![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
90. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Oktober 1984 i.S. W. X. AG gegen Eidgenössische Versicherungs-Aktiengesellschaft und "Winterthur" Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft (Berufung) | |
Regeste |
Art. 418u Abs. 1 OR, Verweigerung des Anspruchs auf Kundschaftsentschädigung wegen Unbilligkeit. | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Im April 1980 erhob die W. X. AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage gegen die Eidgenössische Versicherungs-Aktiengesellschaft (Beklagte 1) und die "Winterthur" (Beklagte 2) mit der Begründung, Anspruch auf Kundschaftsentschädigungen und auf Nachzahlung bestimmter Provisionen zu haben. Von der Beklagten 2 verlangte sie insbesondere eine Kundschaftsentschädigung von Fr. 244'646.45.
| 2 |
3 | |
Dieses Urteil focht die Klägerin mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde an, auf die das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 13. April 1984 mit der Begründung nicht eintrat, alle damit erhobenen Rügen könnten mit der Berufung beim Bundesgericht geltend gemacht werden.
| 4 |
Die Klägerin legte gegen das Urteil des Handelsgerichts Berufung ein, die aus Gründen, die im veröffentlichten Teil des Entscheides nicht wiedergegeben werden, teilweise gutgeheissen wurde.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
Das Handelsgericht verweigert den gegenüber der Beklagten 2 geltend gemachten Anspruch auf eine Kundschaftsentschädigung von Fr. 244'646.45 mit der Begründung, die Klägerin habe die Kündigung des Agenturvertrags mit der Beklagten 2 selbst zu vertreten; es führt überdies in einer Eventualerwägung aus, der Zuspruch der Entschädigung sei unbillig, weil sie durch Altersvorsorgeleistungen der Beklagten 2 zugunsten von W. X. abgegolten worden sei. Mit der Berufung werden beide Begründungen angefochten. Da sich zeigen wird, dass die Eventualerwägung Bundesrecht nicht verletzt, braucht auf die Hauptbegründung nicht eingegangen zu werden.
| 7 |
3. Das Handelsgericht hält fest, es sei unbestritten, dass der Kundenkreis der Beklagten 2 durch die Tätigkeit der Kollektivgesellschaft wesentlich erweitert worden sei und ihr aus der Geschäftsverbindung mit der angeworbenen Kundschaft auch nach Auflösung des Agenturverhältnisses erhebliche Vorteile erwüchsen. Deren Wert bemisst es auf Fr. 500'000.--. Im angefochtenen Urteil wird weiter ausgeführt, der am 10. Oktober 1982 verstorbene W. X. habe von der Pensionskasse für Agenten der Beklagten 2 ![]() | 8 |
Mit der Berufung werden diese Annahmen betragsmässig nicht in Frage gestellt. Die Klägerin macht lediglich darauf aufmerksam, dass sie von der Beklagten 2 unter dem Titel der Kundschaftsentschädigung nur Fr. 244'646.45 verlange, also bedeutend weniger als ihr grundsätzlich zustehen würde.
| 9 |
a) Die Klägerin wirft dem Handelsgericht die Verletzung von Art. 418u Abs. 1 OR sowie Art. 2 und 4 ZGB vor. Sie vertritt die Auffassung, die Voraussetzungen für die Verweigerung der Kundschaftsentschädigung wegen Unbilligkeit seien im vorliegenden Fall nicht gegeben.
