auf Kinder verzichten sollte. Ausserdem habe sie in Emil T. den für sie geeigneten Partner gefunden, der ihr Halt, Geborgenheit und Führung gebe. Darauf sei sie aber gerade angewiesen, nachdem bei ihr psychische Auffälligkeiten wie Ängstlichkeit, mangelndes Selbstvertrauen und fehlende Selbständigkeit festgestellt worden seien. Anhaltspunkte, dass Emil T. sie nur aus finanziellen Gründen oder mit Rücksicht auf ihre Arbeitskraft heiraten ![]() | 13 |
Das Obergericht hat der Beklagten auch zugestanden, dass sie trotz ihres Unvermögens, Daten, Zeitablauf usw. zu erfassen, in dem Umfeld, in welchem sie lebt, und im Blick auf den konkreten Partner, ein genügendes Verständnis für das Alltägliche und Nächstliegende habe. Sie sei in der Lage, einen einfachen Haushalt zu führen, auch wenn ihr die Fähigkeit abgehe, gewisse Aufgaben, wie beispielsweise das Einkaufen, selbständig auszuführen. Sie habe bisher auch die Betreuung des am 19. Oktober 1981 geborenen Kindes zu bewältigen vermocht. Die Säuglingsfürsorge habe sich auf wenig Kontrollgänge beschränken können. Freilich sei nicht zu verkennen, dass ihre Geistesschwäche, zumindest was die intellektuelle Seite anbelange, eine Kindererziehung praktisch unmöglich mache. In dieser Hinsicht werde Emil T. eine wesentliche Rolle übernehmen müssen, wobei auch hier wieder vorteilhaft sei, dass er als Bergbauer im Haushalt mithelfen könne. Zumindest ebenso bedeutungsvoll wie die intellektuelle sei die affektive Seite der Erziehung, und dafür würde Paula S. den notwendigsten Anforderungen, wenn auch wegen ihres Schwachsinns nicht allzu differenziert, genügen. Das schon vorhandene Kind finde bei ihr, der eine warme, gemütvolle Art zu attestieren sei, die erforderliche Nestwärme. Sie verstehe es zudem ausserordentlich gut, im Zusammenwirken mit Emil T. ihren Schwachsinn zu verbergen. Dieser trete, da offenbar nicht ererbt, auch nicht in ihrem Äussern in Erscheinung, so dass das Kind erst im fortgeschrittenen Alter die geistige Schwäche der Mutter in ihrer ganzen Tragweite realisieren werde. Es wäre daher nicht gerechtfertigt, nur wegen der Tatsache, dass sie in intellektueller Hinsicht geringe Voraussetzungen für die Kindererziehung mit sich bringe, ihr die Ehe zu untersagen.
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In affektiver Hinsicht bejaht die Vorinstanz schliesslich, dass bei der Beklagten achtenswerte Motive für die Eheschliessung vorlägen, dass ihr Triebleben als normal zu bezeichnen sei und dass sich auch aus ihrer psychischen Veranlagung heraus keine Schwierigkeiten ergeben hätten, das Alltagsleben zusammen mit Emil T. zu bewältigen.
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6. Aufgrund dieser für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen kann nicht gesagt werden, die rechtliche Schlussfolgerung der Vorinstanz verstosse gegen Bundesrecht, wonach Paula S. zwar minimale, aber unter den gegebenen Umständen noch genügende intellektuelle und affektive Voraussetzungen für das Eingehen ![]() | 16 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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