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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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27. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. August 1985 i.S. M. E. gegen H. H. und Regierungsrat des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; Art. 310 Abs. 3 ZGB; Rücknahme eines bei Pflegeeltern untergebrachten Kindes. |
Ausschlaggebend für die Frage der Zurücknahme des Kindes durch die Mutter kann nur das Wohl des Kindes sein. Entscheidend ist dabei, ob die seelische Verbindung zwischen Kind und Mutter intakt ist und ob deren Erziehungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein eine Übertragung der Obhut an die Mutter unter Beachtung des Kindeswohls zu rechtfertigen vermögen. Ein Entscheid, der die Verhältnisse auf seiten der Mutter nicht prüft, verletzt Art. 4 BV (E. 6). | |
Sachverhalt | |
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Die Mutter wohnte mit dem Kind und dem Vater H. H. vorerst bei den Eltern des letzteren in B. Im Juli 1983 zog sie zu ihren Eltern nach X. und versuchte, das Kind zu sich zu holen. Dieser Versuch, der vom Gemeinderat X. unterstützt wurde, scheiterte am Widerstand der Familie H. und des Beistandes des Kindes. Eine Beschwerde der Mutter gegen den die Umplazierung ablehnenden Beistand wurde vom Gemeinderat B. abgewiesen, während der Regierungsstatthalter eine weitere Beschwerde von ihr guthiess. Beide Instanzen stützten sich bei ihrem Entscheid auf kinderpsychiatrische Gutachten.
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Der Vater H. H. focht den Entscheid des Regierungsstatthalters beim Regierungsrat des Kantons Luzern an. Er verlangte die Aufhebung dieses Entscheides und die Abweisung des Begehrens um Umplazierung des Knaben M. E. Zudem beantragte er die Befragung des Beistandes über die neueste Entwicklung in den Erziehungsverhältnissen des Kindes und über die Frage einer allfälligen Umplazierung. Die Mutter ihrerseits wollte diese Anträge abgewiesen wissen und verlangte, dass vom Gemeinderat X. sowie von einem von ihr bezeichneten Behördenmitglied ein Amtsbericht eingeholt werde. Eventuell sei bei der Mutter und ihren Eltern sowie bei ihrer Schwester ein Augenschein vorzunehmen. Auch der Regierungsstatthalter beantragte die Abweisung der Beschwerde des H. H., während der Beistand auf die optimale Unterbringung des Knaben in der Pflegefamilie H. hinwies. Der Gemeinderat B. hielt grundsätzlich an seinem Entscheid fest.
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Aus den Erwägungen: | |
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Gestützt auf ein Gutachten und insbesondere ein Ergänzungsgutachten des leitenden Arztes des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Luzern, gelangt der Regierungsrat sodann zur Feststellung, die Pflegemutter H. sei sozialpsychisch als Mutter des Knaben zu betrachten. Dieser lebe seit seiner Geburt in der Familie der Pflegemutter und erhalte von ihr jene mütterliche Zuwendung, die für ein Kind im Säuglings- und frühen Kindesalter nötig sei. Zur Pflegemutter stehe der Knabe in einer intensiven emotionalen Resonanz, und er werde in der Pflegefamilie als eines der "eigenen Kinder" gepflegt und gefördert. Eine Umplazierung aus dieser Familie in völlig andere Lebensverhältnisse würde nach den Ausführungen des Spezialarztes für den Knaben eine schwerwiegende Belastung bedeuten. Er bedürfe für seine weitere Entwicklung dringend der Geborgenheit bei der Pflegemutter und seinem leiblichen Vater. Wegen seiner allgemeinen Empfindlichkeit sei der Knabe auf die Kontinuität in der Beziehung zu Erwachsenen angewiesen. Werde diese Kontinuität unterbrochen, so müsse mit einer ernsthaften Gefährdung des Knaben gerechnet werden. Es komme zu Verunsicherungen, die nicht nur die Stabilität in der Entwicklung der körperlichen Gesundheit des Kindes, sondern auch seine seelische Widerstandskraft erheblich belasteten. Die ernstliche Gefährdung bestehe im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung mit vorzeitiger Verselbständigung, Labilität im gemüthaften Bereich, Erschwerung sozialer Anpassung, unter anderem auch in der Gruppe anderer Kinder, sowie in einer zunehmenden Retardierung, die sich zum Beispiel dahingehend auswirke, dass der Knabe bis zur Erreichung des Schuleintrittsalters die Schulreife nicht erlange. An sich könne bei jedem Kind, ![]() | 6 |
Der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Mutter kommt nach der Auffassung des Regierungsrats keine entscheidende Bedeutung zu. Ausschlaggebend sei vielmehr, dass nicht die leibliche Mutter, sondern die Pflegemutter sozialpsychisch für den Knaben als Mutter gelte. Der Knabe habe aber nicht nur zu seiner Pflegemutter, sondern auch zu seinem leiblichen Vater, der sich zur Zeit ebenfalls noch im gemeinsamen Haushalt aufhalte, und zum Pflegevater starke Beziehungen. Zu bedenken sei auch, dass der Knabe, wenn er zu seiner leiblichen Mutter umplaziert würde, während deren Arbeitszeit von den Grosseltern mütterlicherseits betreut werden müsste. Damit verlöre das Kind nicht nur den Kontakt zu seinen bisherigen Bezugspersonen, sondern es würden überdies neue Personen in sein Leben treten, was nicht im Interesse der für den Knaben so wichtigen Kontinuität läge.