| 10 |
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, auf die sich das Handelsgericht beruft, kann bei der Beurteilung, ob der Zuspruch einer Kundschaftsentschädigung unbillig ist, berücksichtigt werden, dass der Agent besonders hohe Vergütungen erhalten hat, dass das Vertragsverhältnis lange gedauert hat oder der Auftraggeber besonders günstige Fürsorgeleistungen erbracht hat (BGE 103 II 286; BGE 84 II 533, 541). Die Vorinstanz stellt ausschliesslich auf die Leistungen für die Altersvorsorge von W. X. ab und lässt offen, ob andere Umstände wie insbesondere die nach Behauptung der Beklagten 2 ungewöhnlich hohen Provisionssätze den Zuspruch einer Kundschaftsentschädigung ebenfalls als unbillig erscheinen liessen. In der Literatur ist die Ansicht vorherrschend, dass Vorsorgeleistungen des Auftraggebers an den Agenten unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu berücksichtigen sind (J.-C. BURNAND, Le contrat d'agence et le droit de l'agent d'assurances à une indemnité de clientèle, Diss. Lausanne 1977, S. 118 f.; KURT BRUNNER, Das Rechtsverhältnis zwischen Versicherer und Vermittlungsagent und seine Drittwirkungen, Diss. Zürich 1981, S. 240; GERHARD HORST LEISS, Der Anspruch des Agenten auf Entschädigung für die Kundschaft in rechtsvergleichender Darstellung, Diss. Bern 1965, S. 134; MEIER/MEYER-MARSILIUS, Der Agenturvertrag, 2. Auflage, S. 78; JEAN-MARIE HANGARTNER, in ![]() | 11 |
b) Die Klägerin hält die Anrechnung der Vorsorgeleistungen für unzulässig, weil Ansprecherin der Kundschaftsentschädigung die Kollektivgesellschaft bzw. sie selbst als deren Rechtsnachfolgerin und nicht W. X. persönlich sei. Seine Söhne hätten als Mitgesellschafter seit 1970 erheblich zur Erweiterung des Kundenkreises beigetragen. Jeder sei in der Bearbeitung der Kundschaft selbständig gewesen und habe seinen eigenen Kundenkreis besessen, den er auch selbst erarbeitet habe. Aus der Produktionsstatistik für das Jahr 1978 ergebe sich zum Beispiel, dass 72,9% der neu vermittelten Geschäfte auf die Söhne entfallen seien. Die Vorsorgeleistungen an W. X. könnten deshalb, wenn überhaupt, nur zum Teil berücksichtigt werden. Der Barwert der Rente für W. X. betrage Fr. 600'000.--, während sich die Leistungen für die Altersvorsorge der Söhne lediglich auf Fr. 4'135.-- bzw. Fr. 4'564.-- beliefen, demnach unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit nicht ins Gewicht fielen.
| 12 |
Obschon die Vorsorgeansprüche nicht der Kollektivgesellschaft, sondern den einzelnen Gesellschaftern zustanden und die Aufwendungen für die Söhne gering waren, ist es in Anbetracht der besonderen Umstände des vorliegenden Falles gerechtfertigt, die Vorsorgeleistungen der Beklagten 2 für W. X. gesamthaft dem von der Kollektivgesellschaft für die Beklagte 2 erwirtschafteten Vorteil gegenüberzustellen. Denn mit der Gewährleistung einer reichlich ![]() | 13 |
c) Die Klägerin bringt im weitern vor, entgegen der Auffassung des Handelsgerichts sei nicht auf den Barwert der Rente abzustellen, weil der am 10. Oktober 1982 verstorbene W. X. die Altersrente nur kurze Zeit bezogen habe. Der Vorinstanz ist indes beizustimmen, dass der Barwert der Rente im Zeitpunkt der Pensionierung abzüglich der persönlichen Beiträge von W. X. massgebend sein muss, denn damit kann der Wert der Leistungen, welche die Beklagte 2 im Hinblick auf die Alterssicherung von Vater X. erbracht hat, am besten erfasst werden. Dass der Barwert nicht nach den üblichen Grundsätzen hätte berechnet werden dürfen, wird mit der Berufung nicht behauptet. Im übrigen hat das Handelsgericht dem Standpunkt der Klägerin insoweit Rechnung getragen, als es zu ihren Gunsten am Wert der Rente, wie er von der Beklagten 2 berechnet worden ist, einen Abzug von rund Fr. 100'000.-- vorgenommen hat.
| 14 |
d) Die Klägerin macht sodann geltend, was ehemals als "besonders günstige Fürsorgeleistung" gegolten habe, sei heute mit dem Ausbau der Pensionskassen üblich geworden; bei der Beurteilung der Billigkeit von Kundschaftsentschädigungen seien die Massstäbe daher anders als früher anzulegen.
