BGE 111 II 313 | |||
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62. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Dezember 1985 i.S. S. gegen S. und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; Kindeszuteilung und Herausgabebefehl. | |
Sachverhalt | |
A.- Mit Urteil des Bezirksgerichts Bülach wurde die Ehe der Eheleute S. geschieden. Die 1975 geborene Tochter T. der Parteien wurde unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Sie lebt aber, nachdem sich bei der Ausübung des Besuchsrechts Schwierigkeiten ergeben hatten, seit nun mehr als einem Jahr bei ihrem Vater.
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Im Mai 1985 stellte die Mutter beim Bezirksgericht Bülach das Begehren, es sei die Tochter unverzüglich ihr als Inhaberin der elterlichen Gewalt herauszugeben. Dieses Begehren wurde mit Beschluss der II. Abteilung des Bezirksgerichts Bülach an den Einzelrichter im summarischen Verfahren überwiesen.
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Der Einzelrichter führte im Juli 1985 mit den Parteien eine mündliche Verhandlung und am folgenden Tag einen Augenschein durch. Er verfügte ferner, es sei bei der Psychiatrischen Universitätspoliklinik für Kinder und Jugendliche ein Gutachten über das Kind einzuholen.
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B.- Gegen diese Verfügung erhob die Mutter Nichtigkeitsbeschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde.
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Erwägungen: | |
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Grundsätzlich zu Recht wendet sich die Beschwerdeführerin dagegen, dass dem Vollstreckungsrichter aufgrund eines solchen allgemeinen Vorbehaltes die Befugnis eingeräumt wird, von sich aus neu über die Kindeszuteilung zu befinden. Ist es unbestritten, dass für den Scheidungsrichter, welcher gestützt auf Art. 156 Abs. 1 ZGB über die Gestaltung der Elternrechte und der persönlichen Beziehungen der Eltern zu den Kindern die nötigen Verfügungen zu treffen hat, allein das Wohl des Kindes wegleitend sein kann (BGE 109 II 193 E. 2, BGE 108 II 370 E. 3a mit Hinweisen; vgl. auch ZVW 38/1983, S. 121 ff.), so würde das Anliegen des Kindeswohls pervertiert, wenn unter Berufung darauf der Vollstreckungsrichter sich anmasste, die Frage der Kindeszuteilung ab initio zu prüfen. Es liegt vielmehr im richtig verstandenen Kindesinteresse, dass die Auseinandersetzungen unter den Eltern vor und während des Scheidungsprozesses mit dem Richterspruch ihr Ende finden. Zur Beruhigung der Situation sollen nicht zuletzt auch die Anordnungen beitragen, welche der Scheidungsrichter nach Massgabe von Art. 156 bezüglich der Elternrechte trifft. Aus der Sicht des Kindes, dessen Eltern sich zur Ehescheidung entschlossen haben, besteht ein besonderes Interesse, dass sich das Scheidungsverfahren nicht ungebührlich in die Länge zieht, aber auch daran, dass der Konflikt vor dem Vollstreckungsrichter nicht neu auflebt, weil ein Elternteil sich den im Scheidungsurteil getroffenen Anordnungen widersetzt.
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Veränderungen, die nach dem Scheidungsurteil eintreten können und auch Auswirkungen auf die Elternrechte zeitigen, trägt Art. 157 ZGB Rechnung. Aber auch bei einer gestützt auf diese Bestimmung verfügten Abänderung eines Scheidungsurteils hinsichtlich der Zuteilung der elterlichen Gewalt kann es nicht einfach darum gehen, die Interessenabwägung des Scheidungsrichters neu vorzunehmen. Vielmehr sind neue Anordnungen nur zulässig, wenn eine Veränderung der massgeblichen Verhältnisse eine andere Regelung zwingend erfordern (BGE 109 II 380 E. 4c, BGE 100 II 77; ZVW 38/1983, S. 132 f.). Über die Abänderung des Scheidungsurteils entscheidet wiederum der ordentliche Richter (und nicht der Vollstreckungsrichter), doch sind im Hinblick auf das Abänderungsverfahren allenfalls vorsorgliche Massnahmen in Betracht zu ziehen (BÜHLER/SPÜHLER, N. 48 ff. zu Art. 157 ZGB).
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Aus dieser gesetzlichen Regelung folgt eindeutig, dass der Vollstreckungsrichter nicht unter genereller Berufung auf das Kindeswohl die Elternrechte neu und abweichend vom Scheidungsurteil ordnen kann. Etwas anderes lässt sich auch nicht aus dem angerufenen BGE 107 II 301 ff. ableiten. In jenem Entscheid ging es nicht um die Herausgabe eines Kindes an den Inhaber der elterlichen Gewalt, sondern um die Ausübung des Besuchsrechts und die Möglichkeit, dieses mittels Zwangsmassnahmen, die vom Vollstreckungsrichter begehrt wurden, durchzusetzen. Hier indessen ist die Frage streitig, ob im kantonalen Vollstreckungsverfahren zu Recht ein psychiatrisches Gutachten eingeholt worden ist, von welchem abhängig gemacht werden soll, ob dem Scheidungsurteil Nachachtung zu verschaffen ist oder nicht.
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Aus dieser Sicht hat deshalb der Vollstreckungsrichter in angemessener Weise dem Kindeswohl Rechnung getragen, wenn er ein Gutachten veranlasst hat, durch welches abzuklären ist, ob der vom Scheidungsrichter getroffenen Anordnung - d.h. der Unterstellung der Tochter T. unter die elterliche Gewalt ihrer Mutter - durch Zwangsvollzug Geltung verschafft werden kann. Die Mutter hat erst neun Monate, nachdem ihr die Obhut über das Kind entzogen worden war, den Vollstreckungsrichter angerufen. Während all dieser Zeit hat sich die jetzt zehnjährige T. bei ihrem Vater aufgehalten; sie fühlt sich, nach den Feststellungen der kantonalen Instanzen, dort wohl. Eine vom Vollstreckungsrichter befohlene Herausgabe des Kindes an die Mutter ist möglicherweise geeignet, diesem Schaden zuzufügen. Um dem vorzubeugen, hat der Vollstreckungsrichter - vollauf im Kindesinteresse - das Gutachten bei der Psychiatrischen Universitätspoliklinik für Kinder und Jugendliche in Auftrag gegeben.
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Der Erledigungsbeschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, mit welchem die Nichtigkeitsbeschwerde der Mutter abgewiesen und damit die Anordnung eines Gutachtens durch den Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Bülach geschützt wurde, kann deshalb nicht als willkürlich bezeichnet werden. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Vollstreckungsrichter in seinem Auftrag an den Experten u.a. gefragt hat, ob die elterliche Gewalt dem Vater zu übertragen oder der Mutter zu belassen sei - eine Frage, die nicht Gegenstand des von der Beschwerdeführerin angestrengten Vollstreckungsverfahrens sein kann.
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