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Nun steht aber fest, dass die Beschwerdeführerin seit der Geburt ihres Kindes mit diesem zusammen bei den Grosseltern väterlicherseits, den heutigen Pflegeeltern, Aufnahme gefunden hat und während dreier Jahre mit dem Kind zusammen dort gelebt und das Kind auch selbst betreut hat. Nicht unter der Obhut seiner Mutter hat das Kind lediglich während der Dauer des Umplazierungs- bzw. Beschwerdeverfahrens ![]() | 9 |
Angesichts dieser von normalen Pflegeverhältnissen völlig verschiedenen Ausgangslage erscheint der Vorwurf der Beschwerdeführerin berechtigt, der Regierungsrat habe ihrer Erziehungsfähigkeit keine entscheidende Bedeutung zugemessen und damit Art. 310 ZGB offensichtlich falsch und demnach willkürlich angewendet. Art. 310 Abs. 3 ZGB will verhindern, dass ein Kind, welches gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB oder vom Inhaber der elterlichen Gewalt freiwillig bei Dritten in Pflege gegeben worden ist, dort längere Zeit gelebt hat und am Pflegeort stark verwurzelt ist, vom Pflegeplatz unversehens weggenommen wird, so dass seine weitere seelisch-geistige und körperliche Entwicklung ernsthaft gefährdet wird. Eltern, die sich trotz der Fremdplazierung um den Aufbau und die Pflege einer persönlichen Beziehung zu ihrem Kind bemüht haben, brauchen indessen nicht zu befürchten, dass Art. 310 Abs. 3 ZGB mit Erfolg gegen ihre ernsthafte Absicht, das Kind eines Tages wieder selbst zu betreuen und zu erziehen, angerufen werden könnte (vgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesverhältnis) vom 5. Juni 1974, BBl 1974 II, S. 83; HEGNAUER, a.a.O., S. 155). Die Beschwerdeführerin bringt deshalb grundsätzlich zutreffend vor, dass die elterliche Gewalt und die daraus fliessenden Rechte und Pflichten sowie die elterliche Gemeinschaft mit dem Kind den Kindesschutzmassnahmen vorgehen. Letztere sind - im wohlverstandenen Kindesinteresse - nur anzuordnen, wenn die Eltern in Pflege und Erziehung versagen oder wenn die alleinstehende Mutter aus Gründen, die in ihrer Persönlichkeit oder in den äusseren Verhältnissen liegen, ihren Elternpflichten nicht nachzukommen vermag. Liegen keine solchen den Entzug der elterlichen Obhut rechtfertigenden Umstände vor, so könnte der Mutter die Mitnahme ihres Kindes an ihren neuen Wohnort nur verwehrt werden, wenn konkret dargetan wäre, dass wegen der Verwurzelung des Kindes am bisherigen Wohnort und wegen der körperlichen oder seelischen Konstitution des Kindes eine schwerwiegende Gefährdung seiner Entwicklung ![]() | 10 |
Bei der Umplazierung eines Kleinkindes, um die es im vorliegenden Fall geht, ist deshalb einerseits das Kindeswohl wichtig, ja vorrangig, und steht deshalb die Frage im Vordergrund, ob seine Entwicklung eine Rücknahme durch die leibliche Mutter, in deren Obhut es bis zu deren Wegzug vom Heim der Pflegefamilie stand, ohne ernsthafte Gefährdung erträgt. Neben dem Kindeswohl ist aber auch dem natürlichen Recht der leiblichen Mutter, ihr Kind weiterhin selbst zu betreuen, zu pflegen und zu erziehen, Rechnung zu tragen. Entgegen der Auffassung des Regierungsrates ist es deshalb entscheidend, ob die Beziehungen der Beschwerdeführerin zu ihrem Kind auch seit der Trennung ungetrübt und genügend intensiv geblieben sind. Sodann ist es wesentlich, ob die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Verantwortungsbewusstseins und ihrer erzieherischen Fähigkeiten wie auch aufgrund der äusseren Umstände, in denen sie lebt, die Pflichten als Mutter zu erfüllen vermag.
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Ohne die Interessen des Kindes einerseits und jene der Mutter anderseits gegeneinander abzuwägen, hat der Regierungsrat des Kantons Luzern den angefochtenen Entscheid ausschliesslich unter dem Blickwinkel des Kindeswohls gefällt. Dabei hat er Ausführungen des kinderpsychiatrischen Experten, die recht allgemein, zum Teil höchst vage gehalten sind und für irgendwelche Kinder im Alter von M. E. Geltung beanspruchen könnten, zu seiner eigenen Argumentation gemacht, indessen aber die besondere Ausgangslage - Zusammensein von Mutter und Kind während dreier Jahre im Haushalt der Grosseltern väterlicherseits, Wegfall der mütterlichen Obhut erst seit dem Wegzug der Beschwerdeführerin von B. - ausser acht gelassen. Dadurch sowie durch das Ignorieren der wichtigen Frage der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Mutter und der Verhältnisse, in denen sie lebt, hat der Regierungsrat einen Entscheid getroffen, der vor Art. 4 BV nicht standhält. Zu Recht hatte die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren die Einholung eines Amtsberichtes des Gemeinderats von X. und des von ihr bezeichneten Behördenmitgliedes, einen Augenschein oder andere Abklärungen verlangt, wodurch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Mutter zur ![]() | 12 |
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7. Wenn demnach der angefochtene Entscheid keine dem konkreten Fall gerechte Beurteilung zulässt, weil die derzeitigen Verhältnisse auf seiten der leiblichen Mutter nicht geklärt wurden, kann er nicht geschützt werden. Der Entscheid verletzt offensichtlich ![]() | 15 |
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