| 15 |
Wie es sich damit verhält, braucht im vorliegenden Fall nicht allgemein entschieden zu werden. Wie bereits erwähnt, bestreitet die Klägerin nicht, dass die Beiträge von W. X. an die Pensionskasse lediglich Fr. 33'771.60 betragen haben. Dies und der Umstand, dass die Kollektivgesellschaft während mehreren Jahren auch nach Auffassung der Klägerin angemessene Provisionen beziehen konnte, rechtfertigt es jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen, die Vorsorgeleistungen uneingeschränkt zu berücksichtigen.
| 16 |
![]() | 17 |
Die Stellungnahme GAUTSCHIS kann jedoch von vornherein nicht massgebend sein, denn er hält die Billigkeitsklausel für überflüssig, widersprüchlich und absurd (N. 4b und c zu Art. 418u Abs. 1 OR). Seine grundlegende Kritik hilft nicht weiter, wenn es darum geht, den Sinn dieser Klausel zu bestimmen und die Frage zu beantworten, ob der Gesetzgeber damit dem Richter die Möglichkeit geben wollte, die Kundschaftsentschädigung nicht nur herabzusetzen, sondern ganz zu verweigern. Andere Autoren halten die Verweigerung der Entschädigung für zulässig. So MEIER/MEYER-MARSILIUS, die in Anlehnung an die bereits erwähnte Rechtsprechung des Deutschen Bundesgerichtshofes davon ausgehen, dass der Anspruch dahinfallen kann, wenn der Kapitalwert der Altersrente dessen Höhe übersteigt (a.a.O., S. 78 N. 18). LEISS führt aus, gegen die Billigkeit sprechende Umstände rechtfertigten in der Regel nur eine Herabsetzung, könnten aber in Ausnahmefällen zum Wegfall des Anspruchs führen (a.a.O., S. 134). Die Stellungnahme von BURNAND ist unklar; er schreibt zunächst, eine Kundschaftsentschädigung sei nicht gerechtfertigt, wenn der Agent in irgendeiner Form für seine Leistung hinreichend entschädigt worden sei, spricht dann aber nur noch von einer Herabsetzung (a.a.O., S. 118). BRUNNER scheint lediglich eine Reduktion für zulässig zu halten (a.a.O., S. 239 ff.). Eine einheitliche Lehrmeinung besteht somit nicht.
| 18 |
Der Wortlaut von Art. 418u Abs. 1 OR lässt die Auslegung des Handelsgerichts ohne weiteres zu. Auch die Äusserungen in den parlamentarischen Beratungen sprechen nicht dagegen. Die Billigkeitsklausel, die im Entwurf des Bundesrates nicht enthalten war, geht auf einen Vorschlag der Kommission des Nationalrates zurück. Péclard, Berichterstatter der Kommission, bezeichnete die Billigkeitsklausel als Sicherheitsventil, das den Gerichten ermöglichen solle, sich den Forderungen von Agenten zu widersetzen, die den Anspruch auf Kundschaftsentschädigung zu missbrauchen versuchten (Sten.Bull. 1948 N 9). Der Ständerat hatte zunächst über die Bestimmung in der Fassung des bundesrätlichen Entwurfs beraten, sie dann aber nach Rückweisung an die Kommission in ![]() | 19 |
Die parlamentarischen Beratungen zeigen eindeutig, dass der Richter gestützt auf die Billigkeitsklausel die in Art. 418u Abs. 1 OR aufgezählten Anspruchsvoraussetzungen erweitern kann; der Einwand der Klägerin, die Klausel berühre nur das Anspruchsquantitativ, trifft daher nicht zu. Auch der Sinn dieser Klausel verbietet nicht, die Kundschaftsentschädigung mit der Begründung, sie sei durch Vorsorgeleistungen des Auftraggebers abgegolten worden, ganz zu verweigern. Dass diese Zuwendungen nach Rechtsprechung und herrschender Lehre zu berücksichtigen sind, ist bereits dargelegt worden. Wie die Äusserungen im Parlament belegen, sollte mit der Billigkeitsklausel insbesondere verhindert werden, dass eine Kundschaftsentschädigung in Fällen ausgezahlt werden muss, wo die Vorteile des Auftraggebers aus der Erweiterung des Kundenkreises durch seine Leistungen an den Agenten aufgewogen werden, also bereits ein Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Leistungen der Vertragspartner besteht. Das Handelsgericht hat somit den Sinn und Zweck von Art. 418u Abs. 1 OR nicht verkannt.
| 20 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |